Cynthia Krell
Theater für Kinder und Jugendliche - Das theaterkohlenpott Herne
Cynthia Krell

Theater für Kinder und Jugendliche - Das theaterkohlenpott Herne

Herne liegt im nördlichen Ruhrgebiet im Dreieck zwischen Dortmund, Bochum und Recklinghausen. Und im Herzen eines der Wohngebiete dieser Stadt – weit über ihre Grenzen hinaus bekannt – residiert das theaterkohlenpott. 1978 von dem Künstler Willi Thomczyk gegründet, ist das freie Theater 1982 in das entstehende Kulturzentrum in die denkmalgeschützten Flottmann-Hallen1 umgezogen. Die ehemalige Produktionsstätte für Bohrhämmer für den Bergbau ist eines der Beispiele, wie in letzter Sekunde der komplette Abriss gestoppt werden konnte, um die traditionsvollen und in der Region nahezu einmaligen Jugendstilbauten zu retten und einer neuen Bestimmung zuzuführen: ein kluger Zug der Stadtentwicklung und eine Bereicherung für die urbane Kunst und Kultur, die nun in einem Baudenkmal mit ungewöhnlich viel Licht und Raum agieren kann.

Das theaterkohlenpott Herne gehört zu den ältesten freien Theatern in Nordrhein-Westfalen und wird von dem Regisseur Frank Hörner sowie der Dramaturgin und Theaterpädagogin Gabriele Kloke geleitet. Seit Ende des Jahres 2006 ist es ausschließlich ein Kinder- und Jugendtheater, das konsequenterweise seine meisten Vorstellungen in den Vormittagsstunden zeigt, damit sie vom anvisierten Zielpublikum besucht werden können.

Im Programm befinden sich Stücke wie zum Beispiel "Tschick" von Wolfgang Herrndorf und "Du, Du & Ich" von Theo Fransz, aber auch eigene Produktionen wie "Leider Deutsch". Jährlich werden zwei Theaterstücke produziert. Die Schwerpunkte des Theaters liegen in der Stückentwicklung und in der Projektarbeit für und mit Kindern und Jugendlichen sowie in der theaterpädagogischen Arbeit. Die Themen und die Umsetzung der Stücke finden bundesweit Anklang, sodass das Ensemble regelmäßig in anderen Häusern gastiert, bei Theaterfestivals vertreten ist und vom Kultursekretariat Gütersloh mehrfach als "Junges Theater des Jahres" ausgezeichnet wurde.

Theater für und mit Kindern und Jugendlichen

Um ungewöhnliche Stücke und ein vielfältiges theaterpädagogisches Begleitprogramm anbieten zu können, arbeitet das theaterkohlenpott mit knapp 40 freien Künstlerinnen und Künstlern aus allen Sparten zusammen. Gabriele Kloke skizziert den Kultur- und Bildungsauftrag ihrer Institution folgendermaßen: "Unser Anliegen ist es, Theater für Kinder und Jugendliche mit professionellen Künstlern zu machen. Wir suchen uns Themen aus, die möglichst nah an unserer Zielgruppe sind. Oft untersuchen wir den Bezug zusammen mit den Jugendlichen selbst. Wir arbeiten daher sehr eng mit Schulen und Patenklassen zusammen und holen uns die jungen Expertinnen und Experten teilweise mit in unser Team." Und sie fährt fort: "Kindern und Jugendlichen kulturelle Bildung näherzubringen, ohne dass sie es merken … ein Theater hat ja das Glück, dass es sehr spielerisch agieren kann. Kinder und Jugendliche merken oft gar nicht, wie hart sie gerade arbeiten."

Von Beginn an war die Theaterpädagogik ein integraler Bestandteil des Programms und der Projektarbeit, insbesondere in Bezug auf szenische Einführungen und Workshops für Kinder und Jugendliche an Schulen. Auch Fortbildungen für Lehrerinnen und Lehrer werden angeboten. Ein weiterer Schwerpunkt der Theaterarbeit sind die Jungen Ensembles, die für zwei unterschiedliche Altersgruppen angeboten werden und eigene Produktionen aufführen. Aus dem ältesten Jungendclub haben sich inzwischen die in die Jahre gekommenen, ehemals jugendlichen Darstellerinnen und Darsteller zusammengeschlossen und aus purer Spielfreude das "freieensemble" gegründet – das zeigt, wie ansteckend und nachhaltig Theaterspielen sein kann.

