Peter Fauser
Kulturelle Bildung – Bemerkungen aus der Sicht einer pädagogischen Lerntheorie
Peter Fauser

Kulturelle Bildung – Bemerkungen aus der Sicht einer pädagogischen Lerntheorie

Einleitung

Das Modellprogramm "Kulturagenten für kreative Schulen" zielt darauf, "Kinder und Jugendliche nachhaltig für Kunst und Kultur zu begeistern und dadurch in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu fördern".1 Persönlichkeitsentwicklung – dafür steht traditionell der Begriff der "Bildung". Es geht also um kulturelle Bildung, und diesen Begriff möchte ich meinen folgenden Überlegungen zugrunde legen. Dabei ist es mir wichtig, sogleich die Problematik des Begriffs herauszustellen: "Kulturelle Bildung" wirkt auf den ersten Blick wie ein wertkonservatives Statement, ein Flaggensignal, das die Bedeutung von Wissen und Geschmack im Geiste eines klassischen deutschen Bildungsideals beschwört. So verstanden, lässt sich dieser Begriff einerseits als Mahnung auffassen, über der starken Betonung von naturwissenschaftlicher Bildung und wachstumsrelevanten Kompetenzen den humanen Sinn der Künste, allseitiger Förderung und breit entfalteter Interessen nicht zu vergessen. Wachgerufen wird mit einem solchen Signal, was das Menschenbild eines zeitgemäßen pädagogischen Denkens ausmacht: die Freiheit des Einzelnen, sein Recht auf Entfaltung und auf das Streben nach Glück. Das gehört zu den Fundamenten der Moderne, zu den großen Bildungstheorien des Neuhumanismus, die sich mit dem Namen Wilhelm von Humboldt verbinden. Bildung bedeutet für ihn "die höchste proportionierlichste Ausbildung aller menschlichen Kräfte zu einem Ganzen".2 Diese Idee ist bis heute prägend für unsere Vorstellung von Bildung und lebenslangem Lernen. Sie erinnert an ein Koordinatensystem, das dem Menschen schöpferische Freiheit, Mündigkeit, Urteilskraft und ganzheitliche Würde zuspricht.

Andererseits jedoch könnte man mit dem Begriff "kulturelle Bildung" – besonders durch die Verbindung von zwei begrifflichen Schwergewichten Kultur und Bildung – auch eine reaktive Warnung verbunden sehen, eine Verlustangst, nicht unbedingt den "Untergang des Abendlandes" (Oswald Spengler), aber eben doch die Befürchtung, der ständig anschwellende Mainstream der Zerstreuungsindustrie könnte fortreißen, was zum konventionellen Bild der gebildeten Bürgerinnen und Bürger gehört: die E-Musik (von Monteverdi bis Mahler), die Orientierung in der Welt der anerkannt großen Kunst und Literatur, die Bildung von Geschmack und Stil im Kontext kanonischer Werke und ihrer Aura und der von ihrem Geist veredelten feinen Sitten des Umgangs, der Lebensführung und der eleganten Konversation.

Eine solche Auffassung von kultureller Bildung sieht Kultur und Bildung in gleichsam ungebrochener Hoffnung auf humanen Fortschritt (und nicht nur Wachstum) als einander bedingende und verstärkende Erscheinungsweisen des guten Lebens, der guten Zukunft und des guten Menschen. Nur zwei Probleme einer solchen Perspektive seien hier angesprochen: Erstens, der Begriff "Kultur" hat (nicht nur wissenschaftlich) einen weit größeren Bedeutungsumfang als den hier angedeuteten. Zweitens, der Glaube, dass hochkulturelle Bildung den guten Menschen bilde, ist spätestens durch die NS-Zeit ein für allemal zerstört worden. Dass ein und derselbe Mensch hohen Kunstsinn und feine Sitten mit Gräueltaten und Massenmord in sich verbinden konnte, war eben nicht die Ausnahme.

