Matthias Vogel
Die Lösung für alles
Matthias Vogel

Die Lösung für alles

Partizipation in Schüler-Kunst-Projekten in Theorie und Praxis

 

Partizipation ist super!

Sagen immer alle.

Und als ich noch ein junger, frischer und grundnaiver Kulturagent war, dachte ich mir: Prima! Jetzt werde ich einfach der partizipationsfreudigste Kulturagent der Welt! Und weil Partizipation ja alle immer super finden, werden auch alle immer glücklich sein! Also zumindest versuch ich das jetzt mal! Das wird bestimmt Spitze!

Erster Versuch.

Wenn ich Schülerinnen und Schüler frage: "Na, was wollt ihr machen?", sagen sie recht selten: "Bitte, bitte, eine subversive Intervention im Stadtraum!" Wahrscheinlich sagen sie: "Fußball!" oder noch viel lieber: "Counter Strike!1"

Also formuliere ich die Frage etwas um: "Na? Was für ein Kunstprojekt wollt ihr machen?" Die vielen kleinen Schüleraugen leuchten da schon etwas weniger. Denn egal, wie klein die Augen sind, Kinder und Jugendliche sind nicht dumm. Sie wissen natürlich, dass die Frage vergiftet ist. Denn eigentlich hab ich damit ja nichts anderes gesagt als: "Kinder! Ihr müsst jetzt ein Kunstprojekt machen!"

Vielleicht krieg' ich sie trotzdem irgendwie überredet. Schließlich gibt es ja ganz und gar langweilige Kunstprojekte, und es gibt solche, die vielleicht auch ein bisschen Spaß machen. Und dann ist es doch eine feine Sache, dass sie darüber mitbestimmen können, was für eines es wird. Und es ist doch immerhin auf jeden Fall besser als Mathe!

Okay. Damit kriege ich sie. Die Stimmung steigt wieder. So weit, so gut. Nur kommt jetzt gleich das nächste Problem.

Den Jugendlichen fällt nichts ein. Sie haben keine Vorstellung davon, was alles Spaß machen könnte. Sie haben keine Idee davon, was es da draußen überhaupt alles gibt. Sie kennen viele Kunstformen noch gar nicht. Es macht überhaupt keinen Sinn, die Schülerinnen und Schüler sowas zu fragen.

Zweiter Versuch.

Okay. Dann machen wir es eben so: "Passt mal auf! Wir machen jetzt alle ein Kunstprojekt zusammen, das ist gesetzt. Aber du, liebe Schülerin, und du, lieber Schüler, ihr dürft mitentscheiden! Zwar nicht über das Kunstprojekt selbst, aber eben über eure Schule! Zeigt uns, was ihr daran nicht mögt! Was ihr gerne anders hättet! Das machen wir einfach zum Thema!" Wir machen einfach eine Zukunftswerkstatt2 oder irgend sowas Ähnliches! Das ist der partizipative Oberhammer! Der Klassiker unter den Klassikern! Da kann doch eigentlich überhaupt nichts mehr schiefgehen.

Und jetzt bitte: "Seid kreativ! Geht euer Thema künstlerisch an! Stellt eure Änderungswünsche ästhetisch dar! Bastelt Modelle von Swimmingpools auf der Schulkantine! Wünscht euch runde Sitzecken! Wie wäre es denn mit einer kleinen Chill-Oase? Und findet ihr nicht auch, dass euer Treppenhaus zu grau ist? Hier habt ihr eine Rolle Tape, die ist so schön lila und lässt sich morgen auch wieder rückstandslos entfernen!"

Jetzt wird's allerdings erst recht kompliziert.