Die Kulturagentin als Initiatorin und Moderation

Im Rahmen des Kulturagentenprogramms hat Ariane Schön die Kooperation mit der Realschule Crange angestoßen. Die Kulturagentin hatte bereits im Rahmen des Projekts "pottficition"2 im Kulturhauptstadtjahr 2010 intensiv mit dem theaterkohlenpott zusammengearbeitet. Diese Erfahrungen waren so positiv, dass sie die Kooperation vertiefen wollte. Auch Gabriele Kloke betont die Vorzüge, wenn bereits Kenntnisse über die institutionellen Rahmenbedingungen des Kulturpartners vorhanden sind: "Wir kennen uns schon lange und wissen, was wir voneinander haben." Konkret lobt Kloke die Vermittlungsrolle der Kulturagentin: "Ariane verfügt über Insiderwissen; sie kennt unser Theater und kann einschätzen, welche Bildungsarbeit wir leisten können. Gleichzeitig bringt sie das für uns nötige Hintergrundwissen aus der Schule mit. Das ist die Grundlage dafür, dass sie kompetent das Gespräch zwischen uns beiden moderieren kann."
Auch der intensive Austausch mit Marc Bethke, dem Kulturbeauftragen der Schule, der insbesondere den Prozess der Angebotsentwicklung und Profilbildung an der Realschule Crange koordinierte, wurde zu einem großen Vorteil. Gabriele Kloke freut sich über das Engagement der Schulleitung und der beteiligten Lehrkräfte, die auch schon vor dem Kulturagentenprogramm aktiv die Angebote des Theaters wahrgenommen haben. "Es war eine lange gegenseitige Wertschätzung vorhanden: die Zusammenarbeit zu vertiefen, war für uns beide also selbstverständlich."

Auf dieser Basis begann die gemeinsame Entwicklung und Konzeption möglicher Projekte für die Kulturagentenschule. Im Rahmen des Kulturfahrplans definierten die Beteiligten Schwerpunkte für die kulturelle Bildung und formulierten gemeinsam Ziele und Rahmenbedingungen. Mit dem theaterkohlenpott wurde ein umfangreiches Angebotsportfolio erstellt, das im Laufe des Projekts dynamisch angepasst worden ist. Den Kern der kulturellen Aktivitäten für die Schülerinnen und Schüler bildet ein jährlicher Theaterbesuch mit theaterpädagogischer Begleitung für die 5. bis 9. Jahrgangsstufe. Ergänzt werden ein oder zwei aufbauende Module, wie zum Beispiel in der 5. Jahrgangsstufe die Einführung in die Welt des Theaters oder ein Workshop zur Körpersprache in der 9. Jahrgangsstufe. Im Schuljahr 2012/13 wurde zudem eine Theater-AG für besonders interessierte Schülerinnen und Schüler ins Leben gerufen, die mittlerweile ihr erstes selbst geschriebenes Stück, "Und was denkst du?", aufgeführt hat.

Gabriele Kloke stellt zusammenfassend fest: "Ich finde die Idee eines Kulturfahrplans wichtig. Noch wichtiger ist es aber, dass sich alle Seiten zuverlässig an die getroffenen Vereinbarungen halten, damit die Kooperation zwischen Schule und Institution gelingt und keine Erwartungen enttäuscht werden."

Mobbing nicht mit uns!

Für die 8. Jahrgangsstufe entwickelten Gabriele Kloke und Ariane Schön ein multimediales Projekt zum Thema "Mobbing" und überraschten die Schülerinnen und Schüler mit dem Klassenzimmerstück "Erste Stunde". Im Mittelpunkt steht ein Schüler, der neu in der Klasse ist und der von seinen schmerzlichen Mobbingerfahrungen berichtet. "Es ist ein sehr provokantes Stück, aber auch sehr wirksam, weil es Fragen aufwirft wie: Wie wird man zum Opfer, und wer ist Täter?", berichtet Kloke. "Wir haben die Geschichte der Figur ausgehend vom Stück gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern weiterentwickelt. Danach konnten sich die Jugendlichen ihren eigenen Interessen entsprechend entscheiden, entweder einen Film zu drehen oder eine Broschüre zu erstellen, dafür zu recherchieren und Texte zu schreiben."

