Stephan Bock
„Endlich habe ich das Gefühl, fürs Leben zu lernen.“ - Die Gesamtschule Weierheide
Stephan Bock

„Endlich habe ich das Gefühl, fürs Leben zu lernen.“ - Die Gesamtschule Weierheide

Bundesland

Nordrhein-Westfalen

Ort

Oberhausen

Beteiligte Schülerinnen und Schüler

1000

Beteiligte Lehrkräfte

100

Kulturagent

Anke Troschke

-

Dieses Zitat eines Schülers könnte kein besseres Lob sein, was den Weg der Gesamtschule Weierheide im Oberhausener Stadtteil Sterkrade hin zur "kreativen Schule" betrifft. Sie hat schon immer in Projektformaten gearbeitet und war kulturell nach innen und außen aktiv. Dies hat der Schule das nötige Selbstvertrauen gegeben, sich für das Kulturagentenprogramm zu bewerben, das für sie auch einen besonderen Anreiz zur Weiterentwicklung bot. Das Programm hat einen Entwicklungsprozess ausgelöst, der die Schule nicht nur stark gefordert, sondern auch gefördert hat. Und es hat Wege aufgezeigt, die der Schülerschaft angemessen waren.

Ein turbulenter Auftakt

"Wir haben uns von unserem alten Schulprogramm getrennt und sind noch mittendrin, ein neues zu formulieren. Eine Notwendigkeit, die sich daraus ergab, war: Wir müssen uns neu aufstellen, neu orientieren und uns nicht nur am Kulturagentenprogramm ausrichten", so beschreibt der Schulleiter Hermann Dietsch die Neuausrichtung der Schule.

Die Kulturagentin Anke Troschke hat die Schule als überaus engagiert, offen und beweglich wahrgenommen: "Im Grunde wehte schon ein bestimmter Geist hier durch die Räume, bevor das Programm begann. Meine wichtigste Aufgabe war, dies zu kanalisieren, zu bündeln und in eine Struktur zu bringen. Nicht immer verlief das reibungslos." Dennoch hat sie sich von Anfang an gut aufgenommen und wertgeschätzt gefühlt, auch wenn sie mit ihren Ideen nicht immer "den Nerv" der Schule traf. Der stellvertretende Schulleiter Michael Poetz – selbst Musiker – kam an die Schule, gerade als der Diskussionsprozess um die Verortung der Künste im Unterricht stattfand. "Die Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen waren heftig, da einige die Sorge hatten, dass wir ihnen etwas wegnehmen würden. Beispielsweise diejenigen, die Darstellende Kunst und Gestalten unterrichten. Sie dachten auf einmal, wenn der Bereich Kulturschule ein neues Angebot macht, zieht er auch die guten Schülerinnen und Schüler an, die wir aber auch in unserem Hauptfach brauchen." So ist die Idee entstanden, die neuen Angebote in den Jahrgängen 8 bis 10 im Bereich der Ergänzungsstunden zu verorten. Auch musste der Stundenplan neu gestaltet und mit den Plänen des gesamten Kollegiums sowie den Nutzungsplänen der Fachräume abgestimmt werden. Dies war eine besondere Herausforderung für den Stundenplaner, da er auch die zeitliche Verfügbarkeit der Künstlerinnen und Künstler mit berücksichtigen musste.

Die wesentliche Aufgabe des Kulturfahrplans bestand darin, die geplanten Maßnahmen in eine jahrgangsgebundene Struktur einzubetten. Allerdings wollte man "…kein elitäres System aufbauen, in dem die Kinder in Klasse 5 anfangen und dann hervorragende Bläser werden" – so die Kulturagentin –, sondern alle Schülerinnen und Schüler sollten durch die einzelnen Jahrgänge hindurch mit eigenem kreativem Tun alle künstlerischen Sparten durchlaufen und die Möglichkeit haben, die umliegenden Kulturinstitutionen kennenzulernen. Dies wurde fest in der Stundentafel verankert.

"Kulturbaum"
Grafik: Alischa Leutner

Von "Culture Kids" zu "KreSCH"-Kursen

Der Kulturfahrplan beginnt in den Jahrgängen 5 und 6 mit den "Culture Kids". Das Format ist im Musikunterricht verankert und soll einen Einblick geben, wie kulturelle Institutionen in Oberhausen arbeiten und welche Möglichkeiten der Zusammenarbeit sie bieten. Es ist als Projekt zwischen drei und fünf Tagen organisiert, in denen die Schülerinnen und Schüler in die Kulturinstitutionen gehen oder diese beziehungsweise einzelne Künstlerinnen und Künstler in der Schule ein Projekt mit einer Klasse entwickeln, zum Beispiel eigene Songs komponieren. Organisiert von der Kulturagentin sowie dem Kulturbeauftragten und verantwortet von den Klassenlehrern, arbeitet dabei ein Team von acht Lehrkräften sowie Referendaren und Kunstschaffenden zusammen. Außerdem kooperiert die Schule mit einem Theater sowie im Musikunterricht mit der Christoph-Schlingensief-Schule, einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung.