Denn erstens ist es ja schon ungeheuer fraglich, was man sich als Schüler denn plötzlich überhaupt wünschen darf. Die Achtklässler wünschen sich jetzt vielleicht einen Paintball-Parcours, damit sie sich in der Pause ein bisschen gegenseitig abballern können, mit diesen roten Farbkügelchen, die so schöne, realistische Eintrittswunden simulieren und nur wirklich super selten ins Auge gehen, also quasi fast nie. Und die aus der Zehnten wünschen sich dann wahrscheinlich den einen oder anderen Ort, der so ein bisschen selbst verwaltet ist. Oder wenigstens verwinkelt. Wo man sich vielleicht so ein bisschen vor den Erwachsenen verstecken kann. Wo die Lehrer, die Pausenaufsicht haben, ihrer Aufsichtspflicht nicht so gut nachgehen können. Wo man dann so ein bisschen herumknutschen kann, oder heimlich rauchen oder das neueste islamistische Gewaltvideo herumzeigen oder Drogen verchecken oder Haftbefehl hören oder sich auch einfach nur mal ein paar Minuten unbeobachtet in der Nase bohren kann. Wo man halt mal ein bisschen Privatsphäre hat. So einen Ort wünscht man sich dann, wenn man gerade 13 ist oder 15 oder 17, und jeden Tag von 8.00 bis 16.00 Uhr in die Schule gehen muss. Das finde ich total verständlich.

Nun, wir merken schnell: Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass diese Ideen eher ungehört verhallen. Wahrscheinlich "geht das nicht sofort in die Umsetzung". Es werden wohl doch eher die Ideen aufgegriffen, die den Erwachsenen besser gefallen. "Wollt ihr nicht lieber, dass die Hausmeistergarage begrünt wird? Wolltet ihr nicht eigentlich schon immer einen Toleranz-Trinkbrunnen im Eingangsbereich? Lasst uns doch erst mal gemeinsam den Fahrradständer neu streichen!" Wenn die Jugendlichen etwas wirklich Anderes wollen als die Pädagogen oder die Leitung, müssen sie fast froh sein, wenn sie dafür keine schlechten Noten kriegen. Das ist den Erwachsenen oftmals nicht bewusst, aber den Kindern ist das sonnenklar.

Partizipation als Erlernen politischer Teilhabe hat ein Problem. Man kann nicht Mitgestaltung lehren und dabei nur so tun als ob. Man kann keine Schülermitverantwortung predigen, ohne dabei wirkliche Entscheidungsgewalt abzugeben. Und in der Schule sind die Grenzen, innerhalb derer Jugendliche mitentscheiden können, schmal. Sehr schmal.

Und dann kommt noch dazu: Wozu brauchen wir dafür eigentlich ein Kunstprojekt? Ist es nicht geradezu widersinnig, politische Teilhabe beibringen zu wollen und dabei auch noch den Umweg über die Kunst zu nehmen? Wenn ich mir als Schüler wünsche, dass die Schulklos dringend renoviert gehören, muss ich das unbedingt vortanzen? Muss ich dazu wirklich ein Theaterstück improvisieren? Einen Klo-Song komponieren? Warum macht meine Klassensprecherin nicht einfach einen Termin mit dem Schulleiter und sagt ihm das direkt ins Gesicht?

Dritter Versuch.

Okay. Die Jugend von heute ist clever. Sie lässt sich nicht so leicht locken. Aber ich bin ja zum Glück auch nicht doof. Ich nehme einen neuen Anlauf. Und nenne ihn MACH-ES-ZU-DEINEM-PROJEKT3. Und das geht so:

Wir machen das jetzt wie bei der Bundestagswahl. Ich setze einen Rahmen. Damit stelle ich sicher, dass die Schülerinnen und Schüler, die ich hier als künstlerische Laien begreife, an einer Projektentwicklung beteiligt sind und gleichzeitig dafür gesorgt wird, dass mein eigener künstlerischer Anspruch und der Anspruch meines Programms an künstlerische Qualität gewahrt bleiben. Drei Schülergruppen senden einige Vertreter, und diese diskutieren jeweils eine Stunde lang mit vier verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern. Die jugendlichen "Projekträte" können die Inhalte mitbestimmen und anschließend aus diesen vier Alternativen eine auswählen. Es ist eine begrenzte Mitsprache. Denn egal, für wen sich die Schülerjurys entscheiden: Ich werde mit der Wahl zufrieden sein, denn ich habe die Künstler ja vorher alle persönlich ausgesucht.