Mobbingprojekt der Realschule Crange
Foto: Mischa Lorenz

Die Schülerinnen und Schüler durchliefen alle Prozesse eines Filmdrehs: vom Schreiben eines Storyboards übers Schauspieltraining bis hin zur Umsetzung der unterschiedlichen Arbeitsbereiche. Die Darstellerinnen und Darsteller lernten ihre Texte, Location Scouts wählten die passenden Orte, Ausstatterinnen und Ausstatter organisierten Kostüme, Kulisse und Requisiten. Begleitet und professionell unterstützt wurden die Achtklässler von einem Regieteam und einem Kameramann, der die Aufnahmen realisierte. Inhaltlich ergänzt wurde der Film von Fragen zum Thema, die Schülerinnen und Schüler verschiedener Jahrgangsstufen in der multimedialen "Wertebox" in die Kamera sprechen konnten, die temporär in der Schule aufgestellt worden war. Im Anschluss erfolgten die Auswertung des Materials und die Fertigstellung des Films. Das Ergebnis ist ein Film, der als Unterrichtsmaterial in der Schule zur Verfügung steht.

Mobbingprojekt der Realschule Crange
Foto: Mischa Lorenz

Parallel zur Filmgruppe engagierten sich Schülerinnen und Schüler journalistisch, indem sie im Internet passende Materialien zum Thema "Mobbing" recherchierten und Interviews auf dem Schulhof und an den Nachbarschulen führten. Die Ergebnisse, die von den Jungjournalisten zusammen getragen, kritisch ausgewertet und in schülernahe Texte übersetzt wurden, bildeten die Basis für die Broschüre "Für eine mobbingfreie Schule". Nach professioneller Gestaltung ist sie in hoher Auflage gedruckt und verteilt worden und kann als PDF online abgerufen werden.3

Das Projekt wirkte sich insgesamt so positiv auf das Schulklima aus, dass die Schulcommunity eine Arbeitsgruppe "Mobbing" gründete, einige Lehrerinnen und Lehrer sich zu Medienscouts weiterbildeten und einzelne Schülerinnen und Schüler ein Mentoringprogramm durchliefen, das sie zum Mobbingschlichter ausbildete. Neben der Sensibilisierung für das Thema, gehe es in diesem Projekt, so Kloke, auch um das Kennenlernen und Anwenden von filmischen Gestaltungsmitteln und investigativen Vorgehensweisen im Journalismus, um Schülerinnen und Schüler in ihren ästhetischen Ausdrucksweisen zu fördern.

Mobbingprojekt der Realschule Crange
Foto: Mischa Lorenz

Warming-up für das Theater

Für Gabriele Kloke stehen bei jedem Projekt die Interessen und die Beteiligung der Schülerinnen und Schüler im Vordergrund. "Mir ist es immer wichtig, mit den Jugendlichen gemeinsam ein Stück zu entwickeln. Ich lasse mich auf die jeweilige Gruppe und ihre Themen ein, und dann arbeiten wir gemeinsam an der Frage, wie wir ihre Geschichte mit theatralen Mitteln erzählen können. Ich habe die Beobachtung gemacht, dass die meisten Schülerinnen und Schüler noch keine Erfahrung mit dem Theaterspielen haben, sodass wir mit dem typischen Warming-up, einem Stimmtraining und szenischen Übungen starten. Dann geht es darum, das Stück zu entwickeln. Dafür frage ich die Jugendlichen so lange neugierig aus, bis wir ein spannendes Thema haben. Natürlich lenke ich den Gruppenprozess, aber es ist und bleibt dennoch ein ganz offener und unbekannter Prozess. Gerade über das Theaterspiel lernen Kinder und Jugendliche theatrale Mittel ganzheitlich kennen und können dabei ihre persönlichen Stärken in der Teamarbeit entdecken und einsetzen und bei den Aufführungen nach außen in die Öffentlichkeit tragen."

Die Umsetzung der oft selbst entwickelten Theaterstücke erfolgt meistens in schultypischen Räumen wie der Aula und ist auch ohne großen technischen Aufwand möglich, denn das Material seien, so die Theaterpädagogin, die Jugendlichen und ihre Kreativität selbst. Dennoch äußert Kloke den Wunsch nach einem multifunktionalen Kulturraum, der allen den Eintritt in eine andere Welt verschafft. "Dieser Raum sollte sich in der Schule befinden, sich aber trotzdem nicht wie Schule anfühlen und ausschließlich den kulturellen Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler vorbehalten sein, damit ein konzentriertes Arbeiten möglich ist." Für die Grundausstattung sei nicht viel Material notwendig: ein Tanzboden, weiße Wände, eine Spiegelwand für die Tanzgruppen und bewegliche Lampen. Die Schulleitung der Realschule Crange ist derzeit sehr bemüht, zusätzliche Räume für kulturelle Aktivitäten zu organisieren, um dem Anliegen gerecht zu werden.

