Julien Chapuis
Für wen sind wir da? - Das Bode-Museum
Julien Chapuis

Für wen sind wir da? - Das Bode-Museum

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"Museen sind nicht nur Orte der Bildung und des Lernens, sondern sind darüber hinaus Träger gesellschaftlicher Werte, die sie einerseits traditionalisieren (meint mehr als nur erhalten), andererseits aber auch selbst generieren und damit einen Teil der permanenten Konstruktion am gesellschaftlichen Konsens übernehmen. Ein Museum, das sich nicht an den Herausforderungen der gesellschaftlichen Realität orientiert, auf sie reagiert und interveniert, wird früher oder später folgenlos – und damit obsolet."1

Jugendliche erobern die Museumsinsel

Am 22. April 2015 "eroberten" über 900 Schülerinnen und Schüler des Thomas-Mann-Gymnasiums, einer Schule in einer Großwohnsiedlung im Norden Berlins, die Museumsinsel. Ausstellungsräume, die oft mäuschenstill sind, füllten sich an diesem Tag mit Leben. Wegen der zahlreichen Teilnehmenden war die "Eroberung" ein logistischer Kraftakt, der aber durch die respektvolle Haltung der Schülerinnen und Schüler in den Museen leicht bewältigt werden konnte. Am darauffolgenden Tag wurden die Ergebnisse in der Schule präsentiert. Immer wieder wurden Kunstwerke und archäologische Objekte aus 5.000 Jahren und vielerlei Kulturen und Religionen als Ausgangspunkt genutzt, um einen Bezug zur Gegenwart zu schaffen. Unter anderem wurden Heiratsrituale unterschiedlicher Jahrhunderte miteinander verglichen, die Haltungen von Figuren auf griechischen Vasen nachgeahmt und eine byzantinische Ikone des segnenden Christus heutiger kommerzieller und politischer Werbung gegenübergestellt. Solche Konfrontationen wirken oft erstaunlich erfrischend und überzeugend. Viel wichtiger aber ist, dass die Schülerinnen und Schüler stolz auf das waren, was sie erreicht hatten: Sie hatten die Objekte in der Obhut der Museen gedeutet, und sie konnten ihre eigene Sicht formulieren und wahrnehmbar machen. Auf diese Weise waren die Kunstwerke nicht mehr nur Kuriositäten an einem fremden Ort; sie waren Zeugnisse aus der Vergangenheit, mit denen die Jugendlichen sich identifizieren konnten. So wurde ein Band mit den Museen und ihren Inhalten geknüpft.

Die "Eroberung der Museumsinsel" war die Abschlussveranstaltung einer vierjährigen Kooperation zwischen dem Thomas-Mann-Gymnasium und der Bettina-von-Arnim-Schule einerseits und dem Bode-Museum andererseits. Diese Kooperation entstand im Rahmen des Kulturagentenprogramms und wurde von der Kulturagentin Anja Edelmann initiiert und begleitet. Es ist mit Sicherheit so, dass ohne ihre Initiative das Bode-Museum und das Märkische Viertel nie zueinander gefunden hätten. Freilich hätten wir nie gewusst, dass wir das Märkische Viertel brauchen. Jetzt ist dies für uns selbstverständlich.

Das Bode-Museum an der Spitze der Berliner Museumsinsel wurde nach einer mehrjährigen Sanierung 2006 feierlich wiedereröffnet. Neben dem Münzkabinett beherbergt es die Skulpturensammlung und das Museum für Byzantinische Kunst in etwa 65 Ausstellungsräumen. Die öffentlich geförderte Skulpturensammlung ist eine der wichtigsten weltweit und bietet ein enzyklopädisches Panorama der europäischen Bildhauerei von der Spätantike bis ins frühe 19. Jahrhundert. Bei der Wiedereinrichtung 2006 hat man sich für eine sehr sparsame Beschriftung entschieden.

