Anne Krause
„Hallo! Ich spiele hier die Lehrerin.“
Anne Krause

„Hallo! Ich spiele hier die Lehrerin.“

Beobachtungen aus der Kulturagentinnenpraxis

Projekte1 kultureller Bildung in Schule sollten idealerweise die dort tätigen Pädagoginnen und Pädagogen so involvieren, dass auch sie ihre fachliche Perspektive einbringen und weiter entwickeln können. Ist dies nicht der Fall, besteht die Gefahr, dass die Projekte keinen Bezug zum schulischen Alltag haben und insofern nicht auf diesen zurückwirken. Deshalb ist in meiner Tätigkeit als Kulturagentin die Zusammenarbeit zwischen den erwachsenen Beteiligten (Künstlerin/Künstler und Pädagogin/Pädagoge) für mich von besonderem Interesse. Denn schließlich sind sie es, die mit den Schülerinnen und Schülern Projekte umsetzen.

Gesellschaftlich gesehen, scheinen die Rollen im Zusammenwirken verschiedener Professionen im schulischen Umfeld allerdings klar verteilt, wie Ute Pinkert in ihrem Text zum Schlüsselbegriff der Kreativität anschaulich beschreibt:

"In deren Zentrum [der allgemein gültigen gesellschaftlichen Werte, AK] stehen die Abwertung von Routinen (wie sie oft der Schule zugeschrieben werden) und die Aufwertung von individuellen Fähigkeiten, das Gegebene permanent infrage zu stellen und in dynamischer Weise Neues zu produzieren."2

Und weiter:
"Da dieses aus einer inneren Motivation heraus gespeiste "Schöpfertum" in unserer Kultur traditionell den künstlerisch Tätigen zugeschrieben wird, gelten Künstlerinnen und Künstler als ideale Rollenvorbilder für die Ausbildung von Kreativität. Ihre Wertschätzung als Vermittlerinnen und Vermittler innerhalb der kulturellen Bildung geht mit einer strukturellen Abwertung von (angestellten/verbeamteten) Lehrpersonen einher."3

Im Folgenden möchte ich zwei Projekte beschreiben, in denen diese allgemein vorherrschenden Annahmen meiner Einschätzung nach in der Konzeption und Durchführung unterlaufen wurden. Gerade deswegen, so meine These, konnte in der Zusammenarbeit etwas Neues entstehen – etwas, das sowohl für die Schule als auch für den Kulturpartner eine professionelle Weiterentwicklung bedeutete.4

"Learning by Moving"

Die Erika-Mann-Grundschule im Berliner Wedding hat sich 2011 mit einem sehr klaren Entwicklungsvorhaben beim Modellprogramm "Kulturagenten für kreative Schulen" beworben: Sie wollte das zum damaligen Zeitpunkt seit über zehn Jahren bestehende Theaterprofil um den Bereich "Tanz" erweitern. Dazu arbeitete die Schule seit Start des Modellprogramms unter anderem mit "TanzZeit e. V. – Zeit für Tanz in Schulen" als Partner zusammen.5 Beide setzten gemeinsam verschiedene Projekte um: von ortsspezifischen Tanzprojekten im öffentlichen Raum bis hin zur Entwicklung von Choreografien mit unterschiedlichen Klassen zum jeweiligen Jahresthema der Schule.

Im Weiteren konzentriere ich mich auf diejenigen Vorhaben, die zum Ziel haben/hatten, den Tanz als künstlerische Lehr- und Lernmethode im Fachunterricht einzusetzen. Denn es war ein Wunsch der Schule, neben (!) einer thematisch eher freien künstlerisch-choreografischen Arbeit mit Schülerinnen und Schülern auch ganz konkrete Lehrplaninhalte tänzerisch zu beforschen. Im Rahmen des Modellprogramms sollten Erfahrungen gemacht werden, die perspektivisch zu einer Verankerung des Tanzes im Unterrichtsalltag der Schule führen.

