Michaela Schlagenwerth
Die Schule mit Kunst infizieren und vice versa
Michaela Schlagenwerth

Die Schule mit Kunst infizieren und vice versa

Intro

Arien, Beat-Boxing und experimentelle Klangkunst. Ein Beschneidungsumhang wird dem Museum gestiftet. Höre zu, Lehrer, und folge mir!

Wie kann man Beziehungen stiften, die neue Handlungsspielräume eröffnen? Wie kann ein Austausch gelingen, der das Trennende überwindet? Wie kann mit kultureller Differenz gespielt werden, ohne dass daraus gleich feste Zuschreibungen entstehen? In diesem Text werden drei Projekte vorgestellt, die diese Fragen zum Ausgangspunkt genommen haben. Es sind Projekte, die von migrationspädagogischen Überlegungen beeinflusst waren und in denen alle Beteiligte gemeinsam das Feld der Begegnung neu austariert haben: Wer begegnet wem in welcher Weise, aus welcher Position, in welcher Rolle?

Die Projekte wurden mit zwei Kreuzberger Schulen, der Hector-Peterson-Schule und der Carl-von-Ossietzky-Schule, und mit zwei Kulturinstitutionen, der Stiftung Stadtmuseum Berlin und der Deutschen Oper Berlin, realisiert: das Audio-Performance-Projekt "Wallah – mein Schulweg", das Stadtforschungs-Projekt "36-Tor" und das Musiktheaterprojekt "Give-a-Way".

Begegnung

Projektbeispiel 1: Wallah – mein Schulweg. Oder wie zwölf Schülerinnen und Schüler ihre Lehrer durch die Schule führen – und wallah, ich schwöre –, wie die Lehrer beginnen Geschichten zu erzählen.

Die Ausgangssituation

Sommer 2012. Auf der Gesamtkonferenz der in Berlin-Kreuzberg gelegenen Integrierten Sekundarschule Hector-Peterson-Schule wird der hohe Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund diskutiert. Der bereits seit Jahren laufende Prozess der sozialen Entmischung – der in fast allen Schulen in den migrantisch geprägten Bezirken Berlins zeitgleich stattfand – wird als eine Entwicklung analysiert, der man als Schule nur begrenzt etwas entgegensetzen kann, vor der man aber trotzdem nicht kapitulieren darf.1 Einerseits, so wird erwogen, müsste also über Strategien gegen diese Sozialflucht nachgedacht werden, gleichzeitig dürfe man dadurch nicht in die Falle tappen, die eigene Schülerschaft und deren Migrationshintergrund als defizitär zu kategorisieren.

Der Rütli-Donner2 wabert zu diesem Zeitpunkt immer noch durch die Medien. Schulen mit hohem Migrationsanteil wird automatisch eine dramatische Situation unterstellt. Eine Unterscheidung nach Herkunft – Paul Mecheril beschreibt sie als "natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen" – wird damit unaufhörlich in den Fokus gerückt. Will man dem etwas entgegensetzen, das ist eine Schlussfolgerung aus der Diskussion auf der Gesamtkonferenz, kann man nur bei sich selbst beginnen. Denn, auch das wird deutlich, wir alle sind, mehr als wir es oft wahrhaben wollen, von den gesamtgesellschaftlichen Diskursen geprägt.

Aber wie kann eine solche Auseinandersetzung aussehen? Für Dezember 2012 ist ein künstlerischer Workshop mit dem Lehrerkollegium geplant. Der Workshop, so überlegen der Kulturbeauftragte und die Kulturagentin, sollte die Diskussion der Gesamtkonferenz aufgreifen und, das ist unser Anspruch, nicht nur einen Diskurs aushebeln, der einen Migrationshintergrund als etwas Defizitäres definiert. Er sollte einen Schritt weiter gehen und ganz grundsätzlich den Fokus auf diese Arten von Unterscheidungen aushebeln oder ihn zumindest in Frage stellen. Unser Gespräch beginnt mit der Überlegung, eine Wissenschaftlerin/einen Wissenschaftler oder eine Künstlerin/einen Künstler zu einem Vortrag einzuladen. Am Ende entsteht das Projekt "Wallah – mein Schulweg", bei dem Schülerinnen und Schüler der Schule selbst den künstlerischen Workshop für das über 60 Personen umfassende Lehrerkollegium leiten.

