Leonie Krutzinna
Die DIN-Norm neu bemessen - Die Jugendkunstschule Biberach
Leonie Krutzinna

Die DIN-Norm neu bemessen - Die Jugendkunstschule Biberach

Die Jugendkunstschule setzt sich in Kooperation mit Künstlern für ein medienübergreifendes und interdisziplinäres Lehrkonzept ein.

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Die Klangskulptur, die Schüler der Grund- und Werkrealschule Munderkingen gemeinsam mit Künstlern der JUKS Biberach gestaltet haben.
Foto: Karl Philipp Schmitz

Das Leben von Kindern und Jugendlichen spielt sich auf einer Fläche von 21 mal 29,7 Zentimetern ab; zumindest an weiterführenden Schulen. Viel Raum zur Entfaltung der Gedanken bleibt ihnen zwischen kleinen Kästchen und akkuraten Linien nicht. Letzten Endes aber entscheidet überwiegend das, was auf einem DIN-A4-Papier steht, über Noten, Leistung und Erfolg oder eben auch über Misserfolg der jungen Menschen. Wie viel Platz bleibt da für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, für Interessen und Neigungen? "Die gerade Linie ist die einzige unschöpferische Linie", befand der Maler Hundertwasser. Die Künstlerin Andrea Tiebel-Quast und der Percussionist Friedrich Glorian sehen das ähnlich und versuchen die DIN-Norm im Schulunterricht neu zu bemessen. In Kooperation mit der Jugendkunstschule Biberach wurden sie beauftragt, am Schulzentrum Munderkingen ein fächerübergreifendes Kunstprojekt zu realisieren.

"In der Großstadt ist Kunst viel selbstverständlicher"

Es war schwer, die Kooperation vor unserem Vorstand zu rechtfertigen, da Munderkingen außerhalb des Landkreises Biberach liegt", erklärt Susanne Maier, die seit September 2013 als Schulleiterin an der Jugendkunstschule Biberach, kurz JUKS, beschäftigt ist. Als gemeinnütziger Verein soll die Jugendkunstschule eben dort wirken, wo ihre Unterstützerinnen und Unterstützer sind. Doch vor Ort für Bildende Kunst, Theater, Tanz, Medien und Literatur zu begeistern, ist oftmals gar nicht so einfach. Das 30.000-Einwohner-Städtchen liegt im nördlichen Oberschwaben, knapp 50 Kilometer südlich von Ulm. "Wir sind hier eben auf dem Land, in der Großstadt ist Kunst viel selbstverständlicher", erklärt Susanne Maier und fügt fast entschuldigend hinzu: "Wir sind noch nicht so etabliert, Sport-, Turn- oder Musikvereine haben hier eine längere Tradition."

Wenig integriert hebt sich auch das moderne Glasgebäude von der mittelalterlichen Fachwerkarchitektur im Stadtkern von Biberach ab. Seit acht Jahren beherbergt es nun die JUKS; die Schule selbst wurde bereits 1992 gegründet. Susanne Maier möchte mit den Angeboten der Jugendkunstschule das Freizeitleben bereichern und versteht sich daher nicht als Konkurrenz zu den Sportvereinen oder der freiwilligen Feuerwehr vor Ort. Die bewegungsintensiven, eher sportlichen Programme werden am besten angenommen: Das Tanzprogramm der JUKS-Dozentinnen hat sich im Lauf des über 20-jährigen Bestehens gut etabliert, egal ob Ballett, Stepptanz, Hip-Hop, Bewegungsimprovisation oder tänzerische Früherziehung. Doch "das Problem", so Maier, "ist die Kunst. Ihr haftet manchmal etwas Elitäres an." Jedes Kind malt gern, aber eine Malschule besuchen nur "die höheren Töchter" – mit diesem Klischee sieht sich die JUKS so manches Mal konfrontiert.

Angst vor der eigenen Kreativität

Gegen die Auffassung, dass Kunst von Können komme, mussten sich auch Andrea Tiebel-Quast und Friedrich Glorian zunächst zur Wehr setzen. "Bei den Schülerinnen und Schülern haben wir zu Beginn sehr viel Angst gespürt. Angst, etwas falsch zu machen, und Angst vor Bewertung", erinnern sie sich an die Anfänge in Munderkingen. Und Andrea Tiebel-Quast fügt hinzu: "Unsere Hauptaufgabe war zunächst vor allem, ihnen diese Angst zu nehmen. Dazu gehört es auch, den Kindern das Selbstbewusstsein zu vermitteln, dass das, was sie machen, für andere wertvoll ist. Wenn ich sie gelobt habe, konnten viele das gar nicht annehmen. Sie müssen also erst einmal lernen, zu sich selbst zu stehen und sich selbst zu vertrauen."

