Paul Mecheril
Kulturell-ästhetische Bildung. Migrationspädagogische Anmerkungen
Paul Mecheril

Kulturell-ästhetische Bildung. Migrationspädagogische Anmerkungen

Die Entdeckung der Migration

In den letzten Jahren ist in der kulturell-ästhetischen Bildung im amtlich deutschsprachigen Raum das Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Migration deutlich gestiegen. Warum? Politisch und medial herrschte in Deutschland lange Zeit die Haltung vor, dass Phänomenen der Migration politisch, wissenschaftlich und kulturell letztlich keine besondere Aufmerksamkeit zu widmen sei. Bis Ende der 1990er Jahre war die offizielle Selbstdarstellung der Bundesrepublik hartnäckig von der "Lebenslüge" dominiert, Deutschland sei kein Einwanderungsland.2 Diese politische Irreführung und Ignoranz haben zweifelsohne die sozialen Folgen von Migration verkannt und eine zum Teil überaus problematische Entwicklung nach sich gezogen, deren Konsequenzen sich deutlich auch im Feld der Bildung und Erziehung zeigen. Auch im Bereich kulturell-ästhetischer Produktion – Theater, Musik oder Kunst – wurde die Migrationstatsache sozusagen in Bestätigung der politischen Weigerung kaum thematisiert. Gleiches gilt für den Bereich kulturell-ästhetischer Bildung, in dem sich bis zum 20. Jahrhundert lediglich vereinzelt Projekte fanden, in denen migrationsgesellschaftliche Themen behandelt wurden.3

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich das politische Szenario verändert. Ab 2000 prägen bedeutsame Momente des Ortsansässigkeitsprinzips die deutsche Staatsbürgerschaftsregelung. Zudem wurde 2005 das Zuwanderungsgesetz verabschiedet, das zum ersten Mal den Begriff der "Integration" in einer migrationspolitischen Gesetzgebung verwendet. Zugleich macht bereits der Name des Gesetzes seine restringierende Ausrichtung deutlich: "Gesetz zur Begrenzung und Steuerung von Zuwanderung". Bezogen auf Migration wird hier das widersprüchliche Prinzip der An-Erkennung der Migrationstatsache und seiner politischen Regelung deutlich: die Neuformierung des Sozialen durch Grenzausdehnung bei gleichzeitiger restriktiver Begrenzung.

Gleichwohl hat sich seit Beginn des neuen Jahrtausends in Deutschland das Selbstverständnis durchgesetzt, dass die Anwesenheit von Migrant/innen weder marginal noch vorübergehend, sondern konstitutiv für die gesellschaftliche Wirklichkeit ist. Die öffentlichen Diskurse, politischen und medialen Debatten und Auseinandersetzungen der letzten Jahre in Deutschland verweisen darauf, dass Migration zu einem der wichtigsten Themen gesellschaftlicher Selbstverständigung der Gegenwart und Zukunft avanciert ist. Dass auch im Feld kulturell-ästhetischer Bildung in den letzten Jahren eine vermehrte Zuwendung zu migrationsgesellschaftlichen Fragen eine Rolle spielt,4 bestätigt die allgemeine Situation.

Migrationspädagogik als Kritik von Othering-Prozessen

So begrüßenswert die Thematisierung der Migrationstatsache auch im Feld kulturell-ästhetischer Bildung ist, so sehr muss doch auf Folgendes hingewiesen werden: Die Thematisierung aufgrund von beispielsweise Praktiken der Projektförderung (wofür gibt es Geld?), aber auch aufgrund der in der Logik des Feldes liegenden Gefahr der Kulturalisierung und Ästhetisierung des Sozialen läuft Gefahr, den problematischen Haupttendenzen der allgemeinen Thematisierung von Migration in den letzten knapp zwei Jahrzehnten nachzufolgen. Eine zentrale problematische Tendenz kann als "Othering" bezeichnet werden.