Dieses Vorgehen war erfolgreich. Die Jugendlichen fanden sich ernst genommen und nahmen ihr Mitspracherecht außerordentlich ernst. Die Künstlerinnen fanden das Verfahren innovativ. Die Projekte wurden gut. Die Projekte wurden sehr unterschiedlich. Und interessant: Die drei Schülerauswahlteams aus den drei verschiedenen Lerngruppen haben sich nach den Gesprächen für jeweils andere Lieblingskünstlerinnen oder Lieblingskünstler entschieden.

Ist es hier nun: das ultimative partizipative Projekt? Ich wurde eingeladen, das Format auf der Halbzeittagung des Kulturagentenprogramms in einem Workshop vorzustellen, und die Moderatorin Ursula Rogg präsentierte mich als "ausgewiesenen Partizipationsexperten".4 Das Format wurde sehr gelobt. Aber irgendwie fühlte ich mich schlecht. Ich schämte mich. Ich fand mein Setting ein bisschen verlogen. Und ich fand mein Projektformat auch gar nicht mehr so richtig partizipativ, auch wenn es die Schülerinnen und Schüler vielleicht nicht gemerkt haben. Oder wenn sie sich zumindest nicht daran gestört haben. Und auch wenn die Projekte selbst wunderbar und spannend wurden, und auch wenn alle Projektbeteiligten weitgehend zufrieden waren. Denn ich habe gemogelt. Man kann keine Schülerpartizipation predigen, ohne wirkliche Entscheidungsgewalt abzugeben. Und ich habe meine Gestaltungsmacht bewahrt. Vielleicht etwas subtiler als sonst, aber nicht weniger wirkmächtig.

Radikalisierung

Während ich mich noch schäme, sitze ich auf derselben Tagung unseres Programms im Plenum und lausche gebannt dem Vortrag von Carmen Mörsch. Ihre Worte treffen mich ins Herz. Verdammt! Wie Recht sie hat! Diese Kulturinstitutionen! Wie arrogant die sind! Wie dominant die sind! Und wie reaktionär und affirmativ und ganz und gar böse die sind! Lasst uns sofort alle Museen auflösen! Lasst uns sofort alle Kunstwerke in den Haushalten verteilen!5 Und wenn keiner in eure Ausstellungen kommt, dann liegt das vielleicht daran, dass es niemanden interessiert, und dann haben nicht die Bürger mit oder ohne Hintergrund, mit oder ohne soziale Benachteiligung ein Problem, sondern das Zeug, das ihr an die Wand hängt!

Aber eine Woche später sitze ich wieder in der 6. Klasse einer Stadtteilschule, einer ganz normalen Stadtteilschule, mit einem ganz normalen Kollegium und ganz normalen Problemen, und das heißt, dass es eben bessere und schlechtere Tage gibt. Und das heißt auch, dass es da bessere Klassen gibt und – nun ja, sagen wir mal so – auch Klassen, die jetzt eher nicht so wahnsinnig motiviert sind. Und da sitze ich nun also, in der unmotiviertesten und an Kunst auch wirklich ganz besonders maximal desinteressierten Stadtteilklasse der mir bekannten Welt, und der Lehrer müht sich ab, aber er hat jetzt offensichtlich auch nicht gerade seinen allerbesten Tag, und dann ist da ja auch noch diese total kluge und super coole Museumspädagogin einer wirklich extrem großartigen Ausstellung mit am Start, und in diesem Moment denke ich mir: Halt! Lasst uns das Museum vielleicht doch noch eine Weile erhalten! Vielleicht ist es doch besser, wenn diese coole Frau entscheidet, was da hängt, und nicht meine Klasse 6b darüber demokratisch abstimmt! Und in Momenten besonderer Basisentrückung denke ich sogar: Ein Museum hat seine volle Berechtigung, genau so, wie es ist! Auch wenn sein potenzielles Publikum begrenzt ist und meine Klasse 6b sicher nicht dazugehört. Und möglicherweise auch nie dazugehören wird.