Vor diesem Hintergrund möchte ich den folgenden Beitrag verstanden wissen, und von diesem Hintergrund geht er aus. Ich beginne mit einigen knappen Bemerkungen zum Begriff "Kultur". Dann skizziere ich ein lerntheoretisches Konzept – das "Verständnisintensive Lernen" –, um von hier aus zur kulturellen Bildung zurückzukommen. Der gedankliche Weg über einen weniger normativen und mehr analytischen Kulturbegriff und über die Lerntheorie soll auch dazu beitragen, den Programmbegriff "kulturelle Bildung" kritisch und selbstkritisch anzureichern und zugleich seine lerntheoretische Tiefenschärfe zu erweitern.

1. Kultur

Kultur ist ein Synthesebegriff – wie Praxis, Bildung, Vernunft, Erziehung – und bezieht sich auf die Gesamtheit der (auch fachlichen und beruflichen) Handlungs- und Praxisverhältnisse, die als Ergebnis und als Prozess menschlicher Leistung und kollektiver Anstrengung gesehen werden. Kultur fragt holistisch danach, was die Teile zusammenhält und das Ganze in anderer Qualität als die Summe der Teile beschreibt, und zwar spezifisch und historisch bestimmt. Das begriffliche Alter Ego von Kultur ist Gesellschaft. Vereinfacht kann man sagen, dass der Begriff der "Gesellschaft" in erster Linie nach den strukturellen Ordnungen, nach den voneinander unterscheidbaren und abgrenzbaren Teilbereichen und -systemen fragt – der Wirtschaft, dem Recht, der Wissenschaft, der Politik –, während Kultur die inneren und äußeren Bindekräfte zum Thema macht.

Sozialwissenschaftlich und philosophisch haben sich also für den Gesamtzusammenhang der Menschenwelt traditionell die Begriffe "Gesellschaft" oder "Kultur" eingebürgert. Reinhart Maurer verwendet den Begriff der "Kultur" für den "Gesamtzusammenhang von Theorie und Praxis […], als das, was die Menschen aus sich und ihrer Welt machen und was sie dabei denken und sprechen"3 (Hervorhebung hinzugefügt). Der Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger bezeichnet Kultur in einer geradezu genialen Wendung als das "bis ins Alltägliche hineinreichende Zusammenspiel von Formen und Normen".4 Der Begriff der "Kultur" hat in dieser Sichtweise primär eine analytisch-deskriptive Bedeutung und dient der Beschreibung unterschiedlichster Ausprägungen des Zusammenspiels von Formen und Normen menschlicher Kommunitäten. Deshalb lässt sich Kultur begrifflich auch mit den unterschiedlichsten Praxisfeldern verbinden. Wir sprechen von Musikkultur, Eventkultur, Rechtskultur, Lesekultur, Wohnkultur, Jugendkultur, Popkultur, Spielkultur, Subkulturen und so weiter. Das bedeutet, dass Kultur als Kategorie für historisch, gesellschaftlich, regional, lokal oder auch professionell spezifische und unterschiedliche Ausprägungen menschlicher Praxis angewandt wird.

Zweierlei möchte ich im Hinblick auf das Modellprogramm "Kulturagenten für kreative Schulen" hervorheben. Erstens, Kultur hat als konkret geprägte menschliche Praxis, als Ergebnis eines gesellschaftlichen Lernprozesses, an dem viele Generationen mitgewirkt haben, immer einen normativen Anspruch. Was über Generationen wächst und überliefert wird, ist für Generationen lebensprägend geworden. Kulturelle Praxen sind der Niederschlag kollektiver Routinebildungen und Lernprozesse und werden schon allein aufgrund ihrer Orientierungskraft und Ordnungsleistung positiv aufgeladen und bewertet. Wenn wir von kultureller Bildung sprechen, dann können wir von solchen oft wenig bewussten – aber gerade dadurch hoch wirksamen – Bewertungen nicht absehen. In der Regel transportiert also der Kulturbegriff ein Bild von der "herrschenden" Kultur, und es ist ihr Koordinatensystem, in dem die Vorstellungen von Bildung, von Können, von gesellschaftlichem Ansehen und Karrieremechanismen verankert werden.