"Othering" hat sich als Schlüsselbegriff postkolonialer Theorienbildung etabliert. Im postkolonial-theoretischen Kontext von Gayatri Chakravorty Spivak neu geprägt wird er seit den 1970er Jahren breit rezipiert. Nach Spivak erkennen kolonialisierte Subjekte sich erst durch dominante diskursive Praxen des kolonialen Zentrums als solche, und zwar in Abhängigkeit zu diesen.5 Kolonialisierende Praxen bringen Subjekte hervor. Eine andere Perspektive fokussiert die diskursive Praxis, die Andere zu Anderen macht und dadurch ein kollektives Selbstbild erzeugt. Diese Perspektive wurde vor allem durch die Arbeiten von Edward Said zur Konstruktion des "Orients" als antagonistisches Gegenbild des "Okzidents" bekannt und einflussreich. In seinem Werk "Orientalism"6, das als Gründungsdokument postkolonialer Theorie angesehen werden kann,7 analysiert Said jene diskursiven Praktiken, die "den Orient" und "die Orientalen" erst hervorbringen und in einer konstitutiven Relation zum Selbstbild des "Westens" stellen. Die Mechanismen und die Wirkmächtigkeit dieser Praxen lassen sich – so Said – nur im Kontext des europäischen Imperialismus und dadurch als Legitimierungs- und Stabilisierungspraxis von Herrschaftsansprüchen gegenüber den konstruierten "Anderen" verstehen. In dieser Perspektive lässt sich "Othering" als doppelter Prozess verstehen: Die "Anderen" werden durch bestimmte Wissensproduktionspraxen konstruiert, die koloniale Herrschaftsbildung legitimieren; es ist aber zugleich diese (politisch, wirtschaftliche und kulturelle) hegemoniale Intention, die diese epistemischen Praxen als "plausibel" und "nützlich" erscheinen lässt.

Der Begriff des "Otherings" kann nun für gegenwärtige, postkoloniale migrationsgesellschaftliche Verhältnisse genutzt werden, um Prozesse der Herstellung der Anderen zu erkennen und zu untersuchen. Unter der Perspektive "Othering" werden spezifische Kontexte und Prozesse der Subjektivierung deutlich, die Produkt der Institutionalisierung des "objektiven" hegemonialen Wissens über die Anderen in einem politischen Machtzusammenhang sind. Die diskursive Hervorbringung beispielsweise der "Menschen mit Migrationshintergrund" ist hierbei als eine Praxis zu verstehen, die nicht von einer Machtinstanz zentral ausgeübt wird, sondern vielmehr in einem komplexen Prozess, an dem viele Akteure beteiligt sind und der viele Ebenen umfasst, zustande kommt. Die Subjektivierungspraktiken, mit denen wir es zu tun haben, haben für bestimmte Subjekte alltägliche, lebensweltliche Konsequenzen, die nach einem analytischen Instrumentarium verlangen. Die Perspektive Migrationspädagogik bezeichnet einen entsprechenden Versuch. Mit ihr rücken natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen in der Migrationsgesellschaft, die Macht (der Unterscheidung), die von diesen Ordnungen ausgeht, sowie die in und mittels dieser Ordnungen ermöglichten und verhinderten Bildungsprozesse in den Fokus.

Migration stellt die legitime oder illegitime, die offene oder heimliche, die gewollte oder ungewollte Überschreitung imaginiert-faktischer Grenzen (etwa eines Nationalstaates oder der Europäischen Union) durch Menschen und Lebensformen dar: Grenzen, die durch natio-ethno-kulturelle Ordnungen vorgegeben sind und gewissermaßen durch diese Ordnungen entstehen und ihre Kraft entfalten. Erfahrungen von (fragloser, verwehrter, prekärer) Zugehörigkeit sind nur denkbar, weil es eine politische, interaktive und semantische Ordnung der (natio-ethno-kulturellen) Zugehörigkeit gibt. Ohne (Zugehörigkeits-)Ordnung keine (Zugehörigkeits-)Erfahrung. Um die analytischen Elemente der hier bedeutsamen Ordnung näher zu bestimmen, macht es Sinn, in einer idealtypischen Einstellung nach den Bedingungen zu fragen, unter denen Menschen sagen würden, sie seien einem natio-ethno-kulturellen Kontext fraglos zugehörig. Menschen tun dies, wenn sie sich selbst als symbolisches Mitglied des Kontextes erkennen und von bedeutsamen Anderen als Mitglied erkannt werden, wenn sie in dem Kontext in einer ihnen gemäßen Weise "wirksam" und schließlich an den Kontext "lebensgeschichtlich gebunden" sind. Symbolische Mitgliedschaft, habituelle Wirksamkeit und biografisierende Verbundenheit sind mithin die Konstitute fragloser natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit.8