Neue Kultur der Offenheit

Im Laufe des Kulturagentenprogramms hat Gabriele Kloke durchweg positive Veränderungen an der Schule bemerkt: "Es wird nicht mehr darüber diskutiert, ob es sinnvoll ist, zwei Fachstunden ausfallen zulassen, um ins Museum oder Theater zu gehen, sondern es wird einfach gemacht. Die Lehrerinnen und Lehrer überlegen aktiv, wie sie die entsprechenden Themen mit den fachlichen Unterrichtsinhalten sinnvoll verknüpfen können." Insgesamt sei sowohl bei den Schülerinnen und Schülern als auch beim Kollegium eine Offenheit für zeitgenössische Kulturformen und eine neue Kultur des Sicheinlassens und des Beobachtens der eigenen Veränderungen, eingetreten. Ein Grund dafür sei, dass die Projekte und Veranstaltungen inhaltlich stärker im Unterricht verankert werden, strukturell in den Schulalltag eingebunden sind und regelmäßig Präsentationen stattfinden. Diese positive Entwicklung führte auch dazu, den Kulturfahrplan entsprechend zu erweitern, denn Gabriele Kloke fordert grundsätzlich: "Ein Theaterbesuch pro Schuljahr sollte selbstverständlich sein und zum Schulprogramm dazugehören." Sicherlich werden nicht alle Kinder und Jugendliche diesem Credo zustimmen, und es wird immer welche geben, die sich nicht für Kultur interessieren oder Lust haben, Theater zu spielen. "Aber", so bringt sie es auf den Punkt, "ich glaube, es geht vielmehr darum, Angebote zu machen und so den Weg zu kultureller Bildung zu öffnen. Für viele Schülerinnen und Schüler ist es nicht selbstverständlich, mit ihren Eltern ins Theater oder ins Museum zu gehen. Wer soll"s machen, wenn nicht die Schulen in Kooperation mit den Kulturanbietern? Das ist der perfekte Ort, um viele zu erreichen. Dann können die Kinder auch, wenn sie Lust haben, mehr Theater zu spielen, in unsere Jugendclubs kommen." In diesem Sinne leistet das Kulturagentenprogramm einen wertvollen Beitrag zur kulturellen Teilhabe und Chancengerechtigkeit – auf jeden Fall für die Schülerinnen und Schüler der Realschule Crange.

Ein Kulturbudget für alle Schulen!

Aus der dreijährigen Zusammenarbeit ergaben sich für das theaterkohlenpott und die Realschule Crange zusammenfassend folgende Ergebnisse: Zum einen konnte durch eine verlässliche Bildungspartnerschaft und gesicherte Finanzierung ein sich aufbauendes Programm und eine Profilbildung im Sinne des Kulturfahrplans entwickelt, erprobt, evaluiert und dynamisch erweitert werden. Zum anderen können Kinder und Jugendliche systematisch kulturelle Kompetenzen erwerben und ganzheitlich in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden. Gabriele Kloke betont, dass mit Hilfe des Kulturagentenprogramms und dem Engagement aller Beteiligten an der Realschule Crange gute Strukturen für eine zukünftige Kulturschule geschaffen worden sind. Nach Beendigung des Projekts beginne jedoch die eigentliche Aufgabe: Die gemeinsame Herausforderung bestünde darin, die geschaffenen Strukturen zu erhalten und kreativ auf die neue Situation zu reagieren. Einen kulturpolitischen Wunsch hat Gabriele Kloke bereits formuliert: "Es wäre ein Traum, wenn jede Schule frei über ein festes Kulturbudget verfügen könnte, was sie ausschließlich für kulturelle Projekte einsetzen kann."

 

1 Zur Geschichte der Flottmann-Hallen: flottmann-hallen.de/page/2?m=18 [28.02.2015].

2 "pottfiction" ist eine Zusammenarbeit von sechs Kinder- und Jugendtheatern aus dem Ruhrgebiet, die das Projekt für die Kulturhauptstadt 2010 entwickelten. Insgesamt sind zwischen 80 und 100 Jugendliche zwischen 16 und 23 Jahren aktiv in das Gesamtprojekt eingebunden, davon 16 in Herne. In Zeiten der Kulturhauptstadt wurde das Projekt von der Stiftung Mercator gefördert, derzeit wird es weiterentwickelt und von den Urbanen Künsten und dem Land NRW finanziell und organisatorisch unterstützt. Siehe auch www.theater-kohlenpott.de/pottfiction/ [28.02.2015].

3 www.kulturagenten-programm.de/assets/Uploads/Downloads/Mobbing-Broschre.pdf [28.02.2015].