Im Jahrgang 7 steht das Projekt Tanz an. Hierfür wurde der Sportunterricht von ursprünglich zwei Wochenstunden auf vier erweitert, wovon zwei Stunden für den Tanz reserviert sind. Alle vier Klassen des 7. Jahrgangs und alle Sportlehrerinnen und -lehrer beteiligen sich unter Anleitung eines Choreografen.

In den Jahrgängen 8 bis 10 finden im Ergänzungsstundenbereich die "KreSCH"-Kurse (KreativeSCHule) als Wahlfach statt. Darin können die Schülerinnen und Schüler frei wählen und einen eigenen Schwerpunkt aus den Sparten Schauspiel, Gesang, Musik, Tanz, bildnerisches Gestalten und mittlerweile auch aus dem Bereich Neue Medien verfolgen. Es unterrichten in einem Kurs jeweils zwei Lehrkräfte mit mindestens einer Künstlerin oder einem Künstler. Ein neues Format ist die "Kreative Mittagspause": Sie bietet die Möglichkeit, an unterschiedlichen Angeboten teilzunehmen, beispielsweise am offenen Chor mit Gesangscoaching. Auch der Netzwerk-Chor nutzt diese Gelegenheit.

In der Oberstufe steht projektbezogenes Lernen an. Es ist eingebunden in ein Netz von Kooperationen, sowohl mit den beiden anderen Netzwerkschulen als auch mit den Kulturpartnern in der Region. Dadurch ergeben sich spannende Synergieeffekte, die wieder zurück in die ganze Schule wirken. Die Projektkurse sind offen gestaltet und wechseln thematisch; die individuelle Schülerleistung spielt dabei eine große Rolle. So haben zum Beispiel Schülerinnen und Schüler bei der Extraschicht – der Nacht der Industriekultur im LVR-Industriemuseum Oberhausen – vor großem Publikum einzelne Texte vorgestellt und selbst geschriebene Gedichte oder Textpassagen frei vorgetragen. Es zählen auch Musik und Kunst als Grundkurse in der Oberstufe zu den wählbaren Abiturfächern. Durch das Kulturagentenprogramm hat sich das Interesse daran stark vergrößert; von anfangs knapp 20 Schülerinnen und Schülern im Fach Musik liegen mittlerweile Anmeldungen von 50 bis 60 Schülerinnen und Schülern vor.

Junge Menschen, die mit diesen Möglichkeiten und Erfahrungen groß geworden sind, die Schule ganz anders erlebt haben, identifizieren sich viel stärker mit ihr. Der Schulleiter: "Es kommt sogar vor, dass ehemalige Schüler zu uns kommen und unsere Schule als Ausstellungsraum für ihre Zeichnungen, Gemälde und sonst was nutzen wollen. Sie haben erfahren, dass unsere Schule ein Forum sein kann, um sich zu präsentieren."

Der Kraftakt Kulturfahrplan

Die Erstellung des Kulturfahrplans war für die Schule ein gewaltiger Kraftakt. Er wurde in der Steuergruppe mit Beteiligung der Schulleitung und der Abteilungsleitungen, der Kulturagentin und des Kulturbeauftragten, mehrerer Kollegen unterschiedlichster Fachrichtungen und auch der Eltern entwickelt. In den Fachkonferenzen mussten die Fachgruppen nichtmusischer Fächer – Sportler, Mathematiker – immer wieder mit ins Boot geholt werden. Vorgestellt und diskutiert wurde der Kulturfahrplan abschließend in der Gesamtkonferenz. Hermann Dietsch beschreibt die Auseinandersetzungen folgendermaßen: "Was für eine Schule wollen wir denn in Zukunft sein? Diese Frage hat uns fast zerrissen. Jeder einzelne, der bisher im Ergänzungsstundenband unterwegs war, hat natürlich gefragt: Wenn da ein weiteres Fach eingerichtet wird, muss etwas anderes dafür weichen? Werde ich mit Mathematik oder wird der Kollege mit Informatik davon betroffen sein? Das waren harte Auseinandersetzungen, die mit Detailfragen jedes Einzelnen genauso zu tun hatten wie mit der gesamten Schulentwicklung."