Die Kunst

Ausgangspunkt und Inspiration für das Projekt ist "Niemandsland", eine Audioperformance des niederländischen Künstlers Dries Verhoeven, die 2010 vom Theater Hebbel am Ufer als Gastspiel nach Berlin eingeladen worden war. Ein Asylbewerber führt als Guide einen einzelnen Theatergast durch die Stadt und wechselt kein Wort mit ihm. Stattdessen bekommt man über ein Audioset Anweisungen, eben diesem Menschen, von dem man meist nur den Rücken sieht, zu folgen, ihn nicht anzusprechen, ihm nicht zu nahe zu treten. Auf einmal ist man selbst fremd in der Stadt, in einer besonderen, isolierten Situation. Über den Kopfhörer hört man Geschichten von einer Flucht nach Deutschland und weiß nicht, ob auch die Geschichte des Guides dabei ist. Es ist eine fragile, entfremdete und, mit den Stimmen direkt im Ohr, gleichzeitig irritierend intime Situation, die zunehmend verunsichert. Bestimmte Unterscheidungsschemata – der Asylbewerber, die Deutsche – beginnen aufzuweichen, man fängt an, die Verhaltensweisen seines Führers zu interpretieren. Sind diese genau choreografiert? Oder sind es spontane Reaktionen auf mich, die ich ihm folge?

Das Projekt

In "Wallah – mein Schulweg" wird dieses Setting gedreht. Die Frage, was Schülerinnen, Schülern und Lehrenden gemeinsam ist, was sie miteinander teilen, wird zum Leitgedanken. Wie kann man das Zwangskorsett der Funktionen und der dazugehörigen Zuschreibungen – die Schülerinnen und Schüler, die Lehrenden, deutsch, türkisch, arabisch, migrantisch und anderes – verlassen? Einige Wochen arbeitet eine zwölfköpfige Gruppe des Wahlpflichtkurses Darstellendes Spiel des 9. Jahrgangs gemeinsam mit der Künstlerin Agathe Chion an Geschichten zum Thema Schulweg. Die morgendlichen Abläufe werden aufgeschrieben und in einem nächsten Schritt kleine alltägliche Hindernisse zu fantastischen Geschichten ausgeweitet. Mit einem Aufnahmegerät werden zu Hause und auf dem Schulweg Geräusche und Atmosphären gesammelt und die Geschichten anschließend von den Schülerinnen und Schülern eingesprochen, kleine Minihörspiele entstehen.

Dezember 2012. Die Gesamtkonferenz ist zu einem künstlerischen Workshop umfunktioniert worden. Die Lehrenden werden von den Schülerinnen und Schülern in Fünfergruppen eingeteilt, mit Kopfhörern und MP3-Playern ausgestattet und durch Schulflure, Treppenhäuser und das Außengelände geführt. Sie hören dabei die abenteuerlichen Geschichten von Schulwegen mit vielen Umwegen und Fallstricken. Im Anschluss werden die Lehrenden eingeladen, sich selbst an die Schulwege ihrer Kindheit und Jugend zu erinnern. Geschichten werden erst allein geschrieben und Bilder gemalt, anschließend erzählen die Lehrenden dem Kollegium und der Schülerschaft: vom gemeinsamen Schulweg mit der besten Freundin, von verpassten Bussen, vom Zuspätkommen und von fantastischen Ausreden. Beim Abschluss sitzen glückliche Menschen in der Aula. Etwas Befreiendes hat stattgefunden, für den Moment dieses Nachmittags, aber auch als Setzung. Die beengenden, scheinbar so festgezurrten Zugehörigkeitszuordnungen im Bezugssystem Schule wurden gelockert, durchlässiger. Aber: War das von Anfang an absehbar?

