Michaela Schlagenwerth
Lina-TV: Eine Filminstallation als Prozess
Michaela Schlagenwerth

Lina-TV: Eine Filminstallation als Prozess

Wie die Berliner Lina-Morgenstern-Schule mit Hilfe einer Filminstallation mit sich selbst kommuniziert

Manche Dinge kommen einem, wenn es sie nur lange genug gibt, ganz selbstverständlich vor – und man kann sich gar nicht mehr so recht daran erinnern, wie es war, als alles anfing. An das ungläubige Kichern der Schülerinnen und Schüler der Lina-Morgenstern-Schule zum Beispiel, als sie sich die ersten Male über die Leinwand des Schulfoyers flimmern sahen. An die Aufregung, Freude und manchmal auch Empörung dieser ersten Monate.

Seit knapp drei Jahren gibt es in der Lina-Morgenstern-Schule das Lina-TV, eine Filminstallation im Foyer der Schule. Seitdem ist das in einem circa 15-Minuten-Loop laufende, inzwischen wöchentlich wechselnde Programm auf Sendung. Ganz einfach hat es mit dieser Installation begonnen. Der Hausmeister hat an die Wand ein weißes Leinwandrechteck gemalt, an die Decke wurden ein Beamer und ein Lautsprecher montiert, und in der Besenkammer unter der Treppe wurde der Rechner für die Bedienung untergebracht. Ein paar Lehrer brannten Fotos von Klassenfahrten und besonderen Unternehmungen auf DVD, die in einer Endlosschleife abgespielt wurden. Bald entstanden erste kleine Mixturen aus Fotografien und Filmaufnahmen, mit schriftlichen Kommentaren versehen und mit Musik unterlegt.

Inzwischen ist Lina-TV ein komplexes Gebilde, eine Installation, mit der die Schule über sich selbst kommuniziert. Es gibt diverse Filmformate, darunter als feste Konstante eine Reporter- und eine Stop-Motion-AG, und einzelne Filmprojekte mit zum Teil recht bekannten Künstlerinnen und Künstlern. Entstanden ist die Idee zu Lina-TV – auf den Namen "Lina-TV" sollte das Format aber erst später von den Schülerinnen und Schülern der ersten Film-AG getauft werden – während dreier Treffen zu Beginn des Kulturagentenprogramms bei den ersten "Runden Tischen Kultur", an der sich zahlreiche Lehrer aus unterschiedlichen Fachbereichen beteiligten. Der "Runde Tisch Kultur", das war, vor allem in der wichtigen Anfangsphase des Kulturagentenprogramms, das Forum, um Grundsätzliches zu diskutieren und neue Konzepte zu entwickeln: Was sind die Stärken und was die Schwächen der Schule? Und was brauchen und wollen wir? Das waren die Ausgangsfragen.

Wir wissen viel zu wenig voneinander. Viele Klassen unternehmen spannende Dinge, aber davon bekommt in der Schule sonst niemand etwas mit. Unseren Schülerinnen und Schülern fehlt es an Selbstvertrauen. Sie haben nicht den Mut, sich zu zeigen, sich selbst zu präsentieren. Es fehlt ein Ort, an dem wir zusammenkommen können, ein Ort des Austauschs, der Begegnung. Das waren einige der Grundaussagen.

Man bräuchte eine Art Marktplatz, sagte ein Lehrer; einen Marktplatz mit Film, sagte eine andere. So hat es angefangen. Auf einer Gesamtkonferenz wurde das Ganze vorgestellt und gleich beschlossen. Ein junger Lehrer meldete sich: Die Idee sei toll. Er sei bereit, fürs Erste die technische Betreuung zu übernehmen, und hoffe, es bleibe deswegen nicht gleich alles an ihm hängen. Aber natürlich kam es dann genau so – er war jetzt bis auf Weiteres der Zuständige. Bis Lina-TV wuchs. Ein Musiklehrer erhielt für die Betreuung eine erste Freistellungsstunde. Das Programm von Lina-TV wurde künstlerischer, anspruchsvoller. Aber die "Niedrigschwelligkeit" von Lina-TV als ein Format, an dem alle mitmachen können und sollen, ist eines der zentralen Leitlinien geblieben. Das heißt konkret: Auch ein einfaches abfotografiertes Blatt Papier, auf dem man eine Aktivität anbietet oder eine Mitteilung macht, wird auf Lina-TV gesendet. Längst gibt es eine eigene Lina-TV-Beauftragte mit einem festen Stundenkontingent, die jede Woche ein neues Programm zusammenstellt und für die Schülerinnen und Schüler wie für die Lehrpersonen als Ansprechpartnerin fungiert. Auch wer eine Kamera ausleihen will, wer Hilfe beim Schneiden braucht oder wer von Schulaktivitäten weiß, die unbedingt gefilmt werden sollten, wendet sich an sie.