So startete als eine Art "Pilot" das Projekt "Learning by Moving" im Schuljahr 2012/13 im Rahmen des verbindlichen Wahlunterrichts: Eine Gruppe von Fünftklässlerinnen und -klässlern beforschte zusammen mit dem Lehrer und Kulturbeauftragten Martin Kern und der Tänzerin und Choreografin An Boekman in den Uferstudios für zeitgenössischen Tanz ein Schuljahr lang das Curriculum. Für mich als in die Konzeption und Umsetzung des Projekts eingebundene Kulturagentin war es interessant zu beobachten, wie sich Martin Kern und An Boekman diesem Projekt aus ihrer fachlichen Perspektive näherten: Zwar hatte Martin Kern (und auch die Schülerinnen und Schüler) aus einzelnen vorangegangenen Projekten tänzerische Vorerfahrungen, aber das "Vertanzen" von Unterrichtsinhalten war für ihn wie auch für An Boekman neu. Gleichzeitig waren beide sehr interessiert daran herauszufinden, was bei diesem Experiment passieren würde.

Das heißt, sie konnten von ihrem jeweiligen professionellen Standpunkt aus formulieren, was sie an dem Projekt interessiert. Die folgenden Fragen zogen sich wie Leitmotive durch die Konzeption, Durchführung und Auswertung des Projekts:

  • Welche Fächer eignen sich besonders zum "Learning by Moving"?
  • Ist die Erfahrung aus dem Projekt auf andere Lern- und Lehrsituationen, beispielsweise auf Situationen im Klassenzimmer, übertragbar?
  • Spricht ein motorischer Ansatz besondere Lerntypen an?
  • Wie kann man Rahmenlehrplaninhalte mit Hilfe des Tanzes "verwesentlichen, ohne sie zu vereinfachen"6?

 

Um weitere Lehrkräfte in diesen Forschungsprozess mit einzubeziehen, lud sich die Gruppe im Schuljahresverlauf in regelmäßigen Abständen Inputgeberinnen und Inputgeber aus den Fachbereichen Naturwissenschaften, Deutsch und Englisch ein. Diese wurden gebeten, aktuelle Rahmenlehrplaninhalte in einer Schulstundeneinheit an die Gruppe zu vermitteln – ohne diese im Vorfeld auf ein tänzerisches "Potenzial" zu filtern. Die angesprochenen Fachlehrerinnen und -lehrer besuchten also den Kurs in den Uferstudios und vermittelten dort in 45 Minuten jahrgangsrelevante Inhalte aus ihrem Fachgebiet an die gesamte Gruppe. Diese entwickelte anschließend darauf aufbauend über einen mehrwöchigen Zeitraum gemeinsam eine Choreografie und präsentierte sie wiederum den Inputgeberinnen und -gebern aus den Fächern. Es wurden Inhalte wie Windentstehung (Naturwissenschaften), Textbausteine (Deutsch) und "Shopping Dialogues" (Englisch) vertanzt. Zum Projektabschluss wurde eine Lecture Performance aus allen drei Einheiten in größerem Rahmen zur Aufführung gebracht.

Für mich war es inspirierend zu sehen, wie An und Martin die jeweiligen Inputs in der Kombination mit ihren fachlichen Expertisen und in Zusammenarbeit mit den beteiligten Schülerinnen und Schülern bearbeitet haben. Dabei setzten beide für sich jeweils Neues in Bezug auf die Anerkennung der Kompetenz des Anderen um und konnten so etwas herstellen, was ich als "produktive Unterschiedlichkeit" beschreiben würde.

Interessant erscheint mir, dass es in der Projektkonzeption keine explizit thematisierte Rollenverabredung gab. Die Ideensammlung und Verlaufsplanung wurden gemeinsam umgesetzt. Die Verantwortungsübernahme für bestimmte Sequenzen in der Ausdifferenzierung des Projekts erfolgte dann aber je nach professioneller Expertise: So übernahm Martin die Kommunikation mit den involvierten Kolleginnen und Kollegen, konzipierte in Absprache mit An Arbeitsblätter über die vermittelten Fachinputs, die An wiederum mit tänzerischen Methoden und entsprechender Musikauswahl im Sinne einer angeleiteten Improvisation künstlerisch ergänzte. So ausgestattet entwickelten die Schülerinnen und Schüler choreografische Elemente, die in der Gruppe gemeinsam ausgewertet und von An in Rückkopplung mit Martin im Hinblick auf die Zwischenpräsentationen verdichtet wurden.