Formen der Überschreitung

"Wallah – mein Schulweg" hatte eine definierte Absicht und ein klar strukturiertes Konzept. Trotzdem war der künstlerische Workshop letztlich ein Labor.3 Begegnungen zwischen Menschen lassen sich gestalten, aber nicht kalkulieren, sie finden zwischen den Menschen statt, die anwesend sind. Viele Lehrer haben im Nachhinein berichtet, dass sie die Schulräume durch die Audioführung auf einmal völlig anders wahrgenommen haben, sich für sie durch die Geschichten und die sie führenden Schülerinnen und Schüler etwas wie verschoben angefühlt habe. Der Ort Schule, vor allem aber die Schülerinnen und Schüler, wurden auf eine überraschend frische, eingefahrene Wahrnehmungsmuster öffnende Weise erlebt. Aber zum Kern des Projekts wurde das eigene Erzählen. Die Beteiligten haben ihre Funktionsrollen dabei weitgehend verlassen, auf einmal standen die Lehrenden, angeleitet, inspiriert und betreut von den Schülerinnen und Schülern, im Mittelpunkt. Möglich wurde dies allerdings nur, weil die Lehrenden dazu bereit waren, sich anzuvertrauen, sich führen und inspirieren zu lassen. Und weil die Schülerinnen und Schüler, unterstützt und angeleitet von der Künstlerin, bereit waren, ihnen diese Inspiration zu schenken.

In seinen migrationspädagogischen Anmerkungen zur kulturell-ästhetischen Bildung fragt Paul Mecheril, "aufgrund welcher kulturellen Praktiken in pädagogischen Zusammenhängen zwischen ,Migranten" und ,Nicht-Migranten" unterschieden wird, aufgrund welcher Bedingungen ,Migranten" als ,Migranten" wahrgenommen werden, wie Kinder lernen, sich als ,Nicht-Ausländerin" oder ,Fremde" zu verstehen".4 Er schlägt vor, dass ",widerständige" Formen der Überschreitung der traditionellen Grenzen erprobt und eingeübt werden, eine Erkundung also der Praxen, Lebensweisen und Geschichten, die sich dem eindeutigen Unterscheiden entziehen."5

Das Projekt "Wallah – mein Schulweg" basiert auf einer Praxis, die den Schulalltag und seine Problemlagen mit Kunst kurzschließt. Es hat zwar das Problem der Unterscheidung, die Fokussierung auf "natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen" zum Ausgangspunkt, aber es werden, wie auch Mecheril beschreibt, Überschreitungen traditioneller Grenzen erprobt. Aber mit der Frage nach der Produktion der Wahrnehmungsunterscheidung von "Migranten" und "Nicht-Migranten" hat sich das Projekt nicht befasst. Es basiert auf der einfachen These, dass, wo das Trennende zweitrangig wird, auch die Zugehörigkeitszuschreibungen in den Hintergrund treten. Die Unterschiedlichkeit der Beteiligten – sei es nun in Alter, Geschlecht, Funktion oder Herkunft – bereichert die Geschichten und Erzählweisen. Das auf klares Erkennen und Einordnen ausgerichtete Wahrnehmungssystem öffnet sich neuen Möglichkeitsräumen.