Selbstverständlich war das alles beim Start von Lina-TV noch nicht so. In den ersten Wochen gab es – neben Begeisterung und Staunen – auch Empörung unter den Schülerinnen und Schülern. Einzelne, die sich zunächst über ihren Auftritt gefreut hatten, forderten, nachdem sie von anderen Schülerinnen und Schülern gehänselt worden waren, aus den Clips herausgeschnitten zu werden. Beim "Runden Tisch Kultur" und anschließend in der Gesamtkonferenz wurde darüber diskutiert. Zu Lina-TV, das wurde deutlich, müsse auch Medienpädagogik gehören. Zudem wurde Lina-TV auch im Unterricht zum Thema. Wer sich zeigt, macht sich auch angreifbar – vor allem darüber wurde diskutiert. Der Hohn, auch das wurde deutlich, war Teil eines Erschreckens über Veränderung, darüber, dass sich Schülerinnen und Schüler im öffentlichen Raum Schule aus der sicheren Position des Nicht-Agierens herausbewegten. Inzwischen hat sich diese Aufregung gelegt. Maßgeblich auch dadurch, dass die Schülerinnen und Schüler selbst zunehmend zu den Machern der Filme wurden. Zum Sich-Zeigen, das war Teil des Prozesses, gehört auch ein Standing, um eventuelle Angriffe zurückweisen zu können. Wer sich heute an der Lina-Morgenstern-Schule anmeldet, der unterschreibt, dass er einverstanden ist, sowohl an Lina-TV als auch am Tanzunterricht teilzunehmen.

Nicht wenige Schülerinnen und Schüler kennen, bevor sie auf die Schule kommen, bereits einige der schönsten Clips, die im Laufe von Lina-TV entstanden sind, von YouTube: Zum Beispiel "Fünf Postcards", Tanzclips, die die Choreografin und Filmemacherin Jo Parkes und der Filmemacher Sven Hill mit Schülerinnen und Schülern des damaligen 9. Jahrgangs drehten.

Als diese Filme im Sommer 2013 beim ersten "Lina Moves"-Schulfest uraufgeführt wurden, waren die Schülerinnen und Schüler sprachlos. Dass sie Teil von Filmen dieses künstlerischen Levels sein könnten, dass sie so verdammt gut rüberkommen und welche Möglichkeiten sich für sie mit Lina-TV eröffnen könnten, das wurde ihnen im Rahmen dieses Festes in einer anderen Dimension bewusst. Wichtig für das wachsende Selbstverständnis des Sich-Zeigens war auch, dass die Lehrerinnen und Lehrer selbst einen Perspektivwechsel vorgenommen haben. In einem ziemlich komischen und rasant-anarchischen Tanzclip, in dem zehn Lehrerinnen und Lehrer über Tische und Stühle des Chemieraums krabbeln – bis sie schließlich von den Hokuspokus-Düften der Chemielehrerin dressiert werden – stellten sie sich selbst in ihrer Lehrerrolle zur Disposition. Lina-TV heißt eben auch genau das. In den Tagen vor dem Fest, auf dem diese Filme erstmals gezeigt wurden, schien die Schule wie in Angst erstarrt. So eine Art von Programm hatte es an der Lina-Morgenstern zuvor noch nicht gegeben. Vor allem die Struktur war vielen im Kollegium unheimlich: Die Schüler wurden in Großgruppen in Zeiteinheiten von 45 Minuten durch die Schule bewegt, um in der Aula Tanzaufführungen und einen Poetry-Slam, im Foyer die Filmuraufführungen zu sehen und die endlos lange Hofwand mit Tape-Art zu verschönern. Es gab die Sorge, dass die Schülerinnen und Schüler nicht durchhalten, das statt eines Kunstfestes ein Tag mit ständigen Disziplinierungsmaßnahmen stattfinden würde. Das hätte die Schule beschädigt und wäre nur schwer wiedergutzumachen gewesen. Stattdessen hat das Fest die Schule ins Staunen über sich selbst versetzt, sie zum Schweben gebracht. Viele Lehrer sagten, sie könnten sich nicht erinnern, je eine solche Leichtigkeit und Entspanntheit an der Schule erlebt zu haben.

