Birgitta Heller
„Traurig sein ist leerer Mann“
Birgitta Heller

„Traurig sein ist leerer Mann“

Ich glaube, dass die Kunst wenig Worte braucht. Spürbar, erlebbar, fühlbar ist sie.      

Erst wenn wir uns über Kunst austauschen, brauchen wir Begriffe als Werkzeug.

Also haben wir es mit zwei ganz verschiedenen Situationen zu tun.

Dieser Text lädt zum Innehalten und zum Fragenstellen ein. Wann passiert was?

Wie begegnen wir Kunst? Wann benötigen wir Worte? Und welche Begriffe nutzen wir?

Wer legt sie fest? Und wie finden sich neue Bezüge?

Wie machen wir das gemeinsam?

 

Heute gehen wir Kunst gucken

Am Anfang meiner Tätigkeit als Kulturagentin gelang es mir, mit viel Vorbereitung und Überredungskunst eine Kunstklasse ins Museum zu lotsen. Ich war froh, diese Exkursion endlich angestoßen zu haben, und machte mich mit der Lehrerin und den Jugendlichen auf den Weg. Ein ausführlicher Museumsgang mit Führung und nachfolgendem Workshop war geplant.

Der Nachmittag war für mich eine Offenbarung. Ja – der Museumspädagoge hielt einen klassischen Vortrag und gab viel kundige Information: Er gebrauchte viele schöne Worte und hatte ein großes Wissen. Und ja – er sprach in gelangweilte Gesichter, und in den weiten Räumen des Museums verblieben viele unbeantwortete, weil nicht gestellte Fragen. Der sich anschließende Workshop mit 20 Schülerinnen und Schülern war eine eineinhalbstündige Materialschlacht aus Styropor, Kleber und Draht in einem kleinen Raum, laut und albern.

Was war das denn?

Wir hatten viel zu wenig Zeit, um an diesem nicht alltäglichen Ort anzukommen. Niemand von uns konnte die Räume und die darin installierten Arbeiten wirklich erfassen. Es gab keine Möglichkeit, etwas sinnlich zu begreifen oder zu erfühlen. Es wurde für alles eine Begründung geliefert, ohne dass es einen Raum gab, in dem eine Frage auch nur im Ansatz hätte entstehen können. Niemand hat etwas empfunden, hinterfragt, begriffen oder mitgenommen – das war nicht nur mein Eindruck, sondern auch Konsens unter der Schülerschaft.

 

Das war ja ganz cool da – aber …

Im folgenden Szenario stelle ich mir vor, wie unser Museumsbesuch optimalerweise abgelaufen wäre: Wir kommen am Museum an und werden von einem Museumspädagogen herzlich begrüßt. Die Schülerinnen und Schüler haben zunächst Zeit, sich die Räume alleine anzusehen, sich eine Arbeit auszusuchen und darüber ein paar Zeilen zu schreiben. Sie formulieren dabei ihre eigenen Gedanken und Fragen. Anschließend suchen sie im umliegenden Garten nach den gerade wahrgenommenen Formen, denn die Ausstellung beschäftigte sich mit der Darstellung pflanzlicher Strukturen. Danach erst folgt der Rundgang mit dem Museumspädagogen, bei dem sich alle Schülerinnen und Schüler gegenseitig ihre Eindrücke und die im Garten gefundenen Objekte vorstellen und beschreiben.

Der Museumspädagoge ist Moderator für das Gespräch der Kinder, stellt geschickt Fragen und ermutigt zur Schilderung ihrer Beobachtungen. Seine Vermittlungsarbeit ist für alle eine Bereicherung, denn die Kunstwerke wirken zwar zunächst ohne Worte, aber die bezugnehmenden Informationen, die nun folgen, vertiefen und klären die eigenen Eindrücke und Erkenntnisse. Das ein oder andere Kunstwerk wird nochmals wahrgenommen – es wird klar, wie unterschiedlich die Rezeption ausfallen kann – oder auch wie ähnlich. Und vielleicht wird auch der künstlerische Ansatz, der Weg zum Kunstwerk, die Intention des Künstlers deutlicher und spürbarer. Oder – auch gut – es ergeben sich neue Fragen. In einem derartigen Ablauf trauen sich alle, ihren persönlichen Eindruck in eigene Worte zu fassen, und nehmen die anschließenden Informationen des Museumspädagogen ganz anders wahr.