Ohne Zuschreibungen und Zuordnungen kommen wir nicht aus, unser Wahrnehmungssystem basiert darauf, und das auf den unterschiedlichsten Ebenen. Aber es gilt, die Balance zwischen Einordnung und Offenheit immer wieder neu auszutarieren – und zu hinterfragen, was genau wann und warum als vertraut und was als verschieden, als fremd wahrgenommen wird. Und was dies dann in der Folge genau bedeutet. Kulturell bedingte Verschiedenheit besteht, aber wie gehen wir mit ihr um? Wie kann man sie anerkennen und kulturalisierende Zuschreibungen – Zuschreibungen, mit denen suggeriert wird, dass die jeweilige nationale Herkunft als Kultur und damit als Kriterium für Verschiedenheit gedacht werden könne –gleichzeitig unterlaufen?6

Der Weg in die Institution

Projektbeispiel 2: "Hot or not? – Güzel veya Cirkin?" Am Kotti ist es einfach aufregender als am Brandenburger Tor. Oder wie aus der historischen Linden-Rolle eine Kreuzberger Adalbert-Rolle wird.

Die Ausgangssituation

Migrantische und postmigrantische Themen werden von den staatlichen und städtischen Museen noch nicht allzu lange in den Blick genommen. Das ist auch bei der Stiftung Stadtmuseum Berlin nicht anders gewesen. Die großen Kulturinstitutionen der Bundesrepublik werden von Menschen mit nicht deutschem Herkunftshintergrund – auch wenn in den vergangenen Jahren in dieser Richtung sehr viel geschehen ist – oft immer noch als ein Ort erlebt, an den und zu dem man nicht gehört. Die Trennlinie ist deutlich gezogen. Als im Sommer 2012 in enger Zusammenarbeit zwischen der Leiterin der Museumspädagogik, Lehrenden der Schule und mir als Kulturagentin das erste Projekt zwischen der Stiftung Stadtmuseum Berlin und der Kreuzberger Carl-von-Ossietzky-Schule geplant wird, sind Schulen mit hohem Migrationsanteil noch diejenigen, deren Klassen den geringsten Prozentsatz der Schulbesucherinnen und -besucher im Märkischen Museum ausmachen. Dabei ist dieses Museum prädestiniert, Geschichte und Politik sinnlich erlebbar zu machen. Aber, so die Analyse von Museumsseite selbst, für die Kreuzberger Schülerinnen und Schüler finden sich keine spezifischen Anknüpfungspunkte. Die jüngere migrantische Geschichte und vor allem die muslimische Kultur sind im Märkischen Museum nicht präsent. Doch erst wenn es Anknüpfungspunkte für das Eigene gibt, kann auch die Unterscheidung zwischen eigener und fremder Kultur aufgelöst werden. So wird die Frage danach, wie man solche Anknüpfungspunkte schaffen kann, zum Ausgangspunkt für das Projekt. Und: Wie kann man dabei kulturelle Verschiedenheiten aufzeigen,7 dies aber transkulturell kontextualisieren?

Das Projekt

Als Grundidee entsteht: Das Märkische Museum wird Ausgangspunkt zur Erforschung der Stadt. Einerseits soll es dabei um Areale gehen, zu denen das Museum viele Exponate zu bieten hat – wie Unter den Linden, Brandenburger Tor oder Gendarmenmarkt – und andererseits um die Lebensmittelpunkte der Schülerinnen und Schüler, also um Kreuzberg und Neukölln. Der Arbeitstitel des ersten Projekts lautet "Tore in der Stadt: Das Brandenburger und das Kottbusser Tor". Es gibt ein grob strukturiertes Konzept, aber viel Spielraum um die Impulse der Schülerinnen und Schüler aufzunehmen. Es ist ein Vortasten auf neuem Terrain. Am Ende heißt die erste Ausstellung "36-Tor". "Thirtysix", nach einer legendären Kreuzberger Gang. Das Brandenburger Tor spielt in der Ausstellung keine Rolle mehr, ihr eigenes Lebensumfeld, das Kottbusser Tor, hat die Schülerinnen und Schüler viel mehr interessiert. Die Exponate im Museum werden aber durchaus genutzt. Bei der Besichtigung des historischen Brandenburg-Merchandising wird etwa konstatiert, dass es rund um das Kottbusser Tor ebenfalls viele Touristen gibt. Die Idee kommt auf, diese zu interviewen und sie nach ihrem Interesse an Kreuzberg und nach ihren Eindrücken zu befragen. Eine Toninstallation entsteht, ein Kreuzberg-Wörterbuch, aus den Läden rund um den Kotti werden Exponate eingesammelt, andere von Zuhause mitgebracht. Ein Exponat, ein hochwertiger Beschneidungsumhang, wird später von einer Familie gestiftet und mit einer feierlichen Übergabe in die ständige Sammlung der Stiftung Stadtmuseum Berlin aufgenommen. Für die erste Ausstellung entsteht als Hauptexponat in Zusammenarbeit mit dem Künstler Markus Weis eine von der historischen Linden-Rolle – ein Unter-den Linden-Kupferstich-Panorama aus dem 19. Jahrhundert – inspirierte "Adalbert-Rolle" mit sehr eigenwilligen Motiven und Kommentaren der Schülerinnen und Schüler.

