Kristin Haug
Berlin: Die Kostbarkeit des eigenen Seins
Kristin Haug

Berlin: Die Kostbarkeit des eigenen Seins

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Seit 2011 nehmen 138 Schulen aus den Bundesländern Baden-Württemberg, Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Thüringen am Modellprogramm "Kulturagenten für kreative Schulen" teil. 46 Kulturagentinnen und Kulturagenten arbeiten daran, kulturelle Bildungsangebote in den Schulen zu verankern. An der Alfred-Nobel-Schule in Berlin zeigen Lehrer wie Franca Sferlazza, dass das Kulturagentenprogramm im Unterricht angekommen ist. Kulturagent Thanassis Kalaitzis schätzt ihr Engagement und sagt, er habe sein Ziel erreicht, wenn er langfristig die Strukturen an Schulen verändern könnte.

Sie arbeiten immer gemeinsam. Seite an Seite. Nur so, sagen sie, könnten sie Schüler und Studenten gut betreuen. Anna Faroqhi und Haim Peretz geben Kunst- und Filmkurse an Schulen und Universitäten. Zusammenarbeiten, das mache mehr Spaß, sagt Faroqhi. Und Filme könne man ohnehin nicht alleine drehen. An diesem Montagmorgen sind sie an der Alfred-Nobel-Schule in Berlin im Einsatz. Gerade hat das neue Schuljahr begonnen und die Klasse, in der sie einen Kurs geben, wurde frisch zusammengestellt.

Das Besondere an der Klasse: Die Schüler haben italienische Eltern und sind zweisprachig aufgewachsen. Auch der Unterricht findet zweisprachig statt. Die Fächer Italienisch, Englisch, Biologie, Kunst, Erdkunde und Geschichte werden auf Italienisch unterrichtet. Sport, Mathe und Chemie auf Deutsch gelehrt.

An diesem Tag sitzen Dario, Gioia, Alexandra und ihre Mitschüler an Tischen und versuchen ihr Leben auf Papier zu bringen. Sie haben Buntstifte, Bleistifte und Filzstifte vor sich liegen und eine Art Tagebuch. Fast alle Seiten sind noch weiß. Nur den Einband haben sie schon mit buntem Papier beklebt. Dario etwa hat sich für ein Motiv mit Fischen entschieden, weil "die Tiere immer so friedlich im Wasser schwimmen und niemandem etwas zu leide tun." Auf den ersten Seiten des Buches haben die Elf- und Zwölfjährigen sich selbst gezeichnet, ihren Schulweg und ihr Zimmer samt Kuscheltieren, Pflanzen und Computer. Nun zeichnen sie ihre Eltern. Dafür haben sie alte Fotos von ihnen, etwa von der Hochzeit, mitgebracht.

Wie ist das eigene Leben bislang verlaufen?

Den Kurs den Anna Faroqhi und Haim Peretz geben, beruht auf dem Modell der "Ästhetischen Forschung". Es geht darum, seine familiären Wurzeln künstlerisch aufzuspüren. Wo kommt man her? Woher stammen die Eltern? Wo haben sie einmal gewohnt? Wie sah ihr Umfeld aus? Wie haben sie geheiratet? Ziel der "Ästhetischen Forschung" ist es, nachzufragen, wie das eigene Leben bislang verlaufen ist und mit welchen ästhetisch-künstlerischen Strategien es sichtbar gemacht werden kann. Deshalb beantworten die Schüler ihre Fragen nicht mit Worten oder Texten, sondern mit Bildern. Sie basteln Collagen und sie zeichnen.

Kulturagent Thanassis Kalaitzis sagt, das Projekt sei zustande gekommen, weil die Lehrerin der Klasse, Franca Sferlazza, sich so dafür engagiert habe. Sie hatte die Künstler schon bei einem anderen Projekt kennengelernt und war begeistert von ihnen. "Gute Künstler erkennt man an ihrer kindlichen Ader", sagt sie. "Anna und Haim haben ein großes fachliches Wissen, aber reden so mit den Kindern, als wären sie ihre großen Freunde. Mit Humor und sehr offen." Die Lehrerin schätzt, dass Faroqhi und Peretz zusammen arbeiten, denn auf diese Weise laufe der Kurs sehr familiär ab und jedes Kind bekäme genug Aufmerksamkeit.

Das ganze Schuljahr über wird der Kurs gehen, sodass die Kinder viel Zeit haben, in ihrer Familiengeschichte zu recherchieren, aber auch das künstlerische Handwerk lernen zu können. "Die Lehrerin hat den Anspruch, dieser Klasse andere Lernformen und Entwicklungschancen einzuräumen", sagt Kalaitzis. Sie will ihnen die Chance geben, als Klasse schnell zueinander zu finden. Es sei, der richtige Weg, zu fragen, wie man bildende Kunst einsetzen könne, damit eine Klasse einen Fortschritt mache.

