Barbara Müller
Was bedeutet Kreativität in der Schule?
Barbara Müller

Was bedeutet Kreativität in der Schule?

Fragen und Antworten zu Ute Pinkerts Beitrag „Kollisionen? Kreativität und Performance – Schlüsselbegriffe kultureller Bildung im Kontext kulturbestimmender Diskurse“

Im Gespräch mit Helmut Schafhausen, ehemaliger Didaktischer Leiter und Kulturbeauftragten der Martin-Luther-King-Gesamtschule Dortmund und Koautor von Büchern zum "Szenischen Lernen"

Seit 2011 bin ich Kulturagentin für kreative Schulen. Schon vorher war der Begriff der "Kreativität" für meine Arbeit von zentraler Bedeutung. Als Regisseurin habe ich unzählige themenorientierte Theaterprojekte mit Jugendlichen durchgeführt und Stücke selbst entwickelt, als Dozentin theaterpädagogische Lehrerfortbildungen geleitet. Schon seit 1991 arbeite ich mit Helmut Schafhausen zusammen.

Gemeinsam haben wir das szenische beziehungsweise kreative Lernen entwickelt: Unterrichtsinhalte unterschiedlicher Fächer werden mit szenischen, spielerischen und künstlerischen Methoden vermittelt. Als Kulturagentin merkte ich einmal mehr, dass Kreativität ein Schlüsselbegriff in vielen Zusammenhängen ist und an der Schnittstelle von Kultur und Schule eine besondere Attraktivität zu besitzen scheint. Er hat aber so viele Bedeutungsebenen, dass mir selten klar ist, wie er gerade verwendet wird. Innerhalb von Projekten ist es mir oft begegnet, dass die Beteiligten ganz unterschiedliche Auffassung von Kreativität in der Schule hatten. Also war es für meine Arbeit als Kulturagentin grundlegend wichtig, Begriffe, Haltungen und auch Rollen, die damit zusammenhängen, zu präzisieren. Worauf bezieht sich Kreativität im schulischen Kontext? Was bedeutet schulische Kreativität? Wie kann ich eine Haltung zu diesem Begriff entwickeln? Wie können Personen, die zwischen Schule und Kultur arbeiten, diesen schillernden Begriff produktiv umsetzen?

Um dies zu klären, habe ich mit Helmut Schafhausen, dem ehemaligen Kulturbeauftragten der Martin-Luther-King-Gesamtschule Dortmund, den Beitrag von Ute Pinkert daraufhin abgeklopft, welche Bezüge der Begriff Kreativität – so wie Pinkert ihn definiert – im schulischen Kontext hat. Es war uns wichtig, den Leserinnen und Lesern – vor allem den Praktikerinnen und Praktikern –konkrete Informationen zu geben, was unserer Meinung nach Kreatives Lernen und Arbeiten im schulischen Kontext bedeuten und leisten können.

Barbara Müller: Ute Pinkert versucht in ihrem Artikel "Kollisionen" unter anderem dem Begriff "Kreativität" einen konstruktiven Gebrauchswert für die Schnittstelle von Schule und Kunst zu geben. Wie bewerten Sie als Lehrer und Leiter vieler kultureller Projekte den Beitrag innerhalb der Diskussion zur kulturellen Bildung an Schulen?

Helmut Schafhausen: Ich finde es gut, dass die Autorin den Hintergrund dieser Debatten skizziert, indem sie die Trenddebatte "Kreativität als Innovationskraft" in ökonomischen Zusammenhängen sieht und sie einem eher kritischen Ansatz, wie ihn beispielsweise Peter Sloterdijk formuliert, gegenüberstellt. Diesen Hintergrund muss man sich bewusst machen und darüber kann man mit den Beteiligten sprechen. Auf die Schulebene bezogen, ist es nicht egal, ob ein Kulturprojekt das "Sahnehäubchen" für die Abiturfeier sein soll oder in ein Kreativkonzept der Schule eingebettet ist. Gespräche über dieses Thema sind anfangs vielleicht nicht einfach, aber sinnvoll.

Ute Pinkert stellt heraus, dass der Kreativitätsbegriff mehrdeutig ist: Er kann ökonomisch definiert sein – im Sinne von "kreativ zu sein heißt innovativ zu sein" – oder "gesellschaftlich widerständig" bedeuten. Welche Bedeutungsebene ist im schulischen Kontext relevant? Oder meint "Kreativität im Schulalltag" etwas ganz anderes?

Der Begriff "kulturelle Bildung" kommt ja mit schwerem Gepäck daher, man assoziiert dicke Museumskataloge und kundige Verwendung von Fachbegriffen. Das erleichtert das Gespräch in schulischen Kontexten nicht gerade. Für viele Schüler (aber auch Lehrer) sind künstlerische Projekte an der Schule ein Einstieg in die kulturelle Bildung. Pinkert weist zu Recht darauf hin, dass im Grunde Begriffe wie "Kreativität" leer sind und gefüllt werden müssen. Und diese konkrete Füllung ("Was heißt denn Kreativität nun?") sollte mit den Beteiligten geklärt werden.