Migrationspädagogik bezeichnet einen Blickwinkel, unter dem Fragen gestellt werden, die bedeutsam sind für eine Pädagogik unter den Bedingungen einer Migrationsgesellschaft. Die Rede ist hier von "Migrationsgesellschaft" und nicht beispielsweise von Einwanderungsgesellschaft, weil der Begriff "Migration" weiter gefasst ist als der der "Einwanderung" und dadurch einem größeren Spektrum an Wanderungsphänomenen gerecht wird. Der Ausdruck "Migration" ist eine allgemeine Perspektive, mit der Phänomene erfasst werden, die für eine Migrationsgesellschaft kennzeichnend sind: Übersetzung oder Vermischung als Folge von Wanderungen, Entstehung von Zwischenwelten und hybriden Identitäten, Phänomene der Zuschreibung von Fremdheit, Strukturen und Prozesse des Rassismus, Konstruktionen des und der Fremden oder auch die Erschaffung neuer Formen von Ethnizität.

Eine zentrale Aufgabe der Migrationspädagogik besteht in der Beschäftigung mit der Frage, wie der und die natio-ethno-kulturelle Andere unter den Bedingungen migrationsgesellschaftlicher Zugehörigkeitsordnungen erzeugt wird, welchen Beitrag pädagogische Diskurse und pädagogische Praxen hierzu leisten, und schließlich, welche Spielräume, es anders zu machen, pädagogischem Handeln zur Verfügung stehen. Gegenstand der Migrationspädagogik sind insofern die durch Migrationsphänomene bestätigten und hervorgebrachten Zugehörigkeitsordnungen und insbesondere die Frage, wie diese Ordnungen in bildungsinstitutionellen Kontexten hergestellt, aber auch, wie sie verändert werden können.

Der politisch-ethische Fluchtpunkt einer migrationspädagogisch informierten ästhetisch-kulturellen Bildung, der auf eine andere Weise des Sehens gerichtet ist und diese Weise erprobt, soll hier kurz charakterisiert werden. In Hinblick auf das Anliegen der Interkulturellen Pädagogik, also jener erziehungswissenschaftlichen Subdisziplin, die sich mit migrationsgesellschaftlichen Differenzverhältnissen befasst, schreibt Georg Auernheimer: "Das Programm einer interkulturellen Bildung lässt sich auf zwei Grundprinzipien gründen: auf den Gleichheitsgrundsatz und den Grundsatz der Anerkennung anderer Identitätsentwürfe."9