Zweitens, und das ist mir im vorliegenden Zusammenhang wichtiger, Kultur wird auch dann, wenn der Begriff nicht normativ, sondern analytisch-deskriptiv gemeint ist, als eine Hervorbringung des Menschen aufgefasst. Der Mensch ist "von Natur aus" auf Kultur angelegt, und Kultur – in welcher Ausprägung auch immer – ist das Ergebnis eines schöpferischen, kreativen Zusammenwirkens von Menschen. Michael Tomasello, einer der derzeit produktivsten Forscher auf dem Gebiet der Evolutionären Anthropologie (die fragt: Was ist das evolutionär ganz Eigene des Menschen im Unterschied zu anderen Lebewesen?), sagt, die menschliche Gemeinschaft sei eine "kooperative Verständigungskultur".5 Pädagogisch hat diese Sicht Konsequenzen, deren Reichweite vielleicht nicht sofort sichtbar wird: Für die Entstehung, den Erhalt und die Weiterentwicklung der Kultur liegt im Verhältnis der Generationen der wichtigste Motor. Die Jüngeren kommen als "Mängelwesen" auf die Welt – "sinnesarm, waffenlos, nackt", den Älteren physisch unterlegen (Arnold Gehlen).6 Sie sind erziehungsbedürftig, also darauf angewiesen, durch Erziehung gleichsam ausgestattet zu werden. Der Mangel ist aber nur die eine Seite. Die andere ist: Dass die nachwachsenden Generationen unfertig sind, ist die notwendige Kehrseite ihrer Lernfähigkeit. Lernfähigkeit ist die anthropologische Grundbedingung und denknotwendige Voraussetzung jeder Erziehung und die wichtigste schöpferische Quelle der Kultur. Man kann zuspitzend sagen: Kultur ist überhaupt eine Erscheinung, die sich dem immer wieder neuen Wechselspiel der Generationen verdankt – der natürlichen wie der professionellen, künstlerischen oder politischen Generationen. Im Wechsel der Generationen wird, bildlich gesprochen, die Kultur als ganze aufs Spiel gesetzt. Es ist vor diesem Hintergrund eigentlich nicht überraschend, dass die Jüngeren für die Älteren Hoffnung und Bedrohung sein können, Bewunderung finden und Ängste wachrufen. Machen wir uns klar: Kultur ist in dieser Sicht ihrem Wesen nach zugleich ein Feld und eine Folge der schöpferischen Offenheit des Menschen und der enormen Veränderungsdynamik, die diese Offenheit im Verhältnis der Generationen immer wieder neu hervorbringt. Und Kultur ist ihrem Wesen nach pädagogisch, weil sie nur Bestand und Zukunft hat, wenn die ältere Generation die jüngere aktiv einbezieht. Die Jüngeren bringen dafür als Rüstzeug ihre fast grenzenlose Neugier und Vertrauensseligkeit, ihre Lernfähigkeit und ihre Kreativität mit. Daher wende ich mich jetzt dem Lernen als einem anthropologischen Fundament von Kultur zu.

2. Lernen

Lernen, Struktur und Prozess: Seifenkisten

Lernen ist produktiv. Aber was gibt ihm Inhalt und Struktur? Und was ist notwendig, damit Lernen nicht vorschnell zum Erliegen kommt? Betrachten wir Lernen etwas genauer – als Struktur und Prozess –, und zwar an einem Beispiel.7

Was bedeutet Lernen, wenn Schülerinnen und Schüler Seifenkisten bauen? Wenn ihre Lehrkraft sich probeweise in das Gefährt hineinsetzt und es auf Biegen und Brechen testet? Und wenn ein Schüler kommentiert: "Na, wenn die das aushält, gewinnen wir!"