Das stelle ich mir sehr mühsam und aufwendig vor. Behindert es nicht eher ein Projekt der kulturellen Bildung an Schulen, wenn man mit den Beteiligten einen so vielschichtigen Begriff diskutiert? Als Kulturagentin habe ich oft feststellen müssen, dass übergeordneten Diskussionen und Erörterungen wenig Raum und Zeit eingeräumt wird. Hat Ihnen der Beitrag von Pinkert konkrete Anregungen gegeben, die für Ihren Arbeitsbereich an Schule nützlich sind?

Der Artikel bildet aus meiner Sicht eine akademische Debatte ab: Kategorien, die aus professionellen Kontexten stammen und oft schon sehr spezialisiert sind, erfassen die Realität in Schule nicht unbedingt oder sind für Nichtprofis kaum verständlich und bauen so möglicherweise Barrieren auf. Ein Beispiel: Die Perspektive der Schülerinnen und Schüler wird nicht wirklich angesprochen beziehungsweise auf den Leistungsaspekt verengt. Die Wirklichkeit ist viel komplexer: Bei Schülerinnen und Schülern spielen viele verschiedene Dinge eine Rolle, wenn sie eine Aufführung machen. Vor allem ist der Prozess davor mindestens genauso wichtig wie die Performance selbst.

Welche Vorbedingungen könnten helfen, Kreativität im schulischen Kontext zu definieren? Ute Pinkert empfiehlt, die Bildungsvorstellungen aller Akteure zu klären, eine gemeinsame Zielsetzung zu entwickeln oder auch Handwerken und Gärtnern – als Gegenentwurf eines der Wachstumslogik verpflichteten Kreativitätsbegriffs – in den Fokus zu nehmen.

Es ist sinnvoll, eigene Kriterien für Kreativität zu entwickeln, um Projekte und ihre Bedingungen besser planen und evaluieren zu können. Wenn man eine Künstlerin/einen Künstler mit einer Schülergruppe zusammenbringt und die Finanzierung gesichert ist, muss das Projekt noch lange nicht erfolgreich sein; bisweilen sind die Erwartungen der Beteiligten zu unterschiedlich. Wichtig ist das Gespräch über ein gemeinsames Bildungsverständnis. Dieses Gespräch muss aber durch Kriterien strukturiert werden, damit es konkret wird und die Beteiligten auch mitreden können: Es kann beispielsweise geklärt werden, an welchen Stellen die Schülerinnen und Schüler Mitverantwortung für die Planung übernehmen können. Die Kriterien kann man aus einer Beobachtung der Praxis oder aus künstlerischen Theorien entwickeln, auch die Lernforschung kann hier helfen.

Könnten Sie Beispiele für Kriterien schulischer Kreativität nennen? Und kann man daraus einen verständlichen Begriff von "Kreativität" formulieren, der im Alltag dieser Projekte anwendbar ist?

Eine schlichte Formulierung könnte so lauten: Kreativität bedeutet, etwas zu erschaffen, was zuerst als Idee vorhanden ist und später als sichtbares Produkt – sei es als Theaterszene, Tanz, Bild oder etwas anderes. Es kommt mir auf die Bedeutung des Prozesses an, die das kreative Arbeiten für das einzelne Individuum hat.

Sie erwähnten bereits, dass die Lernforschung wichtige Impulse geben kann, die den Nutzen schulischer Kreativität verdeutlicht. Was heißt das für die Planung solcher Projekte? Und was bringen solche Projekte dann dem einzelnen Schüler?

In Projekten kultureller Bildung geht es aus meiner Sicht darum, Neues kennenzulernen und selbst schöpferisch tätig zu werden. Wenn dieses Spannungsfeld von Lernen und Selbst-Gestalten gut geplant ist, können eine Menge interessanter Dinge entstehen. Die Künstlerin/der Künstler (oder die beteiligte Lehrkraft) muss wissen, wie und wann er den Schülerinnen und Schülern neue Aspekte vermittelt und wann sie den Freiraum bekommen, eigene Gestaltungsideen einzubringen.

Bedeutet das für die Förderung von Kreativität, dass die Aufgabenstellung nicht zu kleinteilig sein und Freiräume lassen sollte?

Kreativität entsteht vor allem dann, wenn man selbst etwas entdecken kann – das schafft die Motivation für den Prozess. Die Aufgabe beziehungsweise Anforderungssituation sollte die Schülerinnen und Schüler leicht überfordern, dann wird es meiner Erfahrung nach spannend. Man muss ihnen jedoch auch das Gefühl vermitteln, dass sie es schaffen können, auch wenn es nicht einfach wird.