Künstlerische Expertise ist bei Andrea Tiebel-Quast und Friedrich Glorian zunächst einmal nicht gefragt. "Die Lehrer sind chronisch überlastet, sie haben viel zu große Klassen und können den einzelnen Schülern gar nicht gerecht werden", so die Künstlerin. Im Klassenzimmer beobachtet sie zahlreiche Probleme. Neben Sprach- und Lernschwierigkeiten empfindet sie vor allem die sozialen Kompetenzen bei den Schülerinnen und Schülern als defizitär. Ziel des Künstlerduos ist es, Kindern durch die Beschäftigung mit Kunst, Theater und Musik ihre Kompetenzen aufzuzeigen, für die im normalen Unterricht oftmals kein Raum ist: "Wir versuchen ein dreidimensionales Denken zu entwickeln, in dem auch die Hand- und Körperintelligenz gefragt ist", so Andrea Tiebel-Quast, "denn es gibt Kinder, die bestehen in der Schule einfach nicht in der bloßen Abfrage der gängigen Kompetenzen." Hinter der Lese-Rechtschreib-Schwäche mag sich so manches künstlerische Talent verbergen und hinter der Dyskalkulie ein Kind mit absolutem Gehör. Im Raster des DIN-A4-Papiers können diese Begabungen jedoch nicht ausgelebt werden, deshalb entschied man sich in Munderkingen mithilfe des Kulturagentenprogramms für den interdisziplinären Schulunterricht unter Anleitung der externen Künstler.

In der JUKS wird der Leistungsbegriff ohnehin mit anderen Paramatern bemessen. "Die Jugendkunstschule gibt Raum zum Ausprobieren, Experimentieren, Raum, sich selbst mit anderen durch die Kunst zu erfahren", erläutert Susanne Maier. "Mit Anspruch, aber ohne Bewertung." Die Probleme, die in der Schule auftauchen, kennt sie aber auch aus ihrer eigenen Arbeit: "Die Kinder und Jugendlichen sind sehr zurückhaltend, wenn sie aus einer eigenen Haltung heraus agieren sollen, das merken wir beispielsweise bei uns in den Theaterprojekten. Sie sind geschult im Parieren, aber nicht darin, intuitiv zu handeln. Dabei ist das elementar für die Persönlichkeitsentwicklung." Sie zögert kurz und fügt mit Bestimmtheit hinzu: "Wir sehen unseren Auftrag darin, die Schüler auf einer professionellen Ebene mit kreativem, nonlinearem Denken und Handeln zu motivieren." Susanne Maier vertritt ihren Anspruch an eine soziokulturelle Vermittlungsarbeit, dementsprechend weiß sie auch, dass "nicht jeder von Haus aus einen Bezug zum künstlerischen Bereich bekommt". Umso wichtiger ist es, dass sowohl beim schulischen wie außerschulischen Lernen Kreativität gefordert und gefördert wird.

Allianzen zwischen Bildung und Kultur

Die JUKS ist kein Jugendclub und kein soziokulturelles Zentrum. Es ist ein Haus mit einer Komm-Struktur, das Programm wird also überwiegend in den eigenen Räumen vermittelt, und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer müssen über eine hohe Motivation und Eigeninitiative verfügen, um das Kursprogramm zunächst überhaupt wahrzunehmen und sich in einem zweiten Schritt auch anzumelden. Es richtet sich vornehmlich an Kinder und Jugendliche vom Vorschulalter bis zum 27. Lebensjahr. Der Reiz, Allianzen mit Schulen einzugehen, ist also insofern groß, weil auf diese Weise eine breite Zielgruppe als potenzielle Besucherinnen und Besucher auch für die eigene Institution angesprochen werden kann. Die Leiterin der Jugendkunstschule musste nicht lange überlegen, als ihr der Munderkinger Kulturagent K. P. Schmitz von seiner Idee einer Kooperation mit der JUKS erzählte. Auch ihr liegt die Förderung von kulturellen wie sozialen Kompetenzen am Herzen.