Eine Kooperation wächst

Dem ersten Projekt sind längst viele weitere gefolgt. Die Impulse der Schülerinnen und Schüler wurden dabei in die Projektstruktur eingespeist. Nicht mehr das Brandenburger Tor oder der Gendarmenmarkt, wie anfangs von den Projektinitiatoren gedacht, sondern das eigene Lebensumfeld ist zum Forschungsgebiet und die Jugendlichen sind zu Heimatkundlern geworden, die Themen und Fragen aus ihrem Lebensumfeld in den historischen und gesamtgesellschaftlichen Kontext der Stadt situieren. Gleiches gilt für den Zugang zum Museum. Die Reaktion der Schülerinnen und Schüler vor dem historischen Merchandising des Brandenburger Tors – "Touristen gibt es bei uns auch" – war ein widerständiger Akt. Er hinterfragte die Gewichtung der Stadtbezirke im Museum, durchkreuzte die tradierte Deutungshoheit über die Exponate und das, was sich aus ihnen ableiten lässt. Die Nutzung der Exponate wurde für die eigenen Fragestellungen und Interessen "umgedreht". Auch das Museum als Ort, den man benutzt, um sich Kenntnisse, Ideen und Material für die eigene Forschung zu beschaffen, wurde in die Projektstruktur integriert. Bevor die Schülerinnen und Schüler das Märkische Museum nun zum ersten Mal betreten, sind bereits das (meist in Kreuzberg oder Neukölln gelegene) Stadtgebiet und die Fragestellung vereinbart. Die Jugendlichen kommen als souveräne Besucher, die mit ihren Fragen und Interessen bei ihrem ersten Besuch eine Brücke zu ihrem eigenen Lebensumfeld schlagen. Dabei begreifen sie dieses migrantische und zunehmend gentrifizierte Lebensumfeld, begreifen sie Migration ganz selbstverständlich nicht als einen Sonderfall, sondern als das, was es ist, als etwas, das die Strukturen und Prozesse der Gesellschaft als Ganzes betrifft. Ihren Strategien, den "Sonderfall" zu unterlaufen und gleichzeitig kultureller Verschiedenheit Raum zu geben, hat das Projekt zu folgen versucht. Wem gehört überhaupt das Museum? Und wessen Geschichte wird darin erzählt? Wenn das Museum auf eine solche Weise benutzt wird, wenn man sich ihm mit dieser souveränen "Benutzer"-Haltung nähert, ist es kein fremder Ort, der einen nichts angeht, sondern einer der gesamtgesellschaftlichen Erinnerungskultur, den sich die Jugendlichen mit großer Selbstverständlichkeit aneignen.