Struktur des Lernens

Wer an eine Seifenkiste denkt, hat Bilder im Kopf – vielleicht zeigt das Kopfkino ein Seifenkistenrennen mit verschiedenen Fahrzeugen, manche mehr Rennwagen, andere mehr Gokarts: Wir bilden eine "Vorstellung" von Seifenkiste. Indessen: Für den Bau genügt das Kopfkino nicht. Ein Plan muss her, der Funktionen und Teile beschreibt: Räder vom Kinderwagen, Roller, Fahrrad oder Handwagen; Kugellager, Achsen, Lenkung (wie beim Bob, Fahrrad, Auto?), Sitz (Brett oder Fahrradsattel?), Karosserie (Sperrholz?), Bremsen (braucht man die?). Planen ist eine Aufgabe für die Vorstellungskraft. Am Ende aber braucht es wirkliche Gegenstände, die ihre Funktion erfüllen: Die Vorstellungen müssen realitätstauglich werden, müssen "Erfahrung und Handeln" und unseren besonderen Ansprüchen genügen.

Etwas Weiteres kommt hinzu: Aus Rädern, Sperrholz, Achsen, Seilzügen können auch ganz andere Objekte entstehen – Bewegungsmaschinen, Kunstwerke beispielsweise, wie Jean Tinguely sie gebaut hat. Hier aber geht es um ein Fahrzeug. In das Wechselspiel zwischen Vorstellung und Erfahrung mischt sich daher ein zielbezogenes Denken ein, eine andere Art zu denken als das Vorstellungsdenken – in seiner strengsten Form nennen wir es "Begreifen". Begreifen schafft Kategorien, Verknüpfungen, Urteile, trifft fach- und sachgerechte Entscheidungen. In unserem Fall sind es Kategorien aus dem Fahrzeugbau, nicht aus der Kunst. Und wenn dann gebaut wird, beginnt ein direktes Wechselspiel mit der physischen Realität, und es gilt, Widerstände zu überwinden, Unklarheiten zu ertragen und am Ziel festzuhalten. Und schließlich müssen wir darüber entscheiden, ob und wann wir den Test (mit der Lehrkraft?) riskieren wollen. Zur Struktur des Lernens, hier am Beispiel der Seifenkiste, gehört also – neben der Vorstellung, dem Begreifen, der Erfahrung – eine übergeordnete, organisierende Aufmerksamkeit, ein Blick von oben oder außen, der optimiert und steuert. Der lern- und kognitionstheoretische Begriff dafür ist "Metakognition".

Im Zusammenspiel von Vorstellung Erfahrung, Begreifen und Metakognition gewinnt das Lernen eine ganz besondere Qualität. Es wird verstehenstief, anwendungstauglich, wirklichkeitsfest – wir sprechen von "verständnisintensivem Lernen".8 Ein solches Lernen ist nicht reproduktiv und auf die Wiedergabe isolierter Fakten angelegt, sondern aktiv-konstruktiv, auf Zusammenhänge, Sinnbezüge ausgerichtet. Das ist gemeint, wenn in der Bildungsforschung intelligentes Wissen gefordert wird – ein Lernen, das auf Kompetenz – das heißt auf Anwendbarkeit, Problemlösung, eigenständiges Denken – und nicht auf bloße Informationsaufnahme und -wiedergabe ausgerichtet ist.