Am Anfang seiner Arbeit hat Kalaitzis viele Impulse gesetzt, einen Runden Tisch ins Leben gerufen, Gesamtkonferenzen besucht und den Lehrern Fragen gestellt: Wie wäre es, wenn...? Könnten Sie sich vorstellen, dass...? Wäre für das Thema nicht folgendes vorstellbar? Um mit ihnen kulturelle Projekte an den Schulen verwirklichen zu können, stellte er den Lehrern auch infrage kommende Künstler vor. Kalaitzis fragte, ob sich die Lehrer nicht einmal die Homepage der Künstler anschauen, ob sie nicht deren Ausstellungen besuchen wollten oder ob er sie nicht einmal in die Schule einladen solle.

Kulturagent Thanassis Kalaitzis

"Das Mysterium der künstlerischen Welt entblättert sich"

"Schon nach dem ersten Jahr bin ich in der strategischen Planung unendlich besser geworden", sagt der Kulturagent. "Ich konnte schneller zwischen Künstlern und Lehrern vermitteln, sicherer und schneller Anträge vorbereiten und Künstlerkontakte herstellen." Wenn man die Parteien einmal zusammengebracht habe, dann komme man schneller zu Ergebnissen oder Entscheidungen. Auch wenn man manchmal zwischen getakteten Stunden und künstlerischer Freiheit einen Mittelweg finden müsse. "Doch da ist oft schon nach dem ersten Verhandlungstag ein Bewusstsein dafür da, dass Künstler anders arbeiten als Lehrer. Das Mysterium der künstlerischen Welt entblättert sich." Man müsse einfach einmal durchspielen, dass einige Bereiche dem Künstler und andere dem Lehrer überlassen bleiben.

Kalaitzis" Resonanz nach zwei Jahren: Die Arbeit macht Spaß, vor allem wenn die Erfolge sichtbar werden, wenn Lehrer zum Beispiel Räume für Kunstprojekte vorbereiten oder sich das Klima in einer Klasse durch ein künstlerisches Projekt verbessert hat. "Die Kinder gewinnen durch Kunstprojekte an Selbstbewusstsein, weil dadurch neue Talente aufgedeckt werden, auf die sie stolz sein können."

Künstlerin Anna Faroqhi mit Schülern.
Fotos: Kristin Haug

Der Kulturagent sagt, er habe sein Ziel erreicht, wenn sich auch langfristig etwas in den Schulen ändere, wenn es jedes Jahr etwa eine Ausstellung mit Arbeiten aus den Klassen oder ein Tanz- oder Theaterstück gebe oder wenn im Biologie-Unterricht eine DNA aus Recyclingmaterialien oder eine Zelle aus Styropor entwickelt werden würde.

Anna Faroqhi, die Künstlerin, die mit ihrem Mann das Projekt in der siebten Klasse betreut, sagt: "Wir wollen, dass die Schüler ihre eigene Person zum Zentrum der Forschung nehmen und die Kostbarkeit des eigenen Seins erfahren." Es sei das erste Mal, dass sie mit einer Gruppe von Schülern ein ganzes Jahr arbeiten könnten. "Jetzt kann man wirklich zeichnerische Fähigkeiten weiter entwickeln." Viele Kinder hätten in diesem Alter bereits aufgehört zu zeichnen. Es sei deswegen gut, verschiedene Möglichkeiten auszuprobieren, wie man was auf Papier bringen könne.

In die Zukunft aber blickt sie mit Skepsis. "Das Kulturagentenprogramm ist eine sehr gute Idee. Wenn ich höre, dass es aber nach vier Jahren aufhören wird, dann ist das problematisch." Einzelne Künstler würden dann vielleicht eher nach hinten gedrängt, weil niemand zwischen ihnen und den Schulen vermittle. "Ich habe Angst, dass wir dann verloren gehen." Die Lehrer hätten kaum Zeit, sich neben dem Unterricht um extra Projekte zu kümmern.

Kulturagent Kalaitzis sieht das anders: Es handle sich schließlich um ein Modellprogramm, bei dem Lehrern gezeigt werde, wie Kunst an Schulen kommen könnte. In Zukunft wolle er den Lehrern deshalb auch ans Herz legen, selbst Projektanträge zu schreiben, und um Fördergelder zu werben. Franca Sferlazza sei das beste Beispiel, dass ein guter Anfang gemacht ist. Jetzt geht es erst richtig los.