Als Leiter der Skulpturensammlung und des Museums für Byzantinische Kunst ist mir bewusst, dass wir mit den Vermittlungsstrategien, die wir seit der Wiedereröffnung des Bode-Museums praktiziert haben, nicht zufrieden sein können. Das Museum wird hauptsächlich von einem (alternden) Bildungsbürgertum, von interessierten Touristen sowie von Kunstwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern besucht. Eine Identifizierung der Berliner Bevölkerung mit dem Bode-Museum findet kaum statt. Die Inhalte sind für viele Besucherinnen und Besucher unverständlich. Es werden zu wenige Informationen angeboten, und die spärlich vermittelten Inhalte sprechen häufig nur Spezialisten an. An den Wänden der Ausstellungsräume sind Hinweise wie "Italienische Renaissance" zu lesen. Was die Renaissance aber ist, wird nicht erklärt. Wo die Städte liegen, aus denen die Objekte stammen, und wo sich die Renaissance vollzog, wird nicht anhand von Karten erläutert. Darüber hinaus erhalten die Besucherinnen und Besucher keine Möglichkeit, eigene Spuren zu hinterlassen. Man sucht vergebens nach Räumen, in denen die Präsentation etwas spielerischer und weniger ernst ist. Über die Hälfte der ausgestellten Kunstwerke hat eine christliche Thematik, die für viele unzugänglich ist. Dies und die palastähnliche Anmutung des Hauses bewirken, dass insbesondere Jugendliche sich hier nicht willkommen fühlen. Die instinktive Reaktion von vielen ist: "Was habe ich hier zu suchen?"

Im Dialog mit der Jugendkultur

Warum sollte ein traditionsreiches Museum wie das Bode-Museum sich überhaupt anstrengen, jüngere Generationen anzusprechen?

Der erste Grund ist pragmatischer Art und hat mit dem Überleben der Institution zu tun. Museen stehen am Scheideweg. Entweder gelingt es ihnen, Jugendliche zu begeistern und für sie relevant zu werden, oder es droht ihnen die Schließung. Im Hinblick auf sinkende Besucherzahlen wird die Gesellschaft – auch in Deutschland – allmählich hinterfragen, warum so viele öffentliche Gelder Institutionen zufließen, die nur ein Bruchteil der Bevölkerung wahrnimmt. Diese Entwicklung ist bereits in mehreren europäischen Ländern wie Großbritannien und Österreich weit fortgeschritten. Hier werden finanzielle Mittel nach der empfundenen gesellschaftlichen Relevanz an die jeweiligen Institutionen verteilt. Ähnlich verhält es sich in den Niederlanden, wo inzwischen das Amsterdamer Rijksmuseum den Löwenanteil der öffentlichen Zuwendungen erhält, während das Tropenmuseum in der gleichen Stadt kaum noch staatlich unterstützt wird.

Der zweite Grund ist idealistischer Art und kann mit einem Satz zusammengefasst werden: Der Umgang mit Kunst bereichert das Leben. Museen sind Orte, in denen man sich wiedererkennt, über die Vergangenheit und die Gegenwart nachdenkt, etwas über fremde Zeiten und Kulturen erfährt und spüren kann, dass selbst ein Individuum in Berlin des 21. Jahrhunderts Gemeinsamkeiten und Verbindungen mit diversen Kulturen und Epochen hat. Die Objekte im Bode-Museum stammen aus verschiedenen Gegenden Europas und des Mittelmeerraums. Sie umspannen einen Zeitraum von 15 Jahrhunderten und umfassen das gesamte Spektrum an menschlichen Erfahrungen, Hoffnungen, Ängsten, Bedürfnissen und Begierden. Außerdem verdeutlichen sie, dass es durch die Geschichte und über Kulturgrenzen hinweg Konstanten gibt. Ein Kugelspiel des 6. Jahrhunderts aus dem Hippodrom in Konstantinopel veranschaulicht, dass in der Antike, wie heute, Spielsucht das Überleben einer Familie bedrohen konnte. Liest man die Bibel oder Shakespeare, wird offensichtlich, welch traumatisches Ereignis der Tod eines Kindes ist – unabhängig vom Jahrhundert oder von der Kultur. Ebenso zeigt eine Pietà aus dem 15. Jahrhundert erstaunliche Parallelen zu Bildern aus der jüngeren Berichterstattung über die Krisengebiete im Nahen Osten, in denen Eltern um ihre toten Kinder trauern. Eine gotische Schutzmantelmadonna aus Süddeutschland regt zu einer Diskussion über das universelle Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit an, aber auch über Ängste und vermeintliche Gefahren. Die leichtfüßige Tänzerin von Canova erinnert uns an Zeiten, in denen wir uns sorglos und frei fühlen. Mit anderen Worten: Die Sammlungen des Bode-Museums eignen sich hervorragend als Ausgangspunkt für Reflexionen, Gespräche, Interventionen und Veranstaltungen zu Themen, die auch heute für Jugendliche hochrelevant sind, und die von ihnen mitgestaltet werden.