Was mach ich denn jetzt damit? Okay. Ich finde Kulturinstitutionen auch doof. Also jein. Natürlich nicht alle. Ich hab ja selbst mal ein kommunales Kulturkino geleitet. Und ich geh' gern ins Theater. Und in die Oper. Und wenn ich ein bisschen merkwürdig drauf bin, sogar ins Museum. Und natürlich sind auch vor allem diejenigen Kulturinstitutionen nicht doof, mit denen ich ständig in wunderbaren Projekten zusammenarbeite. Da gibt's schon auch ganz tolle Sachen. Und noch viel, viel tollere Menschen. Aber so prinzipiell. Theoretisch. Also so aus dem Blickwinkel sozialer Gerechtigkeit und mit ganz, ganz vielen Ausnahmen sehe ich ein, dass Kulturinstitutionen zum Reich der Finsternis gehören. Gestrig sind. Affirmativ und reproduktiv. Nicht mehr zeitgemäß. Und auch nicht so richtig demokratisch legitimiert. Ein teurer Spaß für die oberen Zehntausend. Und das muss sich ändern. Zumindest die staatlich geförderte Kunst muss sich ändern. Sie muss alle adressieren. Sie muss alle interessieren. Auch meine Klasse 6b und ihren ermatteten Lehrer. Und wenn sie das nicht schafft, sind nicht die Stadtteilschüler zu blöd, sondern die Institution hat eben das falsche Rezept.

Jetzt misch' ich da also auch noch so ein bisschen mit drin herum. Und damit ich abends in den Spiegel schauen kann, mach ich also gerne mal Projekte, die nicht Hochkultur sind. Projekte in Kunstsparten, für die es keine Institutionen gibt. Gerne mal Projekte mit der freien Szene. Popkultur. Cross-over-Kram. Kunst mit Videospielen. Flashmobs. Beteiligungs-Gedöns. Damit fühl' ich mich gut. Es ist so schön antiinstitutionell. Ich Rebell! Aber ist das jetzt besser?

Ich bin sozialversicherungspflichtiger Angestellter bei der gemeinnützigen Forum K&B GmbH, und deren Geld kommt von der Stiftung Mercator, von der Kulturstiftung des Bundes und aus allen möglichen Landesministerien und Behörden. Und jetzt komme also ausgerechnet ich Bildungsbürgerkind daher und versuche, den Fokus ein bisschen vom Guckkastentheater weg und hin zu gerade im Feuilleton und "der Szene" etwas angesagteren Kunstformen zu verschieben. So what? Ist das nicht genauso affirmativ? Reproduktiv? Leitkulturig? Und ist das jetzt irgendwie besser demokratisch legitimiert? Sozial gerechter?

Wenn man das so richtig ernst nähme mit der Legitimierung, müsste man dann nicht nur die Kulturinstitutionen auflösen, sondern mich nicht eigentlich gleich mit? Steh' ich nicht auch auf der bösen Seite der Macht? Auf der Seite der privilegierten Gruppe? Noch dazu bin ich ja auch noch ein Mann. Weiß und biodeutsch. Und heterosexuell. Es ist schon alles ganz wahnsinnig kompliziert.

Letzter Versuch

Um die Schülerinnen und Schüler aus ihrer üblichen Pflichterfüllungsmentalität zu reißen, kann man beispielsweise systematisch die Rolle der Lehrkräfte schwächen, so aus der Überzeugung heraus, dass allein die Anwesenheit einer Lehrerin oder eines Lehrers junge Menschen in ihrer "Schülerrolle" verhaften lässt. Das ist so weit beständige Praxis. Also Lehrer raus! Lehrerinnen natürlich auch!