Lernen als Prozess: Was Lernen bewegt und beweglich hält

Wer so mit andern zusammen lernt, erlebt ein Lernen mit besonderen Qualitäten. In der neueren Forschung zum Aufbau überdauernder Interessen und Lernbereitschaft – also zur Frage, was unser Lernen in Bewegung bringt und hält – ist deutlich geworden, dass es drei miteinander verbundene Qualitäten sind, die uns ermutigen und immer wieder dazu anregen, uns auf neue Fragen, Aufgaben, Herausforderungen aktiv und zuversichtlich einzulassen:

  • Das ist die Erfahrung, die Welt der Gegenstände und Aufgaben besser verstehen, in ihr handeln und die eigenen Grenzen erweitern zu können: "Die Seifenkiste fährt wirklich!"
  • Das ist die Erfahrung, auf die Wirksamkeit eigenen Denkens und Handelns vertrauen zu können: "Dieses Fahrzeug haben wir in eigener Leistung nach eigener Vorstellung gebaut!"
  • Das ist die Erfahrung, die Welt mit der Gemeinschaft anderer Menschen zu teilen und dieser Gemeinschaft anzugehören – andere zu verstehen und von ihnen verstanden zu werden: Auch die anderen, nicht zuletzt die Lehrkraft, verstehen und erkennen diese Leistung an: "Sie setzt sich tatsächlich hinein … und wir können ins Rennen gehen!"

3. Kulturelle Bildung

Was lehrt uns diese Analyse des Lernens über Bildung und Kultur und über die Förderung kultureller Bildung durch Schule und Erziehung? Von den drei Prozessqualitäten des Lernens – Kompetenz, Autonomie und Eingebundenheit – hebt ganz besonders die dritte die Bedeutung der Erziehung hervor und eine Grundqualität, die ich als Ethos der Anerkennung bezeichnen möchte: Die Erfahrung der Eingebundenheit – verstanden, angenommen, begleitet, beschützt zu werden – steht überhaupt am Anfang allen Lernens. Kinder brauchen die Erfahrung, dass sie verstanden werden, als eigenes Wesen erkannt und geachtet – als Antwort auf ihre Existenz –, um Grundvertrauen zu bilden und sich auf die Welt immer wieder neu einzulassen. Eingebundenheit entspringt der Erfahrung von Anerkennung, Begleitung und schützender Freigabe. Ihr inneres Pendant ist Selbstachtung, Zutrauen und später Mündigkeit als die Fähigkeit, für sich und andere zu denken, zu handeln und zu sorgen und damit selbst anderen das zu gewährleisten, was das eigene Lernen möglich gemacht hat.

Strukturell betrachtet, werden Qualitäten wichtig, die sich – neben einem Ethos der Anerkennung – als gewissermaßen handwerkliche Grundlage des Lehrer- und Erzieherberufs auffassen lassen: Erziehung muss ko-konstruktiv sein, das heißt mit der Fähigkeit und Bereitschaft verbunden, die eigenen Wege des Denkens, Vorstellens, Wahrnehmens der Kinder und Jugendlichen zu begleiten. Wir nennen diese Fähigkeit der gedanklichen Ko-Konstruktion in der Lehrerfortbildung heute "Verstehen zweiter Ordnung".9 Das ist für Lernprozesse grundlegend, in Wissenschaft und Praxis gleichermaßen, und nicht nur dafür. Heranwachsende wirklich einzubeziehen, ist zunächst ein Postulat, das sich aus der Einsicht in die schöpferische Natur des Wechselspiels aus Lernen und Erziehung ergibt und aus der produktiven Offenheit jeder Kultur. Kulturelle Bildung ist so gesehen eine allgemeinpädagogische Forderung und Idee, die hervorhebt, dass die proaktive Beteiligung der Heranwachsenden an allem, was uns wichtig ist, sowohl für die Zukunft der Bildung wie der Kultur, grundlegend ist. Der Begriff unterstreicht den generativen Wesenszug von Bildung und Kultur.