Verschiedene Projekte der letzten Jahre haben gezeigt, dass Jugendliche sich sehr wohl für die Inhalte des Bode-Museums interessieren können und sogar, dass eine emotionale Bindung ihrerseits möglich ist. Die "Eroberung der Museumsinsel" ist nur das jüngste Beispiel. Im Rahmen des Kulturagentenprogramms haben das Thomas-Mann-Gymnasium und die Bettina-von-Arnim-Schule im Jahr 2013 das Bode-Museum zu ihrem "Haus-Museum" erklärt. Ein Jahr zuvor haben zwei Schulgruppen aus dem Wedding und aus Weißensee die Sammlungen des Museums durch das Prisma ihrer Gefühle erkundet – wiederum eine Initiative der Kulturagentin Anja Edelmann. Voraussetzung für den Erfolg dieser Projekte war, dass es sich um eine wiederholte Aktivität innerhalb des Museums handelte und nicht nur um eine einmalige "Führung" im traditionellen Sinn. Die Wahrnehmungen und Empfindungen der Jugendlichen wurden ernst genommen, und ihre Arbeit durch Performances, Aktionen, und Ausstellungen im Museum selbst sichtbar gemacht und anerkannt. In beiden Fällen hat das Museum die Familien und Freunde der Teilnehmenden zu einem Festakt eingeladen. Die Jugendlichen haben durch das Museum geführt und wurden so zu "Expertinnen und Experten" innerhalb der Familie und des Freundeskreises. Ganz gleich, ob Schülerinnen und Schüler sich in einer choreografischen Performance zu Statuen des Bode-Museums verwandelten, ob sie das Verhältnis von Licht und Schatten auf Skulpturen fotografisch untersuchten und ihre Arbeit ausstellten oder ob sie die Kunstwerke zum Ausgangspunkt neuer Erzählungen machten: Ihre Aktivitäten erlaubten eine neue Sicht auf das Museum und seine Sammlungen, und diese Sicht war nicht die der Institution, sondern die eines Teils ihres Publikums. Die Arbeit der Jugendlichen wurde in den prachtvollen Räumen des Museums vor Familien und Freunden gewürdigt, was ihr Ansehen steigerte. Das Bode-Museum wurde für Schülerinnen und Schüler und ihre Familien zu einem wertschöpfenden Ort. Die meisten von ihnen waren nie zuvor hier gewesen. Empfanden sie den Ort zuerst als "befremdend", so fühlten sie sich nun dem Haus verbunden.

Eine These könnte lauten: Eine rein affirmative Vermittlung führt zur Entfremdung und Ausgrenzung; umgekehrt ermöglicht eine partizipative Vermittlungsarbeit eine Identifizierung mit dem Museum, auch bei Zielgruppen wie Jugendlichen, die vorher kaum im Museum vertreten waren.

Kooperation der Berliner Bettina-von-Arnim-Schule und des Thomas-Mann-Gymnasiums mit dem Bode-Museum
Foto: Sigrid Otto

Paradigmenwechsel: Partizipative Vermittlung

Wie soll und kann eine partizipative Vermittlung in einem Museum wie dem Bode-Museum aussehen, die gezielt die Bedürfnisse von Jugendlichen berücksichtigt? Welche Änderungen müssen sowohl in den Ausstellungsräumen als auch in der Struktur und in der Mentalität der Institution stattfinden?