Die Kulturagentin erlebte die Diskussionsprozesse um den Kulturfahrplan als sehr konstruktiv und notwendig, um zu dem jetzigen Ergebnis zu kommen. Da sich die ganze Schule damit intensiv beschäftigte, wurde eine große Energie spürbar. Mehrheitlich hat die Schulkonferenz beschlossen, dass der Kulturfahrplan nun eindeutig in Richtung Kulturschule weist. Nach vier Jahren ist er inzwischen Konsens geworden, und es wird nur noch in Nuancen daran gearbeitet.

Artists in Residence

Nach der Verabschiedung des Kulturfahrplans stand das nächste große Thema auf der Agenda: die Suche nach geeigneten Kooperationspartnern, also Kulturinstitutionen und Kunstschaffenden in Oberhausen. Es ging darum, das Programm so zu gestalten, dass diese auch in den nichtmusischen Fächern eingesetzt werden konnten. So entstand ein "Artists in Residence"-Programm: Kunstschaffende, die an die Schule geholt wurden, standen den Lehrkräften modulweise als Ideengeber über vier, sechs oder acht Doppelstunden zur Seite, um beispielsweise im Religions- oder Mathematikunterricht mit kreativen Methoden Impulse zu geben. Anfangs war die Skepsis groß, wie die Lehrkräfte darauf reagieren würden. Mittlerweile sind es viele, die daran ein großes Interesse haben, sodass die Schule gar nicht so viele Künstlerinnen und Künstler zur Verfügung stellen kann, wie nachgefragt werden.

Dieses Prinzip ist auch in der Oberstufe angekommen. So fand in Jahrgang 11 eine Projektwoche statt, in der mit Hilfe eines externen Künstlers der gesamte neue Jahrgang durch kulturelle Projekte zusammengeführt wurde. Der Schulleiter freute sich, dass die Kollegen dieses Angebot nutzten, um sich völlig neu aufzustellen und sich nicht nur an die "Verordnung über den Bildungsgang und die Abiturprüfung in der gymnasialen Oberstufe" zu klammern.

An der Schwelle zwischen Change-Management und kreativer Phase

Für die Schulleitung gilt: "Wir wollen keine Projekte, die nach sechs Wochen mit einer Aufführung enden und das Ganze beschließen." Ihr ist es wichtig, dass sich die Schülerinnen und Schüler durch die kreativen Prozesse verändern und sich dadurch der Unterricht auch insgesamt verändert, ohne dass dies mit Zielvorgaben gesteuert werden müsste.

Indem der Kulturfahrplan so angelegt wurde, in den Klassen 5 und 6 einzusteigen und dann kontinuierlich darauf aufzubauen, beobachtete man auch die Veränderungen der Schülerinnen und Schüler mit fortschreitendem Alter. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass sie diesen Weg gehen können, weil sie ihn kennengelernt haben. Und das spüren die Lehrerinnen und Lehrer bei den neuen Schülerinnen und Schülern, wenn sie in die höheren Klassen kommen: "Da ist eine ganz andere Herangehensweise vorhanden." Die Schülerinnen und Schüler sind nach Beobachtung des stellvertretenden Schulleiters auch anspruchsvoller geworden: "Sie fordern im Unterricht kooperative Methoden geradezu ein und lassen sich nicht mehr zwei Stunden Frontalunterricht gefallen".

Die Schule hat mit der Zeit zahlreiche neue Kulturpartner gewonnen, die auch durch die Vermittlung der Kulturagentin auf sie aufmerksam wurden. "Wir werden anders wahrgenommen; als Schule, die nicht nur etwas anzapfen will, sondern die auch was zurückgibt. Weg von einer Konsumhaltung hin zu etwas, das man gemeinsam entwickelt", so Hermann Dietsch. Mittlerweile ist die Schule zahlreiche feste Kooperationen eingegangen, die durch zahlreiche fächer- und jahrgangsübergreifende Projekte nicht nur dazu beitragen, dass sich der Unterricht weiterentwickelt, sondern dass sich die Schule auch nach außen hin öffnet. Zudem werden die Schülerinnen und Schüler häufig außerhalb der Schule bei Aufführungen und Festen wahrgenommen. Dies hat den besonderen Nebeneffekt, dass sie kaum Probleme haben, Praktikumsplätze zu finden. "Wenn sie sagen, wir kommen von der Weierheide öffnen sich die Türen. Das geht sogar bei der Suche nach Ausbildungsplätzen weiter." Diese breite räumliche Vernetzung hat zu vielen Synergieeffekten geführt, von der alle Seiten profitieren.