Aber: Es hilft nichts, Lehrkräfte jetzt einfach durch Künstler zu ersetzen. Denn würde das was ändern? Würden die Jugendlichen den anleitenden Künstler jetzt wirklich völlig anders als ihre Lehrerin betrachten? Meist folgt nach einer kurzen Irritation darüber, dass über Jahre eingeübte Spielregeln jetzt nicht mehr in vollständig gleicher Weise gelten, eine rasche Anpassung an die neue Lage. Die Jugendlichen versuchen dann eben, nicht mehr zu liefern, was die Klassenlehrerin von ihnen erwartet, sondern antizipieren, was der Künstler sehen will. Und ganz egal, wie oft und wie deutlich dieser oder der Kulturagent äußern: "Macht es zu eurem Projekt!", "Macht euer eigenes Ding!", "Ihr seid künstlerisch völlig frei!" – die Schülerinnen und Schüler sind es nicht. Das eigene Ding zu machen, kann man nicht verordnen. Und die künstlerische Freiheit endet dort, wo die Kunstvorstellung des Künstlers endet. Oder die Richtlinien des Kulturagentenprogramms und damit die Förderfähigkeit des ganzen Projekts. Das Austauschen von Lehrkräften durch Künstler ändert nur marginal die Spielregeln. Ein Künstler in einem verpflichtenden Unterrichtsprojekt bleibt trotzdem in der Lehrerrolle, er ist nur anders angezogen und spricht eine andere Sprache. Das Machtgefälle aber bleibt erhalten. Es bleibt eine Zwangsbeglückung.

Also schön. Letzte Patrone. Radikalster Versuch. Alle Erwachsenen raus. Lehrer raus. Schulleitung raus. Künstler raus. Ich raus. Wir geben das Geld an die Schüler selbst. Erwachsenenlose Kunstprojekte. Ohne inhaltliche oder formale Vorgaben. Das war die Idee von "Schülerkunstgeld"6.

Nun – es hat nicht funktioniert. Das hat viele Gründe, manche sind mir klar, manche bleiben Spekulation. Ich stieß an Grenzen. Organisatorischer Natur. Grenzen der Kommunizierbarkeit dieser Idee an die Schülerinnen und Schüler selbst. Grenzen der Abrechenbarkeit im Rahmen unserer Förderrichtlinien. Grenzen der Organisierbarkeit eines Schülerkunstgeldvergabeverfahrens durch die Schülerinnen und Schüler selbst und ohne heimlichen Einfluss Erwachsener. Normale Grenzen der Top-down-Einführbarkeit eines gedachten Bottom-up-Projekts. Es geht nicht. Man kann Schüler ja nicht dazu zwingen, selbst verwaltet und selbstständig hippe Kunst zu machen. Und ohne Zwang stellt sich heraus: Siehe da! Subkultur will sub bleiben. Individual- und Jugendkultur wollen vielleicht gar nicht in die Schule gezerrt werden oder von der Schule finanziell gefördert und in der Schule ausgestellt werden. Denn Schule ist eben nicht cool, selbst wenn es die Erich-Kästner-Schule in Hamburg ist, die unter allen Schulen in Deutschland mit Sicherheit eine der allerallercoolsten ist. Aber auch die allerallercoolste Schule ist halt in erster Linie erst mal auch nur eine Schule, und auch der Kulturagent mit seinen hippen Ideen ist in allererster Linie eben auch nur noch ein weiterer Erwachsener, der irgendetwas von den Schülern will, was die vielleicht gar nicht selbst wollen.

Krise

Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück:7

Schüler-Partizipation.

Ich habe mich verloren. Ich wollte doch nur spannende partizipative Superschülerkunst. Hip und erfrischend, innovativ und sozial gerecht. Avantgardistisch. Entschieden und gewollt von allen. Ich kam in den finstersten Wald. Wie kam ich nur auf diese bescheuerte Idee?