Entstanden ist bislang zum Beispiel ein Theaterprojekt: "Schülerinnen und Schüler haben mit einem Krimiautor Kurzgeschichten entwickelt. Die Klassenlehrerin und ein Theaterpädagoge arbeiteten dann an einer szenischen Umsetzung für die Bühne", erzählt Susanne Maier. Das interdisziplinäre und intermediale Arbeiten hat sich bewährt, sodass mit Andrea Tiebel-Quast und Friedrich Glorian wieder zwei unterschiedliche Expertisen zusammengebracht wurden. Zusammen mit einer 5. Klasse entwickelten sie eine Klangskulptur: "Diese Auseinandersetzung war nicht nur für die Schülerinnen und Schüler eine neue Erfahrung, sondern inspirierte die Künstler selbst", so Maier.

Evolution statt Revolution

Doch eine Kooperation zwischen zwei Schulen birgt auch Konfliktpotenzial: "Meistens tun sich während des Kooperationsprozesses Klüfte auf, obwohl wir zwei auf den ersten Blick sehr ähnliche Institutionen sind", bemerkt Susanne Maier. Sie sieht auf der einen Seite "die Dozenten einer Schule beziehungsweise die Künstler, die einen Anspruch an ein Projekt mitbringen, weniger leistungs-, mehr prozessorientiert", und auf der anderen Seite "die Lehrer, die einen strengen Lehrplan einhalten und produktorientiert sein müssen". Gerade hier weiß sie die vermittelnde Funktion des Kulturagenten zu schätzen: "In diesen Aspekten eine Person vor Ort zu haben, die beide eben doch nicht so ähnliche Institutionen kennt und dadurch zwischen Kulturinstitution und Schule moderieren kann, den Prozess unterstützt und auch bei praktischen Fragen zur Seite steht, war eine hervorragende Erfahrung und vor allem eine große Motivation für alle Beteiligten", betont sie. Den Kulturagenten sieht sie als "Brücke zwischen dem kreativen, freien Prozess und dem stringenten Leistungsplan der Schule", wodurch "Ergebnisse zustande kommen, die nicht dem gewöhnlichen Standard entsprechen, die überraschen und faszinieren können."

Begeistert vom Kulturagentenprogramm zeigen sich nicht nur die JUKS, sondern auch die von ihr entsandten Künstlerinnen und Künstler, vor allem aufgrund der Langfristigkeit. "Es setzt keine Revolution, sondern eine Evolution in Gang", meint Friedrich Glorian. "Und das ist viel wichtiger, weil sich von innen heraus das Schulsystem entwickelt und besser auf die Bedürfnisse sowohl von Kindern als auch von Lehrkräften eingegangen wird." Er selbst beschreibt den Vertrauensgewinn seitens der Kinder als einen oftmals zeitintensiven Prozess: "Wir als Künstler brauchten relativ lang, um einen Zugang zu den Kindern zu finden, aber jetzt, wo sie uns kennen, sind wir wichtig für ihre Entwicklung geworden, nicht nur im kreativen, auch im sozialen Bereich. Wir werden zu Bezugspersonen, nicht unbedingt wie Väter oder Mütter, aber wir füllen eindeutig eine Lücke im Leben der Kinder. Und diese Beziehungen brauchen eben ihre Zeit, um zu wachsen."

Dem Anspruch an eine behutsame und beständige Integration von Kunst in den Schulalltag folgt auch das Projekt des Künstlerduos. Mitten auf dem Schulgelände soll eine aus organischen Materialien zusammengesetzte Klangskulptur entstehen. Mit nur drei Begriffen haben sie ihre Arbeit in Angriff genommen: Mensch, Maschine, Zukunft. "Wir haben zunächst ganz viel geredet und dabei versucht, die Kinder dorthin zu lenken, sich zu überlegen, was gestalterisch umgesetzt werden könnte", so Andrea Tiebel-Quast. Über den Zeitraum eines Schuljahrs wird nun immer dienstags von 10.00 bis 12.30 Uhr zur regulären Unterrichtszeit fächerübergreifend an der Klangskulptur gearbeitet. Gleichzeit wird jedes Unterrichtsfach auch anwendungsbezogen in der Projektarbeit aufgegriffen: Statische Berechnungen und die Auseinandersetzung mit Flächenmaßen kommen dem Mathematikunterricht zugute, für den Deutschunterricht wird das Protokollieren geübt, als Aspekt des Kunstunterrichts die Metamorphose an der Skulptur fotografisch festgehalten. "Wir arbeiten sowohl fächer- als auch medienübergreifend, Dreh- und Angelpunkt ist immer das Projekt", erklärt die Künstlerin. Auf diese Weise habe der Lernstoff einen konkreten Bezugspunkt und bleibe bei den Schülerinnen und Schülern wesentlich besser im Gedächtnis, so Tiebel-Quast.