Von hier aus lässt sich ein ganzer Fächer von Fragen und Überlegungen öffnen, der das Verhältnis von kultureller Bildung zur Schule und zur Erziehung insgesamt betrifft. Das kann im vorliegenden Rahmen nicht ausgeführt werden. Eines der Themen, die ich hier dennoch ansprechen möchte, ist die veränderte Sicht auf die Schule. Heute wird in der Schulforschung und Schulentwicklung die seit vielen Jahren immer wieder neu bekräftigte Einsicht vertreten, die einzelne Schule als den Dreh- und Angelpunkt, als die eigentliche Gestaltungseinheit für Bildungs- und Lernqualität zu betrachten. In diesem Zusammenhang ist es auch üblich geworden, die einzelne Schule insgesamt als Kultur aufzufassen und zu analysieren – eine Perspektive, die empirisch und theoretisch von größter Plausibilität ist, ohne dass daraus in Forschung und Bildungspolitik auch nur annähernd die gebotenen Konsequenzen gezogen würden. Grundlegend ist dabei – und zwar schultheoretisch wie auch lerntheoretisch –, dass eine maßgebliche und gleichsam durchkomponierte Beteiligung der Schülerinnen und Schüler auf allen Ebenen der Schularbeit nicht ein schlichtes Zugeständnis darstellt, das eben zu einer Gesellschaft gehört, die sich als Demokratie versteht – als Einübung in bürgerschaftliche Rechte und Pflichten. Vielmehr ergibt sich die Forderung nach Beteiligung als Konsequenz aus einem ko-konstruktiv gefassten Verständnis des Lernens und als Konsequenz aus einem Verständnis von Kultur, die sich als eine "generative Praxis"10 versteht – eine Praxis: keine Technik (die einen Prozess definitiv steuert), kein Zweckhandeln (das ein festes Ziel mit geeigneten Mitteln verfolgt), sondern eine Praxis: ein menschliches Miteinander-Denken, -Wahrnehmen, -Handeln, das sich, mit einem Wort von Aloys Fischer, "im täglichen Umgang von selbst erzeugt".11 Es ist hier nicht der Ort, durchzubuchstabieren, was dieses Verständnis von Erziehung und Lernen für die Schule bedeutet. Beispiele und Analysen gibt es genug – von den Erfindungen der Reformpädagogik vor und nach der Hitlerzeit über die Schulgründungen nach der deutschen Vereinigung bis hin zu den Schulen der Gegenwart, die der Deutsche Schulpreis herausgehoben und dargestellt hat.12

Das Programm "Kulturagenten für kreative Schulen" legt aus meiner Perspektive seinen Schwerpunkt nicht so sehr auf eine solche kulturtheoretische Betrachtung der Schule. Es konzentriert sich vielmehr auf die Künste, die Künstlerinnen und Künstler sowie ihre Bedeutung für die Schule. Mit Kultur ist hier also im Wesentlichen der Teilbereich unserer Gesellschaft gemeint, der sich mit den Künsten und ihrer Praxis in der ganzen Vielfalt beschäftigt – und zwar nicht eingeschränkt auf die im Kulturbetrieb medial und ökonomisch gesehen herrschende Kultur. Ausgehend von den hier vorgetragenen Überlegungen, lassen sich freilich eine Reihe von Thesen formulieren, die den Bereich der Künste speziell beleuchten, um dann am Ende doch wieder auf Schule und Erziehung – und Kultur im weiten Sinne – zurückzukommen.