Der Hermannplatz, die Sonnenallee und das Tempelhofer Feld samt Sehitlik Moschee wurden inzwischen beforscht. Interviews gehören ab dem ersten Projekt zum festen Bestandteil der Feldforschung, es wird kartografiert, fotografiert, beobachtet, skizziert, reflektiert. Seit dem Hermannplatz-Projekt werden die Projekte von der bildenden Künstlerin Valerie von Stillfried geleitet. Nach der Forschungsphase werden seitdem mit den Jugendlichen höchst eigenwillige, künstlerisch interessante Dioramen gebaut. Die Exponate werden für mehrere Wochen im Museum ausgestellt. Im Sommer 2014 haben die Stiftung Stadtmuseum Berlin und die Carl-von-Ossietzky-Schule eine offizielle Kooperationsvereinbarung unterschrieben. Gleichzeitig wird das Projekt erstmals an eine reguläre Ausstellung angeschlossen. Parallel hat die historische Recherche in das Projektkonzept Einzug gehalten. Für den Bau der Modelle wälzen die Schüler und Schülerinnen historische Fotobücher, studieren Gemälde. Wie sahen die Straßenlaternen aus, die Autos, die Kleidung? Aus welcher Beschaffenheit waren die Stoffe? Die Kooperation ist keine Projektserie am Fließband, sondern ein sich ständig verändernder, in verschiedene Richtungen mäandernder Prozess, der von Projekt zu Projekt das vorher Gewesene integriert.

Große, von ihrer Genese bürgerlich geprägte Kulturinstitutionen und migrantisch geprägte Schulen zusammenzubringen, heißt Welten miteinander in Kontakt zu bringen, die sich nach wie vor auf vielen Ebenen fremd sind. Wenn der Brückenschlag gelingt, vollzieht sich – über das konkrete Tun hinaus – auch ein politischer Akt der Aneignung. Etwas davon geschieht in den Stadtforschungsprojekten mit dem Märkischen Museum. Die von unterschiedlichen Seiten gepflegten klaren Unterscheidungen zwischen der "eigenen" und der "fremden" Kultur verlieren dabei etwas von ihrer Verbindlichkeit, sie werden hybride. Auch wenn hier noch sehr viel Spielraum ist, die Institution Museum bewegt sich dabei auf die Jugendlichen, auf die Schule zu. Dies passiert nicht aus einer paternalistischen Haltung, sondern weil die Jugendlichen Impulse in das Museum tragen, die für die Institution interessant sind. Es ist ein Vorgang der Ermächtigung, der die bürgerliche Kulturinstitution im Ansatz zu einem Ort einer transkulturellen Erinnerungsgemeinschaft werden lässt.

Remix der Rollen: Künstler, Jugendliche & Lehrende gehen zusammen auf die Bühne

Arien, Beatboxen und Baglama. Oder: Eine Brücke zwischen den Institutionen schlagen. Von der Deutschen Oper Berlin zur Hector-Peterson-Schule und vice versa.

Ausgangspunkt für das Opernprojekt "Give-a-way", eine Kooperation der Hector-Peterson-Schule und der Deutschen Oper Berlin, war die Frage, wie sich eine Kooperation gestalten lässt, die den Schritt des gegenseitigen Austauschs ganz konkret weitergeht. Die also nicht nur in eine Richtung – die Schülerinnen und Schüler kommen in die Kulturinstitution –, sondern auch vice versa verläuft. Als Austausch, bei dem die Schule in die Oper, aber auch die Oper in die Schule geht und die Musikerinnen und Musiker dort musizieren und arbeiten.8 Vereinbart wurde das Musiktheaterstück "Give-a-Way" als ein Auftragswerk der Deutschen Oper Berlin, bei dem Jugendliche, professionelle Künstlerinnen und Künstler sowie Lehrende gemeinsam auf der Bühne stehen. Es wurden dafür drei Abendvorstellungen in der kleinen Spielstätte der Tischlerei mit regulärem Eintritt angesetzt, außerdem eine Vormittagsvorstellung für die Schule.