Lernen und lehren ohne Kompetenzgerangel

Doch die Arbeit an der Skulptur vermittelt nicht nur schulischen Lernstoff. Auch Materialkunde, etwa über Holz, Aluminium, Stahl, Zement oder Blech spielt eine Rolle. Die Verwendung von Abfall liefert Wissen über Mülltrennung, und nicht zuletzt wird handwerkliches Gestalten beispielsweise durch Bohren und Sägen geübt. Dabei darf es auch ruhig körperlich anstrengend werden. Vieles spielt sich draußen ab, im Wald, um Materialien zu sammeln, und auch der Platz auf dem Schulhof um den Standort der Skulptur herum soll geplant angelegt werden.

Kompetenzgerangel zwischen Schule und der künstlerischen Projektleitung können die Künstlerin und der Percussionist in Munderkingen unterdessen nicht beklagen. Dass ein so herzlicher Empfang nicht selbstverständlich ist, weiß aber auch Andrea Tiebel-Quast, die schon an vielen anderen Schulen projektbasiert gearbeitet hat: "Die reibungslose Zusammenarbeit zwischen Schulleitung und Lehrpersonal ist wichtig, denn nur mit Teamgeist lässt sich ein Schulprojekt für alle Beteiligten zufriedenstellend realisieren."

In Munderkingen lässt sich der positive Effekt der Kulturagentenprojekte auf die Schulatmosphäre bereits registrieren. Sie tragen mit dazu bei, dass die Projekterfahrungen über das Klassenzimmer hinaus verbreitet werden. Für die Klangskulptur konnten sogar schon die Kolleginnen und Kollegen der Darstellenden Künste begeistert werden, die mit anderen Schulklassen in Munderkingen arbeiten: Sie entwickeln bereits eine Performance, die im Umfeld der Skulptur entstehen soll. Über den interdisziplinären Austausch und die Möglichkeit zur Vernetzung freuen sich nicht nur die Künstlerinnen und Künstler: Auch die Kinder kommen einander näher, "es stärkt den klassenübergreifenden Kontakt", wie Andrea Tiebel-Quast beobachtet hat.

Kultur soll ganzheitlich erziehen

Nichtsdestotrotz sieht die Künstlerin noch Luft nach oben. Nicht nur in der Schule, sondern auch in der Berufsausbildung und am Arbeitsplatz müsste ihrer Meinung nach Kultur und Kreativität eine größere Rolle spielen. "Burnout, Depressionen, Mobbing, Überlastung nehmen immer mehr zu. Es fehlt der Zugang zur Emotionalität. Die Basis ist ja, zu wissen, wie man miteinander umgeht, um überhaupt Leistung erbringen zu können", erläutert sie. Auch Susanne Maier stimmt zu: "Es geht um ganzheitliches, menschliches Erziehen", betont sie, sowohl in der Schule als auch in der Jugendkunstschule. Dass das Kulturagentenprogramm auch dazu beigetragen hat, diese in Biberach ein bisschen besser zu etablieren, freut sie ganz besonders: "Die Schularbeit ist eine gute Werbung für die Jugendkunstschule, zumal wir somit auch besser kommunizieren können, dass wir bemüht sind, Zugangsbarrieren aufzuheben, beispielsweise durch Freiplätze für Kinder, deren Eltern sich die Kursgebühr nicht leisten können." Und auch inhaltlich konnte sie für das Programm der JUKS in den Bereichen Tanz, Theater, Medien und Kunst Inspirationen gewinnen: "Aus den Schulprojekten haben wir gelernt, dass die Bündelung von Kompetenzen mehrerer Künstler sehr gewinnbringend ist."

Künftig möchte Susanne Maier verstärkt die Aspekte Rhythmus und Sprache aufgreifen. Besonders wichtig für das Fortbestehen der Jugendkunstschule ist ihr "neben einer klassischen Erziehung" auch "die Reaktion auf aktuelle und gesellschaftliche Themen". Kunst sei immer damit verbunden, auch sozial interessiert und engagiert zu sein. "Ohne die Basics", die künstlerischen Techniken und das theoretische Wissen also, sei "Kunst kaum möglich, aber der spannende und interessante Teil kommt meistens dann, wenn Gewonnenes angewendet werden kann, wenn man seine Gedanken, seine Kritik auf andere Art und Weise sprechen lassen kann".

Um eine andere Sprache bemüht man sich also auch in der JUKS, zumindest um eine andere sprachliche Fixierung der Gedanken. Geschrieben wird hier, wenn überhaupt, auf großen Plakaten und Papierrollen. Von einer Normierung der Schriftträger hält Susanne Maier genau so wenig wie von der Normierung der Gedanken.