Als Ergebnis dieses gemeinsamen künstlerischen Beforschens wurden Hoch- und Tiefdruckgebiete, warme (= leichte) und kalte (= schwere) Luft, eine leichte Brise und ein stürmischer Orkan in tänzerische Sequenzen übersetzt, Textbausteine aus dem Deutschunterricht wurden zu Tanzbausteinen (eine realistische Situation wurde zu einer alltäglichen Geste, ein fantastisches Erzählelement zur einer "unmöglichen" Position, gegensätzliche Eigenschaften von Figuren zu unterschiedlichen Bewegungsqualitäten) und Einkaufsdialoge aus dem Englisch-Unterricht wurden unter anderem in Hip-Hop-Battles übertragen.

Im Projektverlauf wurden Künstlerin und Lehrer dabei ganz bewusst nicht zur/zum jeweils Anderen. Ganz im Gegenteil: Es ging darum, den eigenen professionellen Hintergrund einzubringen, dem Gegenüber anzubieten und vor der Folie eines gemeinsamen Tuns verhandelbar zu machen. Hier erscheint mir als grundlegende Haltung zunächst die Anerkennung der Routine des anderen als unverzichtbare Gelingensbedingung für ein neues, gemeinsames Drittes. Dabei meint Routine nicht eine erstarrte Gewohnheit, sondern eine Fähigkeit, die man durch Erfahrung erwirbt und die es einem ermöglicht, sicher und verlässlich zu handeln. Rückgekoppelt mit dem eingangs angeführten Pinkert-Zitat heißt das: Nicht nur Schulen, sondern auch Künstlerinnen und Künstler (beziehungsweise Kulturinstitutionen) haben Routinen. Und weiter: Das ist in beiden Fällen nicht zwangsläufig abzuwerten, sondern kann ganz im Gegenteil entscheidende Voraussetzung einer produktiven Zusammenarbeit sein.

"Moving the Classroom"

Die Erfahrungen aus "Learning by Moving" führten zur Entwicklung des Projekts "Moving the Classroom", das über zwei Schuljahre in insgesamt acht Klassen aus der integrierten Schulanfangsphase bis zur 6. Klasse umgesetzt wurde. Um möglichst viele Interessierte zu erreichen, war das Setting hier ein anderes: An Boekman führte in Zusammenarbeit mit den beteiligten Lehrerinnen und Lehrern je drei Unterrichtseinheiten zu aktuellen Unterrichtsthemen in deren Klassen durch. Themen waren unter anderem: Sprachaneignung, Strom, britische Landeskunde, Geometrie sowie Getreideanbau und -verarbeitung. Immer noch als "Forschungsprojekt" verstanden, konnten so über eine Art Schneeballeffekt mehr Lehrkräfte erreicht werden. Gleichzeitig wurden begleitend regelmäßig künstlerische Workshops für das Kollegium angeboten, um die Ergebnisse zu vermitteln und weiter anschlussfähig zu machen.

Die Zusammenarbeit zwischen Lehrerin beziehungsweise Lehrer und Künstlerin war hier eine andere als bei "Learning by Moving", da sie zeitlich viel stärker begrenzt war. In den Unterrichtseinheiten agierten die Pädagoginnen und Pädagogen eher im Hintergrund. Der Austausch mit An Boekman fand stärker im Vorfeld, zwischen den drei Stunden und im Nachhinein statt. Meiner Beobachtung nach rückte die Künstlerin trotzdem nicht in die Rolle der "kreativen Heilsbringerin", die kurz auftaucht und den Unterricht "verzaubert". Das hat mehrere Gründe:

Die beteiligten Lehrkräfte waren als Fachexpertinnen und -experten für An Boekman unverzichtbare Gegenüber bei der Konzeption der Unterrichtseinheiten. Sie hatten sich freiwillig für eine Zusammenarbeit mit der Künstlerin entschieden und wirkten entscheidend bei der inhaltlichen Schwerpunktsetzung mit. Gleichzeitig profitierten sie von der künstlerischen Perspektive auf ihr Fachgebiet und konnten ihr Unterrichtshandeln vor dieser Folie reflektieren und sich methodisch inspirieren lassen. Zudem war das Projekt, wie oben schon beschrieben, in einen größeren Kooperationszusammenhang eingebunden. Es gab also eine Kontinuität im Aufeinandertreffen der beteiligten Personen. Und schließlich hatten Projekte kultureller Bildung in unterschiedlichen künstlerischen Sparten bereits ihren festen Platz an der Schule, die Zusammenarbeit mit externen Kulturpartnern gehörte inzwischen zum schulischen Alltag.