Wie kann man ein Setting, bei dem Schülerinnen und Schüler, Lehrende und Kunstschaffende zusammen auf der Bühne stehen, so gestalten, dass sich die professionellen Künstlerinnen und Künstler nicht zurücknehmen müssen und doch alle gleichberechtigt nebeneinander bestehen und glänzen können? Wie kann ein Projekt aussehen, in dem zwischen den unterschiedlichen Kulturrealitäten, denen der Oper und denen der Jugendlichen, tatsächlich eine Begegnung stattfindet? "Wenn Bilder und Zugehörigkeiten neu gemischt und überlagert werden, spielen Herkunft, Kultur, Ethnie und Nation weiterhin eine Rolle, sie werden aber umgedeutet, relativiert und erhalten neue Perspektiven", schreiben die Herausgeber von "Bildwelten remixed"9. Wie gestaltet man einen solchen Prozess mit Menschen völlig unterschiedlicher Altersstufen, Herkunft, Profession und sozialer Situation?

Als im Januar 2015 die dreiwöchige Probenphase in der Tischlerei der Oper beginnt, bringen die 25 beteiligten Jugendlichen bereits viel an Material, Themen und Möglichkeiten mit. Dinge, die in der Schule erarbeitet wurden. Vier Monate lang hatte es einen wöchentlichen Projekttag für den gesamten Jahrgang mit 125 Jugendlichen und Werkstätten zu Musik, Tanz, Bühne, Kostüm, Schreiben, Video und Schauspiel gegeben. Sehr schnell entsteht während der Proben bei allen Beteiligten das Gefühl, dass das künstlerische Tun auch eine politische Dimension hat. Die kulturellen Versatzstücke, die die unterschiedlichen Beteiligten aus ihrem Alltagsleben, der Oper, der Jugendkultur mitbringen, werden von der Komponistin und Regisseurin Alexandra Holtsch "gebreakt" und neu zusammengesetzt. Im Laufe der drei Probenwochen entsteht experimentelles Musiktheater, das mit den unterschiedlichsten Klischees jongliert. Arien, Beatboxing und experimentelle Klangkunst kommen zur Aufführung, die Schülerinnen und Schüler feiern zum Liebeslied-Klassiker "Semame" eine türkische Hochzeit, eine Sopranistin gibt die Arie "Casta Diva" aus Bellinis "Norma" zu Gehör, eine Schülerin singt als Popdiva Kutiman. Die gesamte Spannbreite der aufeinandertreffenden unterschiedlichen Künste und Kulturen wird aufgefaltet und miteinander gekreuzt.

Als sich mitten während der Proben die Terroranschläge in Paris auf Charlie Hebdo ereignen, kommt die Frage auf, ob man sich bei einem Stück zum Thema "Teilen" nicht auch mit der Frage befassen müsse, was es heißt, in einem Land verschiedene Religionen miteinander zu teilen. Ein Schüler sagt: "Aber es ist doch das, was wir hier schon mit der Arbeit an diesem Stück tun."

Remixprozesse können dazu beitragen "machtvolle Zuschreibungen und Fremdheitsfixierungen zu überwinden". Die postmigrantischen Jugendlichen sind Experten darin. Ganz selbstverständlich remixen sie, deren alltäglichen Praxen oft weit auseinanderliegen, ihre Lebenswelten. Durch einen sie häufig diskriminierenden Alltag sind sie in Fragen des sozialen wie auch des migrantischen Status hoch sensibilisiert. Sie verstehen sehr genau, wenn sie im Rahmen von Kulturvermittlung zu Objekten und letztlich passiven Empfängern des kulturellen Status quo gemacht werden – und damit "gut gemeint" an und mit ihnen strukturelle Benachteiligung reproduziert wird. Sie begreifen aber umgekehrt ebenso genau, wenn Kulturinstitutionen sich auf einen Austausch einlassen, mit dem sie den Jugendlichen Zugänge zu ihrem symbolischen Material zu deren eigener, freier Nutzung eröffnen.