Benötigen die Schülerinnen und Schüler also Problemlösungsstrategien, um kreativ sein zu können? Das klingt allerdings weder besonders spannend noch kreativ.

Sicherheit für die Bewältigung der Aufgabe gewinnen die Schülerinnen und Schüler dadurch, dass ihnen die Künstlerin/der Künstler das notwendige "Handwerkszeug", die künstlerischen Techniken, vermittelt. Das ist neues Wissen für die Schülerinnen und Schüler und spannend, weil sie es tatsächlich zur Problemlösung einsetzen können, etwa für den Theaterbereich: die Erarbeitung von Rollen, das Verhalten auf der Bühne, die Sensibilität für die Mitspieler … Interessant wird es, wenn Schülerinnen und Schüler das Handwerkszeug für ihre eigenen kreativen Lösungen einsetzen, eigene ästhetische Vorstellungen entwickeln – das sollte man zulassen und sie dabei ermutigen, wobei man auch helfen kann, die richtige künstlerische Form zu finden.

Nun sind ja nicht nur Individualisten am Werk, sondern oft findet die Arbeit in Gruppen statt. Ist die Gruppenarbeit nicht eine zusätzliche Hürde, die die Entwicklung der individuellen Kreativität der Schüler hemmt?

Auch Prozesse innerhalb der Gruppe sind spannend – sie muss sich erst einmal finden und die verschiedenen Ideen auf einen Nenner bringen. Und eins ist sicher: Es gibt immer Probleme und Schwierigkeiten, die gelöst werden müssen. Aber das ist auch eine Herausforderung. Daher sollte man es der Gruppe überlassen, die Lösung zu suchen, und nur helfen, wenn sie sichtbar überfordert ist. Gerade die Überwindung von Schwierigkeiten gibt den Schülerinnen und Schülern zu Recht das Gefühl, ein Stück "gewachsen" zu sein. Auch das ist aus meiner Sicht Kreativität!

Kreatives Lernen kann also die Kompetenz der Schülerinnen und Schüler fördern, in einer Gruppe zu arbeiten und gemeinsam kreative Lösungen für komplexe Aufgaben zu finden. Stärkt darüber hinaus das praktische Arbeiten und die Erschaffung eines meist sichtbaren Ergebnisses das Selbstbewusstsein jedes Einzelnen?

Ja, auf vielfältige Weise: Das Gefühl, kreativ zu arbeiten, "belebt" ungemein, auch wenn das ein bisschen komisch klingt: Man sieht es den Schülerinnen und Schülern an, wie aktiv sie in einem Moment sind. Man merkt das auch daran, dass sie bisweilen im "Flow" die Zeit vergessen. Langfristig bleibt ihnen hoffentlich das Gefühl erhalten, dass sie Fähigkeiten zeigen konnten, die sonst selten zum Einsatz kommen und von denen sie vielleicht selbst nicht wussten, dass sie sie besitzen. Das Bewusstsein, andere ästhetische Welten und Wahrnehmungen kennengelernt zu haben, macht sie ein kleines Stück reifer und erwachsener. Das gemeinsame kreative Arbeiten ist zentraler Bestandteil einer umfassenden Persönlichkeitsbildung und ermöglicht ihnen eine wesentliche Voraussetzung für eine aktive Teilnahme am kulturellen Leben einer Gesellschaft.

Als "Kulturagentin für kreative Schulen" ist für mich einmal mehr deutlich geworden, dass der Begriff der "Kreativität" von zentraler Bedeutung für Schulen ist, die ihren Schülerinnen und Schülern eigenständiges Lernen und einen motivierten Lernprozess ermöglichen wollen. Insofern ist eine Klärung des Begriffs gerade im schulischen Kontext von immenser Bedeutung und sollte – auch wenn dies zeitintensiv ist – für jedes Projekt immer wieder neu verhandelt werden. Tatsächlich sieht Ute Pinkert "dieses Verhandeln als die gegenwärtig wichtigste und auch anspruchsvollste Aufgabe für Menschen, die Bildungsprojekte an den Schnittstellen verschiedener gesellschaftlicher Systeme konzipieren und initiieren". Denn Kreatives Lernen bedeutet: "Man lernt nicht nur, sich Sachwissen anzueignen, sondern zusammen mit den Schülerinnen und Schülern in einen dritten Raum einzutreten, in dem Zusammenhänge, Fähigkeiten, Einstellungen und Haltungen befragt, neu ­­­– durchaus auch ambivalent – erfahren und angeeignet werden können. In diesem Prozess ist es wichtig, aufmerksam gegenüber einer "Kreativität" zu sein, die vorwiegend als wirtschaftliche Ressource und als Wettbewerbsfaktor ausgelegt wird. In der Schule kann der schillernde Begriff der "Kreativität" dann also produktiv werden, wenn er zum Thema gemacht wird und Alternativen zur rein ökonomischen Marktlogik angeboten werden.