Wenn man möchte, dass einem alle im Raum zustimmend zunicken, dann sollte man so Sachen sagen wie: "Wichtig ist eine Kooperation auf Augenhöhe!" Augenhöhe herzustellen, ist einfach grundsätzlich eine gute Sache. Da sind sich alle immer einig. Nur: Es ist unmöglich. Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Kunstprojekten innerhalb des Systems Schule sind nicht auf Augenhöhe zu heben. Niemals. Egal, wie man sich verrenkt.

Vielleicht ist es möglich, in einem konkreten Projekt das Lehrer-Schüler-Dominierungsverhältnis abzuschwächen. Aufzuhebeln. Auszubremsen. Umzukehren. Aber es gibt weitere Machtgefälle und Dominierungsverhältnisse, die unverrückbar bleiben. Das Verhältnis Erwachsener – Kind zum Beispiel. Das Verhältnis Experte – Laie. Das Verhältnis Staat – Bürger. Das Verhältnis Institution – Einzelner. Wenn es nicht mehr der Lehrer ist oder die Lehrerin, der/die den Rahmen setzt, sondern die Jugendlichen mitbestimmen, entstehen neue Machtgefälle. Das Verhältnis Mehrheit – Minderheit. Das Verhältnis dominierende Gruppe – periphere Gruppe. Wir können kein Projektformat entwickeln, das den einzelnen Schüler oder die einzelne Schülerin aus allen Zwängen und Dominierungsstrukturen befreit. Und das gilt umso mehr, je jünger die Schülerinnen und Schüler sind.

Selbstverständlich treffen wir formale und inhaltliche Vorentscheidungen aus "Erfahrung" und aus der Vorstellung heraus, dass wir wissen, was gut für die Kinder ist. Wir – die Erwachsenen – entscheiden, welche Erfahrung die Kinder machen sollen. Je jünger die Teilnehmer, desto klarer und unverrückbarer ist dieses Gefälle von Wissen und Macht, und desto unmöglicher und auch unerstrebenswerter erscheint die Vorstellung, man könnte beziehungsweise müsste dieses Dominierungsgebilde überhaupt aufhebeln. Und junge Schüler suchen die Bestätigung eines Erwachsenen für ihren Lernprozess8. Ein Kleinkind, das sein erstes Bild kritzelt, zeigt es sofort Mami und will gelobt werden. So läuft Lernen. Von Natur aus. Es gibt natürliche Dominierungsstrukturen, die immer wirken und die den Spielraum für "echte Partizipation" an Schule sehr weitreichend begrenzen.

Aber Augenhöhe herzustellen, ist auch zwischen Erwachsenen überhaupt nicht immer sinnvoll. Soll wirklich die Lehrerkonferenz demokratisch darüber abstimmen, was für ein Kunstprojekt wir machen? Oder soll das vielleicht lieber der Schulleiter entscheiden? Oder die Kulturbeauftragte? Oder die künstlerischen Fachkollegen? Mit welcher Kompetenz? Qua Amt? Qua Expertise? Soll ich das vielleicht entscheiden? Mit welcher Legitimation? Außer, dass ich persönlich vielleicht denke, ich bin dafür prädestiniert? Oder weil die Schulleiterin vielleicht denkt: Das ist ein Kulturagent, was auch immer das ist, aber der hat das Logo von der Kulturstiftung des Bundes auf seiner Visitenkarte stehen, der wird das ja wohl schon irgendwie besser wissen! Will ich wirklich, dass der Physiklehrer und die Sozialpädagogin mit dem internationalen Starchoreografen über das Bühnenbild auf Augenhöhe diskutieren? Holen wir nicht Expertinnen und Experten gerade deswegen an die Schule, weil sie etwas besser können oder besser wissen als die Leute, die bereits da sind? Sind künstlerische Prozesse in irgendeiner Form sinnvoll demokratisch zu gestalten? Will ich über Regie-Entscheidungen meine Klasse per Handzeichen abstimmen lassen?