  1. Die Theorie des "Verständnisintensiven Lernens" betont Aspekte des Lernens, die in ganz herausgehobener Weise in den Künsten gefördert und von den Künsten herausgefordert werden können: Erfahrung spricht die grundlegend materiale Qualität und Welthaltigkeit künstlerischen Schaffens an; Vorstellung ist der Wesenskern künstlerischer Produktion und Rezeption überhaupt, und zwar gerade im Wechselspiel mit der Erfahrung: in der Gegenständlichkeit der Welt wie in der Vergegenständlichung der künstlerischen Vorstellungen durch das Werk. Begreifen bedeutet in der Kunst die Auseinandersetzung mit der genrespezifischen Formensprache, der Grammatik und Symbolik. Metakognition bedeutet künstlerisch die Mobilisierung der ästhetischen Urteilskraft.
  1. Künste stellen so gesehen für die Schule einen eigenen und originären Bereich des Lernens dar, der zu einem Verständnis des Lernens als produktivem und kreativem Prozess einen ganz grundlegenden und unersetzlichen Beitrag leistet. Im künstlerischen Arbeiten wird immer wieder neu die Chance eröffnet, den Möglichkeitsraum eigenen Denkens, Deutens und Fühlens zu erkunden – und zwar in einer Sprache und mit Mitteln, die sich dem schuleigenen Verbalisierungs- und Intellektualisierungsdruck nicht beugt. Kunst findet ihren unverwechselbaren und unersetzlichen Eigensinn im expressiven Raum diesseits und jenseits einer rein begrifflichen Darstellung der Welt. Damit bleibt sie auch eine Quelle und ein Hort gleichsam unzerstörbarer Individualität und Subjektivität.
  1. Dieser Eigensinn der Künste macht auch einen Kern kultureller Bildung aus: Der Begriff "Bildung" wird hier zu Recht verwendet, weil es um Erfahrungen und Wirkungen geht, die sich nicht auf funktionale Brauchbarkeit oder nützliche Kompetenzen beschränken lassen. In gewisser Weise geht es bei der künstlerischen Arbeit immer ums Ganze der eigenen Person in ihrem Verhältnis zur Welt – um die Erfahrung von Mündigkeit und Freiheit. In dieser Hinsicht kommt den Künsten und ganz besonders den Künstlerinnen und Künstlern nicht nur für die Einzelne/den Einzelnen, sondern darüber hinaus für Schule und Erziehung insgesamt, eine advokatorische und gleichsam symbolpolitische Bedeutung zu: Sie stehen für schöpferische Freiheit, für die Anerkennung von unverzweckter Subjektivität, kurz, für den generativen Boden menschlicher Gemeinschaft und menschlichen Lernens. Ich kenne keine gute Schule, die sich nicht auch durch eine umfassende und vielfältige künstlerische Praxis auszeichnet.

Weitere Literatur

Beutel, Wolfgang; Fauser, Peter (Hg.): Demokratie erfahren. Analysen, Berichte und Anstöße aus dem Wettbewerb "Förderprogramm Demokratisch Handeln", Schwalbach a. T. 2013.

Fauser, Peter: "Ohne Vorstellung geht nichts. Über den Zusammenhang von Imagination und Lernen und eine Theorie der Vorstellung", in: Sowa, Hubert; Glas, Alexander; Miller, Monika (Hg.): Bildung der Imagination, Band 2: Bildlichkeit und Vorstellungsbildung in Lernprozessen, Oberhausen 2014.

Fauser, Peter; Beutel, Wolfgang; John, Jürgen (Hg.): Pädagogische Reform. Anspruch – Geschichte – Aktualität, Seelze 2013.

Fauser, Peter; Madelung, Eva (Hg.) unter Mitarbeit von Gundela Irmert-Müller: Vorstellungen bilden. Beiträge zum imaginativen Lernen, Seelze-Velber 1996.

Fauser, Peter; Prenzel, Manfred; Schratz, Michael (Hg.): Was für Schulen! Individualität und Vielfalt – Wege zur Schulqualität. Der Deutsche Schulpreis 2010, Seelze-Velber 2010.

Fauser, Peter; Rißmann, Jens; Weyrauch, Axel: "Das Entwicklungsprogramm für Unterricht und Lernqualität – Theoriegeleitete Intervention als Professionalisierungsansatz", in: Christian Kraler u. a. (Hg.): Kulturen der Lehrerbildung. Professionalisierung eines Berufsstandes im Wandel, Münster u. a. 2012.

1 So steht es auf der Homepage des Programms: http://www.kulturagenten-programm.de/home/startseite/ [23.01.2015].

2 Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Anthropologie und Geschichte (Werke in fünf Bänden), hg. von Andreas Flitner u. Klaus Giel, Bd. 1, Berlin 1960, S. 64.