Zurück zum Anfang

Neben einer Darstellung der Implikationen des Kreativitätsbegriffs geht es Ute Pinkert in ihrem Text auch um die Frage, wie diesem Begriff für die Konzeption und Reflexion von Projekten kultureller Bildung wieder ein "Gebrauchswert" abzugewinnen wäre.

Hierzu schlägt sie verschiedene Strategien vor. Im Rückblick auf die oben beschriebenen Projekte ist abschließend festzuhalten, dass einige hier ganz konkret umgesetzt wurden.

So spricht Pinkert davon, dass es sinnvoll wäre, "zuerst nach den Bildungsvorstellungen der beteiligten Akteurinnen und Akteure zu fragen und eine gemeinsame Zielsetzung zu entwickeln".7

Die Konzeption der Projekte fand stets im Zusammenspiel von Kulturpartner, Kulturbeauftragtem, Schulleitung und Kulturagentin statt. So wurde von Anfang an ein vielstimmiges Setting geschaffen, das einen Austausch über die jeweiligen Bildungsvorstellungen (und die darin enthaltenen Rollenvorstellungen: Wer spielt wen?) ermöglichte. Vielleicht kann eine von allen Beteiligten geteilte Bildungsvorstellung so formuliert werden, dass alle künstlerischen Prozesse, die an Schule stattfinden, eben auch Lehr- und Lernprozesse sind. Somit sind die involvierten Künstlerinnen und Künstler auch Lehrpersonen, die mit anderen Lehrpersonen (den schulischen Pädagoginnen und Pädagogen) zusammenarbeiten. Dies klingt womöglich banal, hat aber zur Folge, dass die immer noch verbreitete Opposition "Künstlerin/Künstler" und "Lehrerin/Lehrer" in der konkreten Projektarbeit einer wertschätzenden Zusammenarbeit zwischen Lehrenden mit teils unterschiedlichen, teils ähnlichen Methoden weichen kann.

Pinkert schreibt weiter, dass es darum gehe, "sich mit den Beteiligten über konkret angestrebte und sinnvolle "Neuerungen" zu verständigen und spezifische kleine Schritte zu planen, die sich im lebensweltlichen Kontext des jeweiligen Projekts verorten"8. Übertragen auf "Learning by Moving" und "Moving the Classroom" heißt das: Dem Kreativitätsbegriff konnte sowohl für die Schule als auch für den Kulturpartner ein relevanter "Gebrauchswert" beigemessen werden, der sich in den jeweiligen Kontexten der Akteurinnen und Akteure konkret niederschlägt. Die Schule entwickelt ihren Fachunterricht durch den Einsatz spezifischer künstlerischer Lehr- und Lernmethoden weiter, und die Künstlerin befragt und verändert ihre professionellen Strategien in der Auseinandersetzung mit neuen Inhalten und Anwendungskontexten.

 

1 Erläuterung des Titels: So stellte sich mir eine Lehrerin in einem Projekt zwischen einer weiterführenden Schule und einem Museum vor, für das ich vor meiner Tätigkeit als Kulturagentin als Prozessbegleiterin tätig war.

2 Pinkert, Ute: "Kollisionen? Kreativität und Performance – Schlüsselbegriffe kultureller Bildung im Kontext kulturbestimmender Diskurse", in: Mission Kulturagenten – Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015.

3 Ebd.

4 Ich möchte diese Heraushebung stellvertretend für eine Reihe von Erfahrungen, die ich in vielen Projekten in unterschiedlicher Ausprägung machen konnte, verstanden wissen. Es wäre sicherlich interessant, verschiedene Formen der Zusammenarbeit zwischen Pädagoginnen/Pädagogen und Künstlerinnen/Künstlern daraufhin zu untersuchen.

5 Vgl. Schlagenwerth, Michaela: "Tanz auf der Bühne: ein Erweckungserlebnis – TanzZeit Berlin ", in: Mission Kulturagenten – Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015.

6 Zitat An Boekman aus einem Gespräch über "Learning by Moving" und "Moving the Classroom".

7 Ebd.

8 Ebd.