Der Gleichheitsgrundsatz allein kann aus einer Perspektive, die nicht nur von der Gegebenheit Differenz ausgeht, sondern dieser Differenz auch zu einem Recht verhelfen möchte, zufrieden stellen. Denn die Beschränkung auf Gleichheit tendiert zu einer Benachteiligung durch Gleichbehandlung. "Gerechtigkeit", so Anerkennungsansätze, muss an eine Achtsamkeit für Unterschiede geknüpft sein, weil ansonsten jene Personen und Gruppen benachteiligt würden, die nicht der dominanten Lebensform zugehören. In dem Augenblick aber, in dem der Anerkennungsansatz praktisch und konkret wird, bedeutet Anerkennung nichts anderes als: Anerkennung "gegebener" Differenzen und Identitäten. In der Migrationsgesellschaft müssen diese Differenzen und Identitäten aber auch als Ausdruck von natio-ethno-kulturellen Macht- und Dominanzverhältnissen verstanden werden. Eine pädagogische Anerkennungspraxis, die sich bejahend auf den Subjektstatus der Individuen einer Migrationsgesellschaft bezieht, bezieht sich indirekt auch immer affirmativ auf die in dieser Gesellschaft geltenden formellen und informellen Machtverhältnisse, die diese Identitäten erst hervorbringen. Pädagogisches Handeln, das "Migrant/innen" als "Migrant/innen" anerkennt, bestätigt insofern das Schema, das zwischen "Wir" und "Nicht-Wir" unterscheidet. Die Paradoxie, die hier anklingt, besteht darin, dass Handlungsfähigkeit an Anerkennungsverhältnisse geknüpft ist, Anerkennung aber den inferioren Status der Anderen bestätigt. Das Problem der Ansprache, der Wahrnehmung, der Einbeziehung und Anerkennung der Anderen in ihrer Andersheit, besteht darin, dass sie im Akt der Anerkennung die Logik, die das Anderssein und das Nicht-Anderssein produziert, wiederholt und bestätigt. Mithin macht es Sinn, das Prinzip der Anerkennung durch das Wissen um die Unmöglichkeit der Anerkennung und der Einsicht, dass das, was nicht erkennbar und deshalb auch nicht anerkennbar ist, keinen Mangel bezeichnet, sondern anerkannt werden sollte. Das heißt: Es geht hier um eine Anerkennung der Nicht-Erkennbarkeit oder – angemessener formuliert – der Unbestimmbarkeit und um die Unbestimmtheit des und der Anderen. Neben dem Gleichheitsgrundsatz, neben dem Prinzip der Anerkennung von Identitätsentwürfen muss mithin auch das paradoxe Moment der Anerkennung der Unmöglichkeit der Anerkennung ein Moment allgemeiner Bildung in der Migrationsgesellschaft darstellen.

Der migrationspädagogische Ansatz interessiert sich für die Beschreibung und Analyse der dominanten Schemata und Praxen der Unterscheidung zwischen natio-ethno-kulturellem "Wir" und "Nicht-Wir" und weiterhin auch für die Stärkung und Ausweitung der Möglichkeiten der Verflüssigung und Versetzung dieser Schemata und Praxen. Migrationspädagogik ist also keine "Migrant/innen-Pädagogik" in dem Sinne, dass es das erste Anliegen der Migrationspädagogik wäre, "die Migranten" zu verändern. Anders als die pädagogischen Ansätze, die in erster Linie auf die Förderung (des zum Beispiel als Sprachkompetenz bezeichneten Vermögens, die hegemoniale Sprache im Standardregister zu sprechen) der "Migranten" zielen, oder im Gegensatz zu Ansätzen, die die kulturelle Differenz zwischen "Migranten" und "Nicht-Migrantinnen" verringern oder akzeptieren wollen, kommen institutionelle und diskursive Ordnungen der Erzeugung (zum Beispiel ethnischer oder kultureller) Differenz sowie Möglichkeiten ihrer Veränderung in den migrationspädagogischen Blick.

Der Ausdruck "kulturelle Differenz" wird zumeist benutzt, um zwischen "uns" und jenen Personen(-gruppen) zu unterscheiden, die gewöhnlich als kulturell Differente imaginiert werden: "die Fremden", "die Zuwanderer", "die Anderen", "die Ausländer", "die Migrantinnen", "Menschen mit Migrationshintergrund" und so weiter. Und nur, weil es einen dominanten Diskurs gibt, in dem die Fremden, Anderen, Ausländer, Migrantinnen (und nur sie und sie nur in dieser Weise) der kulturellen Differenz bezichtigt werden, kann über besondere Voraussetzungen und Erfordernisse nachgedacht werden, mit der Differenz zu kulturell Anderen umzugehen. Da also in dominanten Diskursen "interkulturell" mit "Migranten" verknüpft ist, da die Praxis "interkulturell" häufig als Praxis des "Otherings" auftritt, können Sonderkompetenzen im Umgang mit Migrant/innen beispielsweise als interkulturelle Kompetenz nachgefragt werden.