Es folgte: Ein Quantensprung. Nach dem Fest und den anschließenden Ferien begannen im neuen Schuljahr mehrere Film-AGs. Ein Jahr später, beim "Lina Moves"-Schulfest 2014, saßen nicht mehr staunende Kinder bei den Filmuraufführungen, sondern sich stolz und selbstbewusst zurücklehnende Filmexperten, für die selbstverständlich war: Natürlich, das sind wir. Wir spielen Talkshow und machen uns über Sarrazin & Co lustig. Wir befragen Lehrer, die zum Teil etwas verlegen vor der Kamera darüber Auskunft geben, was sie als Schulleiter anders machen würden. Wir interviewen den die Schule besuchenden Staatssekretär für Bildung, Mark Rackles, und stellen selbstbewusst kritische Fragen. Und wir basteln uns in der Stop-Motion-AG fantastische eigene Bildwelten.

Lina-TV macht die Schülerinnen und Schüler zu selbständigen Akteurinnen und Akteuren, aber es eröffnet ihnen darüber hinaus in einer von Medien bestimmten Welt auch eine besondere Kompetenz. Weil es ihnen ein Wissen für die Wirkungsweisen von Film vermittelt, von der Gemachtheit der Bilder, von Dramaturgie, Bildästhetik und dem komplexen Zusammenspiel der unterschiedlichen Gestaltungsmittel.

Schaut man heute zurück, so sind die beiden wichtigsten Ergebnisse von Lina-TV folgende: Das Selbstverständnis der Schule hat sich verändert. Auf Lina-TV kann man sehen, wie viele spannende kulturelle Aktivitäten und künstlerische Angebote es an der Schule gibt – die parallel zu Lina-TV ständig weiter angewachsen sind, vor allem durch den Aufbau einer AG-Schiene im Ganztagsbereich mit einem vorwiegend künstlerischen Profil. Entstanden ist bei den Schülerinnen und Schülern wie den Lehrenden dadurch ein neuer Stolz auf die Schule, ein Gefühl von mehr Freiheit, mehr Offenheit. Lina-TV führt täglich allen, die an der Leinwand vorbeikommen, spielerisch vor, dass die Lina-Morgenstern-Schule sehr viel mehr ist als ein Ort der Wissensvermittlung. Und, noch wichtiger: Die Schülerinnen und Schüler sind dabei zu Akteuren geworden, die sich nicht nur selbstbewusst in Filmen zeigen, sondern die auch die Macher, die Regisseure, der meisten Filme sind.

Lina-TV ist ein nicht endender Prozess, in dem immer neue Ideen entstehen werden. Manche bewegen sich in einer langen Warteschleife, um dann ganz plötzlich realisiert zu werden. Andere versanden oder kommen nur millimeterweise vorwärts. Von Anfang an war eine der Visionen, möglichst viel Selbstverwaltung bei Lina-TV einzuführen. Aber eine gemischte Filmredaktion aus Schülerinnen und Schülern, Lehrenden sowie freien Kunstschaffenden ist immer noch genauso in Arbeit wie eine Filmjury. Die Idee einer Lina-Wochenshow mit wechselnden aktuellen Schulnachrichten konnte aus Mangel an Kapazitäten bislang noch nicht realisiert werden. Aber andere Prozesse haben sich verselbstständigt. Erste Schülerinnen und Schüler leihen sich Kameras, um in ihrer Freizeit zu drehen. Eigenständig werden Konzepte für Filme als Teil der Präsentationsprüfung entwickelt. Mit Nina Fischer & Maroan el Sani konnten international bekannte Künstler für ein einjähriges Filmprojekt mit der Willkommensklasse gewonnen werden. Ein Coaching-Programm ist in Vorbereitung, bei dem sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrende von einer Künstlerin/einem Künstler beim Filmemachen begleitet werden. Und eine neue Idee ist entstanden: Warum sollte Film nicht curricularer Bestandteil des Kunstunterrichts werden? Ein halbes Jahr Filmunterricht gemeinsam mit Kunstschaffenden, in dem man von Kameraführung über die Entwicklung eines Storyboards bis zum Schneiden das kleine Film-ABC lernt. Es wäre ein Schritt, mit dem sich Lina-TV wieder neu erfinden würde. Ach nein, es wäre kein Schritt, sondern ein großer Sprung. Warum nur, fragen wir uns verwundert, sind wir auf diese Idee nicht schon früher gekommen?