Eine solche Kunstvermittlung als Anleitung zu einer sinnlich-emotionalen Erfahrung habe ich in meiner Arbeit als Kulturagentin leider nicht oft erlebt. Als würde den gezeigten Objekten keine eigenständige Aussage zugetraut. Eine interaktive Rezeption von Kunst bedeutet für mich das Wagnis eines "passiven" und damit oft wortlosen künstlerischen Prozesses, der mit dem Schauen und Fühlen beginnt, sich durch das Entstehen von Fragen und Begreifen individualisiert und letztendlich das Kunstobjekt zu einer ganz subjektiven Botschaft für die Betrachterinnen und Betrachter werden lässt. Ich glaube, es bedarf oft keiner Begriffe, um zu sehen, zu fühlen, sich in ein Szenario und in einen Raum einzufügen. Wenn man die Schülerinnen und Schüler lässt, wird jede/jeder ihre/seine eigenen Bezüge suchen und finden.

Erst dann, wenn die individuell erspürten Botschaften miteinander ausgetauscht und abgeglichen werden sollen, braucht es Begrifflichkeiten, um einander das Erlebte zu schildern.

Was soll ich denn jetzt sagen?

Wie aber kann der Versuch, den individuellen Eindruck in eigene Worte zu fassen und ihn so persönlich wie möglich zu formulieren moderiert werden? Gut ist es, sich zunächst über die Begriffe klar zu werden, die wir verwenden, wenn wir mit Schülerinnen und Schülern über Theaterstücke, Literatur und Kunst sprechen. Es sind oft solche, deren Bedeutung für Schülerinnen und Schüler möglicherweise fremd oder völlig anders ist, weil es bis dato, also bis zum Theater- und Museumsbesuch, noch gar keinen Zugang zu diesen Begrifflichkeiten gegeben hatte. Wir sollten also beginnen, die eigenen Begrifflichkeiten zu hinterfragen. Erreichen wir damit unsere Gesprächspartner? Sind sie verständlich und in ihrer Bedeutung bekannt?

Begriffe beinhalten meist bereits Wertungen und Deutungen und ermöglichen den Betrachterinnen und Betrachtern häufig keinen individuellen Zugang, sondern prägen und verengen den Rezeptionsprozess. Völlig überfordert von der neuen Räumlichkeit, der besonderen Situation – "Wir sind jetzt im Museum, und da benimmt man sich so" – sind die Jugendlichen meist nur beschränkt aufnahmefähig für das Gezeigte und schon gar nicht für doziertes Wissen.

Wie könnte also die Wahrnehmung und anschließende Begriffsbildung angeregt werden?

Ist doch voll peinlich!

Die Kunst verhandelt meist Emotionen und die großen Themen der Menschheit. So bietet sie einen möglichen Zugang, über Emotionen im schulischen Umfeld in Austausch zu treten, ein Umfeld, das, so meine Erfahrung, oft wenig Raum dafür zulässt. Denn Gefühle und Gedanken müssen in der Schule notwendigerweise in Worte gefasst werden, damit sie zu einer Erkenntnis und zu einem Wissen führen, das in der Schule abgefragt werden kann. Dennoch bleibt die Frage, wie nun auf einmal eine so andere, die Sinne ansprechende und aus der emotionalen Wahrnehmung kommende Didaktik erfolgreich gelingen könnte?

Weiter gefragt und diesem Ansatz folgend: Wie entsteht dann im weiteren Verlauf die Fähigkeit zur Abstraktion, zum Querdenken, zum individualisierten Sehen und Begreifen? Und damit die Möglichkeit zu ganz neuen Interpretationen und Zusammenhängen?

"Zwischenmenschliche Kommunikation geht stets mit Sinnbrüchen einher statt mit fixen Inhalten." (Alexander Henschel)

Kann ich sagen, was ich meine?