Die kulturelle Besonderung von Menschen, die in der Migrationsgesellschaft als Andere gelten, trägt komplementär dazu bei, dass die andere Seite – Menschen "ohne Hintergrund"– sich als nicht besonders, nicht integrationsbedürftig, sondern als normal und fraglos am richtigen Ort verstehen kann. In verwandter Weise hat Franz Hamburger dies als das Elend der Interkulturellen Pädagogik bezeichnet: "Es gibt unzählige Berichte über Besuche von Kindergartengruppen in Moscheen und ausländischen Familien, aber keine Berichte über didaktisch analog konzipierte Besuche in Kirchen und deutschen Familien, um deren Kultur kennenzulernen. Das ist immer noch das Elend der Interkulturellen Pädagogik."10 Aber selbst wenn man "deutsche Familien" besuchen würde, um ihre Kultur kennenzulernen, wäre – da auch hier homogenisierende und pauschalisierende Zuschreibungen die Praxis strukturieren ­– das Elend der Interkulturellen Pädagogik nicht aufgehoben.

Ironischerweise ist gerade der akademische Diskurs der Interkulturellen Pädagogik mit dem Anspruch der Überwindung einer ausländerpädagogischen Zielgruppenorientierung im Zeichen des allgemeinen Stellenwerts kultureller Differenz und Zugehörigkeit angetreten. Ungeachtet des Anspruchs Interkultureller Pädagogik, nicht von einem etwa durch die Staatsangehörigkeit identifizierbaren, einem kulturell oder ethnisch oder lingual oder religiös spezifizierten Anderen auszugehen, sondern den Anderen gewissermaßen zu universalisieren, wird die Interkulturelle Pädagogik diskursiv vor allem dann in Anspruch genommen (etwa durch die nach dem sogenannten PISA-Schock intensivierten Forschungsförderungsprogramme, die nach den Schulleistungen der Anderen, also der der Schüler/innen mit sogenanntem Migrationshintergrund" fragen), wenn es um die in der Migrationsgesellschaft als Andere Geltenden geht, die dadurch als Andere hergestellt werden.

Sobald Kultur als unveränderliche, wesenhafte Eigenschaft von Menschen entworfen und im Zusammenhang größerer sozialer Einheiten, etwa als Nationalkultur und dadurch eher statisch, gedacht wird, liegt der Rede und dem Gebrauch von "Kultur" ein Verständnis zugrunde, das ein Äquivalent zu Rassekonstruktionen darstellt.

An Rassismus schließen kulturelle Argumentationen dann an, wenn äußere Unterschiede zwischen Menschen mit Entsprechungen "des Seelenlebens" oder "Mentalitäten" verknüpft werden und diese seelischen Unterschiede so gewertet werden, dass die unterschiedliche Verteilung von Privilegien legitimiert wird. Neuere Formen des Rassismus argumentieren "kulturalistisch", indem sie unterschiedliche kulturelle Traditionen als inkompatibel ansehen. Der Begriff "Kultur" ersetzt dabei den Begriff "Rasse".

"Kulturelle Differenz" dient hierbei im Anschluss an kolonial-rassistische Praxen auch dazu, die "nützlichen Anderen" von den weniger "nützlichen Anderen", die – in moderner Terminologie – "integrationsbereiten und -fähigen" Anderen, von den das Gefüge gesellschaftlicher Ordnung problematisierenden Anderen ("Wirtschaftsflüchtlinge", "Armutsmigranten"), zu unterscheiden. In neueren Formen des Rassismus gilt es nicht mehr, die "rassische Reinheit" zu schützen, sondern eine authentische "kulturelle Identität". In Debatten wie jener um die sogenannte Leitkultur werden Bezüge auf rassistische Unterscheidungen hergestellt, ohne dass dies den Akteuren bewusst sein muss. Statische, das Wesen größerer Kollektive behauptende Kulturverständnisse, die Assoziationen von Kulturen, Körpern und Territorien herstellen, wie sie nicht nur in politischen und medialen Debatten, sondern auch in pädagogischen Konzepten zu Interkulturellem Lernen oder Interkultureller Kompetenz anzutreffen sind, stellen insofern ein mögliches Versteck von Rassekonstruktionen dar.

Mit der migrationspädagogischen Perspektive wird eines der grundlegenden Ordnungsschemata moderner Staaten und Gesellschaften zum Thema, ist für diese doch konstitutiv, dass sie in einer komplexen, nicht immer widerspruchsarmen Weise zwischen denen, die dazugehören, und denen, die nicht dazugehören, unterscheiden. Das Bildungssystem und das pädagogische Handeln tragen hierbei zur Bestätigung der Unterscheidungsschemata bei, etwa dadurch, dass eine spezielle sozialarbeiterische "Migrantenarbeit" institutionalisiert ist, oder dadurch, dass die Schule optional auf Mechanismen ethnischer Diskriminierung zurückgreift;11 sie besitzen aber prinzipiell auch die Möglichkeit, diese Schemata und die sie bestätigenden Praxen zu reflektieren und über Alternativen nachzudenken.