Ein politischer Akt

So zu verfahren, ist ein politischer Akt. Er bedeutet, Kulturvermittlung von den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler her und im Dialog mit ihnen zu denken.10 "Eine so verstandene Kulturvermittlung", schreibt die Kulturwissenschaftlerin Wanda Wieczorek, "sieht ihre Aufgabe […] weniger in der Vermittlung von Werken und Besitzständen der legitimierten Kultur als im Schaffen von Zugängen zu deren umfangreichem Methodenarsenal, mit dem Selbstrepräsentationen modelliert, Bezüge zur Welt geschaffen und Identifikationen fortwährend hergestellt werden."11 Wieczorek bezieht dies ganz grundsätzlich auf eine neu gedachte Kooperation von Schule und Kulturinstitution. Aber am Ende würden sich bei einer solchen Kooperationspraxis vielleicht alle Sonderfälle von allein auflösen. Und womöglich würde dadurch auch ein transkulturelles Denken selbstverständlicher werden, das mit Globalität und Internationalität nicht nur ein westlich-abendländisches Kulturverständnis meint, sondern sich unter Regie der Jugendlichen frei und verspielt auch stärker an einen Remix mit dem östlich-morgenländischen Kulturverständnissen wagt.

1 Schon damals kippte die Trennlinie der Segregation. Vgl. hierzu Heinz Bude: Gesellschaft der Angst, Hamburg 2014, S. 79: "Gerade auf dem Feld der Bildung [wird] die Segregation nach Einwanderungsgruppen mehr und mehr durch die nach Statusgruppen ersetzt."

2 Skandal im Jahr 2006 um den Brandbrief einer vor den Zuständen in ihrer Schule (Rütli-Schule in Berlin Neukölln) kapitulierenden Lehrerschaft.

3 Vgl. zu Wirkungsabsichten in der kulturellen Bildung: "Über mögliche Zusammenhänge von Kunst (Theater) und Bildung. Constanze Eckert im Gespräch mit Ulrike Hentschel", in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015.

4 Mecheril, Paul: "Kulturell-ästhetische Bildung. Migrationspädagogische Anmerkungen", in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015.

5 Ebd.

6 Vgl. hierzu Lutz-Sterzenbach, Barbara; Schnurr, Ansgar; Wagner, Ernst: "Remix der Bildkultur – Remix der Lebenswelten. Baustellen für eine transkulturelle Kunstpädagogik", in: Dies. (Hg.): Bildwelten remixed. Transkultur, Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern, Bielefeld 2013, S. 15.

7 Auf der einen Seite gilt es, dem Gleichheitsgrundsatz gerecht zu werden, auf der anderen Seite, und das steht zum ersten Grundsatz im Widerspruch, muss auch der Grundsatz der Anerkennung anderer Identitätsentwürfe gelten. "Neben dem Gleichheitsgrundsatz, neben dem Prinzip der Anerkennung von Identitätsentwürfen, muss mithin auch das paradoxe Moment der Anerkennung der Unmöglichkeit der Anerkennung ein Moment allgemeiner Bildung in der Migrationsgesellschaft darstellen." Ebd.

8 Die Komische Oper Berlin hat 2010 ihren Betrieb evaluiert und festgestellt, dass in ihrem internationalen Haus keine Menschen mit einem türkischen oder arabischen Migrationshintergrund arbeiten. Sie hat diesen Missstand als keinen spezifischen, sondern als einen die deutsche Opernlandschaft insgesamt betreffenden postuliert und selbst zur Spielzeit 2011/2012 das komplexe Programm "Selam Opera!" ins Leben gerufen. In diesem Rahmen ist unter anderem die Publikation "Selam Opera! Interkultur im Kulturbetrieb", Leipzig 2014, entstanden.

9 Lutz-Sterzenbach, Barbara; Schnurr, Ansgar; Wagner, Ernst: "Remix der Bildkultur, a. a. O., S. 20.

10 Ebd., S. 260.

11 Vgl. Wieczorek, Wanda: "Was nützt Kulturvermittlung und wem?", in: Hamer, Gunhild (Hg.): Wechselwirkungen. Kulturvermittlung und ihre Effekte, München 2014, S. 261.