Sinnbrüche brauchen Raum. Sie sollten willkommen sein. Es muss Platz für den "Nichtsinn" geben. Für die Verdrehung, die bewusste Verstörung der Begriffe. Fixe Inhalte wollen hinterfragt werden! Das kann lästig, respektlos und aufständisch anmuten. Das darf und muss dann so sein dürfen.

Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann Abstraktion geschehen und gelingen. Der Vorgang der Abstraktion ist für mich eine wesentliche Voraussetzung für die Verarbeitung von Inhalten in künstlerischen Prozessen. Die Erweiterung von Begrifflichkeiten, Sinn und Aussage anders zu sehen und aufzufassen, kann wiederum die Initialisierung von kreativen Prozessen sein.

Was sollen wir denn da machen?

Der künstlerische Prozess beginnt selten mit Worten! Bisher habe ich über das Betrachten und Erleben von Kunst und Kultur gesprochen. Wie wirken sich aber die Überlegungen von Alexander Henschel aus, wenn sie auf den eigenen kreativen Prozess übertragen werden?

Im Museum stellte ich während der Diskussion über die Verbildlichung von Gefühlen die Frage, wie denn "traurig sein" mit anderen Worten ausgedrückt werden könnte. Nach minutenlangem Nachdenken antwortete ein 13-jähriger Schüler: "Traurig sein ist leerer Mann." Was für eine Abstraktion, die dem Schüler in der Findung dieses Satzes gelungen ist! Er hat versucht, den emotionalen Begriff der Traurigkeit für sich zu erfühlen, und dabei den Zusammenhang zu einem anderen Bild, einer Beschreibung hergestellt. Er hat also einen bestehenden, viel genutzten Begriff mit einem individuellen Erlebnis verbunden, ihn sich dadurch angeeignet und in einem eigenen Bild individualisiert.

Auf diese Weise entsteht der kreative Prozess des Abstrahierens und des Neudefinierens – was Reflexion und Imagination voraussetzt. Vielleicht hat der Schüler durch diesen Vorgang des Neu-Beschreibens einen individuellen Zugang zu einem Gefühl gefunden? Er hat ein Bild kreiert, seiner inneren Wirklichkeit eine neue Definition gegeben, die beim Zuhörer auf eine entsprechend individuelle Rezeption trifft. Entstanden ist ein literarisch anmutender Satz von poetischer Kraft.

Hab" die anderen mal ganz anders gesehen

Für mich beginnt mit diesen transformativen Prozessen die künstlerische Arbeit, die wir mit Schülerinnen und Schülern unternehmen können. Es entsteht eine künstlerische Idee, aus der sich ein Tun entwickelt. Übersetzungen von Begriffen in Körper, Bild, Klang und kreativen Ausdruck regen diese Prozesse an und öffnen für neue Ansichten, Auffassungen und Umsetzungen, völlig unabhängig davon, in welchem künstlerischen Genre gearbeitet wird. Das schafft oft einen vorher nicht möglichen Perspektivwechsel: Ein Begriff verändert und erweitert seine Zuordnungen, und damit ändert sich auch die eigene Einstellung zum jeweils verhandelten Thema. Ein bewusster und anders nicht möglicher Zugang zum eigenen emotionalen Ich wird möglich, und die Erkenntnis des Abgleichs mit der Auffassung und Deutung der anderen, also das Begreifen von Diversität in der Auslegung, wird erlebt. Wie steige ich in die andere Auffassung ein, finde einen gemeinsamen Weg? Wie finde ich einen gemeinsamen künstlerischen Ausdruck?

Ich denke das aber so

Die Beschreibung von Erkenntnis und Wissen in neuen Bezügen

Künftig möchte ich verstärkt die Aspekte Rhythmus und Sprache aufgreifen. Besonders: "Das Ich braucht Anderes, um Wissen über sich selbst zu erlangen, braucht Erfahrungen mit Gegenständen und mit anderen Menschen, um sich selbst abzugrenzen und durch Abgrenzung zu sich selbst zu finden." (Alexander Henschel)

Vermischen sich Begriffe mit verschiedenen eigenen und anderen Befindlichkeiten, können neue Auslegungen und Bezüge entstehen. Insofern lotet die künstlerische Arbeit mit konkret gefassten Vorgaben die ganze Fülle von diversen Zuständen, Meinungen und Stellungnahmen aus – in der Erfahrung von Vielfalt und unbedingter Individualität kann man das Erleben von Toleranz und Rezeption des anderen erarbeiten.