Unter der Perspektive der Migrationspädagogik ist es sinnvoll, sich diese Beglaubigungspraktiken genauer anzusehen. Es geht also unter dieser Perspektive nicht so sehr um die Frage, welche Kultur spezifische Migrantengruppen haben, wie diese Kultur zu beschreiben ist und wie unter den unterschiedlichen kulturellen Gruppen Verständigung möglich ist und so weiter, sondern es geht vielmehr um die Frage, aufgrund welcher kulturellen Praktiken in pädagogischen Zusammenhängen zwischen "Migranten" und "Nicht-Migranten" unterschieden wird, aufgrund welcher Bedingungen, "Migranten" als Migranten wahrgenommen werden, wie Kinder lernen, sich als "Nicht-Ausländerin" oder "Fremde" zu verstehen, und wie in alltäglichen Praxen innerhalb und außerhalb der offiziellen Orte neue, "widerständige" Formen der Überschreitung der traditionellen Grenzen erprobt und eingeübt werden – um eine Erkundung also der Praxen, Lebensweisen und Geschichten, die sich dem eindeutigen Unterscheiden entziehen.

Ästhetische Erfahrung und Migrationspädagogik

Die (Ermöglichung von) Achtsamkeit für dieses alltagsweltlich kreative Potenzial von wandernden, nicht eindeutigen Positionen und hybriden Praxen ist meines Erachtens eine der zentralen Bezugspunkte migrationspädagogisch informierter ästhetisch-kultureller Bildung.

Nach John Dewey wird das Individuum durch die Umwelt beeinflusst, zugleich wirkt es auf seine Umwelt ein.12 Zwar ereignet sich diese wechselseitige Beziehung unausgesetzt, sie wird nach Dewey aber nur in besonders und intensiv erlebten Momenten erhöhter Aufmerksamkeit wahrgenommen; in Situationen der Überraschung (etwa über einen Schmerz), der Verwunderung und des Erstaunens. Dann werden sich die und der Einzelne der eigenen Situation und ihrer/seiner selbst bewusst. Somit tragen solche Momente erhöhter Aufmerksamkeit, Momente der ästhetischen Erfahrung, zur Selbstkonstitution bei. Von den eher beiläufigen Erfahrungen des Alltags abgegrenzt, sind diese Momente für John Dewey als ästhetische Erfahrungen bildend. Gerade die ästhetische Erfahrung ist durch Reflexion, Rückbezug und Erinnerung, aber auch durch Proflexion und Vorwegnahme gekennzeichnet. In ästhetischen Erfahrungen werden wir also unserer selbst als Wahrnehmende gewahr.

Damit ist nicht schlicht ein Akt der Wahrnehmung gemeint, sondern erstens eine Wahrnehmung der Wahrnehmung und zweitens eine sinnlich qualifizierte Wahrnehmungswahrnehmung, die sich zwischen Genuss und Betrübnis ereignet, zwischen Unruhe und Befried(ig)ung. Mit Deweys pragmatistischer Perspektive können wir ästhetische Erfahrung als eine Sorte "anderer Erfahrung" verstehen, als Erfahrung eines Ereignisses, eines Gegenstandes, einer Landschaft, eines Handlungsvollzuges, eines anderen Menschen oder auch als Selbsterfahrung – Erfahrungen, die, von welcher Intensität und Dauer sie nun auch sein mögen, sich irgendwie unangemeldet und überraschend einstellen und derer man sich als solcher gewahr wird. In ästhetischen Erfahrungen setze ich mich mithin in einer doppelten Weise in ein Verhältnis zu mir und der Welt und werde in ein Verhältnis gesetzt: Ich nehme wahr und nehme wahr, dass ich wahrnehme.