Nein! Nein! Nein! Nein! Nein!

Läuterung

Vier Jahre sind vergangen. Vielleicht erst mal durchatmen.

Ich bin ein bisschen älter geworden. Vielleicht auch ein bisschen schlauer. Ich bin auch nicht mehr ganz so frisch. Und die Natur schlug zurück: Ich habe graue Haare bekommen, interessanterweise auf der linken Kopfhälfte viel mehr als auf der rechten. Darüber hinaus ist es für mich heute unverständlich, warum ausgerechnet Partizipation eigentlich alle immer so Spitze finden.

Es besteht eine Vielzahl von Dominierungsstrukturen an Schule. Es besteht eine Vielzahl von Machtgefällen in künstlerischen Projekten. Das ist erst mal nicht immer böse. Ganz im Gegenteil.

Gleichwohl kann es ausgesprochen interessant sein, die an Schule vorherrschenden Machtstrukturen zu untersuchen. Über die dortigen Dominierungsbeziehungen zu reflektieren. Und in künstlerischen Projekten in experimentellen Settings die Schüler-Lehrer-Rolle teilweise umzukehren. Die institutionellen Regeln für einen Moment außer Kraft zu setzen. An das partielle Expertenwissen von Jugendlichen anzudocken. Externe Künstlerinnen und Künstler auch zu Lernenden zu machen. Peripheren Gruppen eine Plattform zu gewähren.

Nur ist mir klar geworden, dass niemals alles gleichzeitig geht. Mir ist klar geworden, dass vollständige Partizipation in schulischen Kunstprojekten überhaupt nicht zu erreichen ist. Und dass dies auch überhaupt nicht erstrebenswert ist. Deswegen sollte man sich schon vor jedem Projekt bewusst machen, auf welches Dominierungsverhältnis man sich eigentlich genau konzentriert. Und warum eigentlich. Und das dann vielleicht auch mit den Projektbeteiligten vorher aushandeln, denn das Missverständnispotenzial ist riesig, wann immer es um Partizipation geht.

Partizipation an sich ist für mich erst mal kein sinnvolles Ziel in schulischen Kunstprojekten. Es ist überhaupt kein Ziel. Es ist eine Methode, die in ausgesuchten Momenten und in klar umrissenen Grenzen durchaus interessant sein kann. Manchmal jedenfalls. Immerhin. Prima.

1 Counter Strike ist hier als Metapher zu verstehen für das jeweils gerade angesagte Computerspiel, das alle über 40 für ein untrügliches Zeichen für den Untergang des Abendlandes halten. Natürlich spielt heute schon lange keiner mehr Counter Strike. Das ist ja voll 00er.

2 www.kulturagenten-programm.de/laender/projekte/5/83

3 www.kulturagenten-programm.de/laender/projekte/5/292

4 Vgl. Rogg, Ursula: "Teilhaben oder Mehrgeben. Partizipation im System Schule", in: Kooperationsprozessor – Gemeinsam etwas bewegen. Onlinepublikation der Halbzeittagung des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2014.

5 Mein damalig radikalisierter Geist und meine damals geschundene Seele haben zur Folge, dass ich den Inhalt des exzellenten Vortrags von Prof. Dr. Carmen Mörsch natürlich nur völlig unzureichend und arg verzerrt wiedergebe. Was wirklich gesagt wurde: Mörsch, Carmen: "Kulturinstitutionen kooperieren mit Schulen: Gedanken zu einer Zweckgemeinschaft mit einem erweiterten Zweckbegriff", in: Kooperationsprozessor – Gemeinsam etwas bewegen. Onlinepublikation der Halbzeittagung des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2014.

6 www.kulturagenten-programm.de/laender/projekte/5/291

7 Nach Karl Kraus.

8 Vgl. Fauser, Peter: "Kulturelle Bildung – Bemerkungen aus der Sicht einer pädagogischen Lerntheorie", in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015.