"Der Gegenstand ist für mich niemals derselbe wie für jemand anderen. Ich nehme den Gegenstand in leicht verschobener Weise wahr als ihn andere wahrnehmen. Das heißt aber, dass der Gegenstand nicht zu jedem Zeitpunkt mit sich identisch, sondern in seiner Identität gebrochen ist. Vermittlung durch Wahrnehmung verändert den Gegenstand, bringt ihn in Bewegung. Wird von einem Gegenstand erwartet, fix und unmittelbar verfügbar zu sein und/oder wird von einem Adressaten erwartet, Wissen unkritisch und unverfälscht gleich einem Gefäß aufzunehmen, dann kann auch durch jedwede Vermittlung nicht gewonnen werden, was schon vorher verloren ging: Beweglichkeit." (Alexander Henschel)

Wenn allen Beteiligten klar wird, dass jede Betrachtung von Kunst, jede Verwendung von Begriffen IMMER individuell sein muss, ist eine wichtige Basis für ein gutes Miteinander erreicht. Das schafft Verständnis füreinander, hinterfragt die eigene Deutungsmacht und derer, die verfügbare Begriffe definieren und für ihre eigene Auslegung in Anspruch nehmen. Besonders in der Zusammenarbeit von jungen Menschen und anleitenden Personen führt die Verhandlung über die Deutungsmacht der Begriffe nicht selten zu erheblichen Spannungen und Schwierigkeiten in der Kommunikation. Was die gemeinsame Rezeption von Kunst oder gar die Einlassung auf einen künstlerischen Prozess fast unmöglich machen kann.

Ja doch, hat mir was gebracht!

Mut zur Abstraktion

Will man also eine größtmögliche Freiheit bei der Findung von neuen Bezügen anbieten, sollte die eigene Erwartungsdefinition aus der Beschreibung herausgehalten werden. Das bedeutet ein Umdenken im schulischen Umfeld. Vermittlung bedeutet Befeuerung und Ermutigung zur Individualität, bleibt beweglich und bedarf der Herstellung eines kreativen Klimas, in dem hierarchiefrei jegliche Begriffsauslegung möglich ist. Eine moderierte und freie interaktive Begegnung mit künstlerischen Inhalten gibt jeder Schülerin/jedem Schüler die Möglichkeit, das Gesehene und Erlebte für sich zu verarbeiten und auszuwerten und selbst Impulse für eigenes schöpferisches Arbeiten zu erhalten und zu nutzen.

 

Die Voraussetzungen dafür sind gegeben, wenn

  • es auf Fragen nicht sofort eine Antwort gibt, sondern eine Gegenfrage gestellt wird.
  • der Vermittelnde selbst die Position des Fragenden und zunächst nicht Wissenden einnimmt.
  • es keine Fehler und keine Bewertung gibt.
  • Zeit vorhanden ist.
  • Methoden eingesetzt werden, die zur aktiven Beteiligung und Neugier verlocken.
  • es einen Freiraum gibt, in dem auf Augenhöhe zwischen Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern kommuniziert werden kann.

 

Haben wir doch einfach mehr Mut, auf das individuelle Empfinden, Suchen und Erleben der Schülerinnen und Schüler zu vertrauen. Und zeigen wir selbst mehr Offenheit in unserem eigenen Erleben. Lassen wir der Kunst mehr Wirkung durch weniger Worte. Schaffen wir einen Raum, in dem die Freiheit der individuellen Auffassung auf Augenhöhe mit allen Beteiligten möglich und gewünscht ist. Dann kann die Begegnung mit Kunst und Kultur für Jugendliche, Lehrkräfte, Kunstschaffende und Kunstpädagogen und -pädagoginnen immer wieder unglaublich spannend, erkenntnisoffen und bereichernd sein.