Als Erstes muss die hohe Bedeutung der Vermittlung für das Museum sichtbar gemacht werden und dies von dem Moment an, in dem die Besucherinnen und Besucher das Haus betreten. Bereits im Eingangsbereich sollte die Vermittlung thematisiert werden. Räumlichkeiten müssen für die Vermittlungsarbeit zur Verfügung gestellt werden, auch im Ausstellungsbereich. In der ständigen Ausstellung sind Interventionen erwünscht.

Den Jugendlichen sollte die Möglichkeit gegeben werden, das Museum mitzugestalten. Dies kann in verschiedenen Formaten umgesetzt werden. In den für diesen Zweck bereitgestellten Räumen können sie Präsentationen einrichten, sowohl mit ihren eigenen Arbeiten als auch mit den Werken oder bezogen auf die Werke aus der Sammlung. Zum Beispiel könnte man die gotische Pietà dem Bild eines syrischen Vaters, der um sein totes Kind trauert, gegenüberstellen. Es ist auch vorstellbar, dass Jugendliche ein Thema anhand von Exponaten im Museum erörtern. Ihre Gedanken können dann über ein flexibles Beschriftungssystem integriert werden und so von allen Besucherinnen und Besuchern in den verschiedenen Ausstellungsräumen gelesen werden. Wünschenswert ist außerdem, dass Jugendliche Audioführungen gestalten und Inhalte für die Homepage des Museums beisteuern, die dann als ihr Beitrag erkennbar sind. Eine Ausstattung des Museums mit WLAN ist eine nötige Voraussetzung, damit Jugendliche über virtuelle Plattformen Spuren hinterlassen, ihre Geschichten erzählen und Veranstaltungen organisieren können. Wir sollten es wagen, gelegentlich die Kontrolle innerhalb des Museums anderen zu überlassen.

Die Wichtigkeit der Vermittlung muss sich im Personalbereich widerspiegeln, in dem immer noch ein dramatisches Ungleichgewicht zu sehen ist. Bei Stellenneubesetzungen, insbesondere bei Kuratoren, ist die Bereitschaft zur Mitarbeit an der Vermittlung unabdingbar. Mittelfristig ist es denkbar, dass kuratorische Bereiche zusammengelegt werden, um neue Stellen für die Vermittlung zu schaffen. Dringend wünschenswert ist die Einrichtung von Stellen für "Kuratoren für Vermittlung", deren Verantwortungsbereich dem der anderen Kuratoren gleichgestellt ist und die den "Vermittlungsauftritt" (Art und Qualität der Beschriftungen, besucherfreundliche Präsentationen, Logik der angebotenen Informationen) koordinieren.

Wir müssen bereit sein, Neues im Museum zu erproben und Risiken einzugehen. Beispielweise könnten abends Konzerte und Veranstaltungen für und von Jugendlichen organisiert werden. Moderne Skulpturen "zum Anfassen" könnten in die Präsentation integriert werden. Das Informationsangebot innerhalb der Ausstellungsräume würde zum Beispiel durch interaktive Landkarten und Aufnahmen von Orten und Gebäuden, aus denen die Kunstwerke stammen, deutlich erhöht. Es könnten Bildhauerkurse stattfinden. Diese Liste ließe sich selbstverständlich noch erweitern.

Unsere Beteiligung am Kulturagentenprogramm hat den Anstoß für eine Mentalitätsänderung im Bode-Museum gegeben, die sich langsam aber spürbar vollzieht. In unserem Selbstverständnis wird daher die Frage "Wer sind wir?" allmählich durch eine andere ersetzt: "Für wen sind wir da?"

1 Grünewald Steiger, Andreas: "Der ,Bildungsauftrag" des Museums. Veränderte Aufgaben, erweiterte Herausforderungen", Wolfenbüttel 2006, S. 1; online: www.bundesakademie.de/pdf/bildungsauftrag_des_museums.pdf [30.04.2015].