Auf die Personen kommt es an

Durch die Zusammenarbeit mit Externen sehen viele Lehrerinnen und Lehrer auch die Chance, ihren Unterricht neu zu gestalten. Sie erhalten neue Ideen, aber auch ein Feedback, wie er von außen wahrgenommen wird. Das schafft Momente der Selbstreflexion: "Wir können auf unseren eigenen Unterricht schauen und danebenstehen, während er gerade von einem Künstler übernommen wird. Dadurch gewinnen wir Lehrer sehr viel." Diese Offenheit ist keine Selbstverständlichkeit und ein besonderes Merkmal der Schule. Angst vor Konkurrenz oder vor den "Profis" gibt es nicht: "Besser kann"s doch gar nicht sein, wenn selbst der Lehrer noch lernt, wir lernen ja auch von den Schülern." Davon ist zumindest der Kulturbeauftragte Stefan Bernert überzeugt.

Für die Schulleitung ist die Kulturagentin " … der Motor des ganzen Prozesses. Mit ganz viel Einsatz und Engagement. Mit der Sachkenntnis, mit den Kontakten die sie hat, mit den vielen Bemühungen, Drittmittel einzuwerben. Mit tausend Gesprächen mit Partnern außerhalb der Schule." Wichtig ist der regelmäßige Austausch, der immer montags zusammen mit dem Kulturbeauftragten stattfindet. Dieser sieht sich in vielen Rollen – Multiplikator, Kommunikator, Vermittler –, die immer wieder wechseln. Er ist auf allen Veranstaltungen im Rahmen der Qualifizierungsangebote des Landesbüros NRW unterwegs und versucht die Erkenntnisse in die Breite der Schule weiterzutragen – über persönliche Gespräche, E-Mails, Schriftverkehr oder Beiträge in Schülerzeitungen.

Mittlerweile leistet sich die Schule eine zweite Kulturbeauftragte, Alischa Diana Leutner. Der Vorteil liegt zum einen darin, dass damit die zwei Standorte der Schule besser abgedeckt werden können, zum anderen hat sie als Kunstlehrerin und Künstlerin eine besondere fachliche Kompetenz, die der bisherige Kulturbeauftragte als Mathematik- und Techniklehrer nicht mitbrachte. Sein Vorteil wiederum ist, dass er künstlerisch-kreative Ansätze auch in den nichtmusischen Fächern verankern und dort Projekte umsetzen kann.

Auch bei der Nach- oder Neubesetzung von Stellen wird immer wieder darauf geachtet, ob die Bewerber künstlerische Fähigkeiten oder zumindest eine Affinität zur Kultur mitbringen, auch wenn das nicht das ausschließliche Einstellungskriterium ist beziehungsweise sein darf.

Mit Zuversicht in die Zukunft

Die Schule wird in Zukunft mit weniger Fördermitteln aus dem Programm auskommen müssen. Sie versucht daher, über die Einwerbung von Drittmitteln im Rahmen anderer Projekte ein dauerhaftes Fundament zu schaffen. Dabei erhofft sie sich positive Synergieeffekte aus der Tatsache, dass sie mittlerweile zum Kreis der "KulturSchulen" in Oberhausen zählt und auch im Programm "Zukunftsschulen NRW" vertreten ist. Sie möchte hier Referenzschule mit dem Schwerpunkt kulturelle Bildung werden und in der Kooperation mit anderen Schulen weiterlernen, aber auch etwas weitergeben können.

Die Lehrerinnen und Lehrer, die in den kulturellen Fächern – vor allem in den "KreSCH"-Kursen – unterrichten, haben aus Sicht des stellvertretenden Schulleiters mittlerweile so viel von den Kunstschaffenden gelernt, dass er von sich behaupten kann, "… das im nächsten Jahr dann auch ohne sie machen zu können. Zwar vielleicht nicht ganz so gut, aber mit Sicherheit auch erfolgreich."

Der Schulleiter sieht es ähnlich, wünscht sich jedoch, die Kulturagentin behalten zu können, damit das Niveau nicht absinkt. "Den Rest kriegen wir schon selber gestemmt." Und die Schülerinnen und Schüler? Auch sie möchten auf keinen Fall auf diese Art zu arbeiten verzichten. "Dieser offene Umgang mit Künstlern, die Mitbestimmung bei den Inhalten, die Steigerung des Selbstwertgefühls, das sich auch auf andere Bereiche überträgt. Die Steigerung der Kreativität und der Aufgeschlossenheit fremden Dingen gegenüber. Super!!!!", resümiert der Schülervertreter Pascal Jakuly.