3 Maurer, Reinhart: "Kultur", in: Krings, Hermann; Baumgartner, Hans Michael; Wild, Christoph: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 3, München 1973, S. 823–832, hier: S. 823.

4 Bausinger, Hermann: Bürgerlichkeit und Kultur, Sonderdruck Göttingen 1986. Für die Konzeptualisierung dieses "Gesamtzusammenhangs", also für das, was "Kultur" wesentlich ausmacht, setzt sich vor allem in der Kultursoziologie mit der "Praxiswende" seit den 1980er Jahren immer mehr der Begriff der "Praxis" durch. (Reckwitz, Andreas: "Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive", in: Zeitschrift für Soziologie, 32, 2003, S. 282–301; ders.: "Die Materialisierung der Kultur", in: Johler, Reinhard (Hg.): Kultur. Denken – Forschen – Darstellen. 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Tübingen vom 21. Bis 24. September 2011, Münster 2013; Hörning, Karl H.; Reuter, Julia (Hg.): Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und sozialer Praxis, Bielefeld 2004. Dazu F. Kaulbach: "Praxis: das ist der Inbegriff derjenigen Vollzüge, durch welche der Handelnde ein sich in einen Gesamtzusammenhang der Natur und der Gesellschaft als eingebunden verstehendes Leben fortsetzt und befördert." In: Kaulbach, Friedrich: Einführung in die Philosophie des Handelns, Wiesbaden 1982, S. 29. Vgl. auch Fauser, Peter: "Nachdenken über pädagogische Kultur", in: Die Deutsche Schule, 81(1989), S. 5–25.

5 Vgl. Tomasello, Michael: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt/M. 2006 (engl. Original Cambridge/Mass. 1999) und ders.: Warum wir kooperieren, Berlin 2010 (engl. Original Cambridge/Mass. 2009).

6 Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in den industriellen Gesellschaft, Reinbek 1957, S. 6.

7 Das Beispiel stammt aus einem Porträt des Friedrich-Schiller-Gymnasiums Marbach, einer Schulpreis-Schule. Vgl. Fauser, Peter; Prenzel, Manfred; Schratz, Michael (Hg.): Was für Schulen! Profile, Konzepte und Dynamik guter Schulen in Deutschland. Der Deutsche Schulpreis 2007, Seelze-Velber 2008.

8 Fauser, Peter: "Lernen als innere Wirklichkeit. Über Imagination, Lernen und Verstehen", in: Neue Sammlung 42, H. 2, S. 39–68. Fauser, Peter; Prenzel, Manfred; Schratz, Michael (Hg.): Was für Schulen! Gute Schule in Deutschland. Der Deutsche Schulpreis 2006, Seelze-Velber 2007.

9 Fauser, Peter u. a.: ",Verstehen zweiter Ordnung" als Professionalisierungsansatz. Das Entwicklungsprogramm für Unterricht und Lernqualität – ein Arbeitsbericht", in: Florian H. Müller u. a. (Hg): Lehrerinnen und Lehrer lernen. Konzepte und Befunde zur Lehrerfortbildung, Münster 2010, S. 125–143.

10 "Generativ" bedeutet hier: "schöpferisch" und "verankert im Wechselspiel der Generationen".

11 Fischer, Aloys: "Erziehung als Beruf" (1921), in: Karl Kreitmair (Hg.): Aloys Fischer. Leben und Werk (Bd. 2), München 1950, S. 31–72, hier: S. S. 31f.

12 Fauser, P.; Prenzel, M.; Schratz, M. (2007), a. a. O.; Dies. (2008), a.a.O.; John, Gisela; Frommer, Helmut; Fauser, Peter (Hg.): Ein neuer Jenaplan. Befreiung zum Lernen. Die Jenaplan-Schule 1991–2007, Seelze-Velber 2008.