Immer dort, wo Assoziationen und Verknüpfungen zwischen Wahrnehmungswahrnehmungen und kulturell und gesellschaftlich bedeutsamen Themenstellungen und Problemlagen gemacht werden, in denen sich ein Allgemeines anzeigt – und sei es, indem es sich entzieht –, sind Erfahrungen Teil potenzieller Bildungsprozesse. Neben dem Bezug auf Fragen und Probleme, die in dem Sinne allgemein sind, dass sie sich einer womöglich unbestimmt bleibenden Idee des kulturell oder (welt-)gesellschaftlich Allgemeinen annähern, weisen ästhetische Erfahrungen dann auf Prozesse ästhetischer Bildung, wenn die sinnliche Wahrnehmungswahrnehmung im Zusammenhang eines Prozesses der erfahrungsbegründeten Auseinandersetzung des und der Einzelnen steht, die ein politisch-ethisches Moment aufweist. Dieses Moment kreist um die Frage: Wie will und kann ich im Rahmen dessen, wie wir leben wollen und können, leben? "Bildung" verstehe ich somit insgesamt als einen Ausdruck, der einen erfahrungsbegründeten und erfahrungsreflexiven Prozess adressiert, in dem sich der und die Einzelne zu kulturell und gesellschaftlich allgemeinen sowie politisch-ethischen Anfragen, Anliegen und Ansprachen verhalten. Ästhetische Bildung kann also weder auf die Kenntnis von Kunstwerken, Konzerten und Theaterstücken noch auf die Entwicklung formaler Qualitäten des Wahrnehmungsvermögens beschränkt werden, sondern meint den Prozess, in dem ästhetische Erfahrungen in einen Bezug zum Allgemeinen und dem, was als erstrebenswert gelten kann, gesetzt werden. Das gesellschaftlich und kulturell Allgemeine wie auch das, was als wünschenswert gelten darf, ist hierbei nicht nur unbestimmt und auch brüchig, fluide und spannungsreich, sondern wird auch so erfahren. Diese Unbestimmtheit zeigt sich in ästhetischer Erfahrung in einer offenkundigen Weise.

Erkundung und Befragung der Ordnungen als Anliegen kulturell-ästhetischer Bildung in der Migrationsgesellschaft

Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen besteht die zentrale pädagogische Aufgabe für die Rahmung ästhetischer Bildungsprozesse darin, Situationen und Konstellationen zu arrangieren, in denen es für die Gegenüber (zum Beispiel Schülerinnen und Schüler) unter Nutzung vielfältiger symbolischer und ästhetischer Formen möglich wird, Assoziationen zwischen dem von ihnen rezeptiv und produktiv Wahrgenommenen und Erlebten zu vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zusammenhängen herzustellen sowie diese Assoziationen und Artikulationen wahrzunehmen und sie zu gestalten. Diese Assoziationen, Verknüpfungen und Artikulationen betreffen die Auseinandersetzung mit allgemeinen Fragen und Problemen. Womöglich werden Annäherungen an die Beantwortung dieser Frage selbst Gegenstand von ästhetischen Projekten im Unterricht, Projekten also, die sich auf das Verhältnis der Einzelnen zu der Sache in einer auch politisch-ethische Momente markierenden Weise beziehen.

Wenn wir als zentralen Gegenstand der Migrationspädagogik Zugehörigkeitsordnungen und die von ihnen ausgehende subjektivierende Macht verstehen, dann wird es nicht verwundern, dass hier die Auseinandersetzung mit Zugehörigkeitsordnungen als zentrales Anliegen ästhetischer Bildung in der Migrationsgesellschaft vorgestellt wird. Zugehörigkeitsordnungen haben dabei sozialisierende oder besser: subjektivierende Wirkung. Sie vermitteln Selbst-, Fremd- und Weltverständnisse nicht nur kognitiv, sondern vor allem auch sinnlich-leiblich. In diesen Verständnissen spiegeln sich soziale Positionen und Lagerungen sowie die differenzielle Verteilung von materiellen und symbolischen Gütern und Anrechten. Wahrnehmungswahrnehmung an diesem Punkt heißt, sich zu den eigenen Wahrnehmungsschemata in ein (sinnliches) Verhältnis zu setzen. Es geht hier also nicht um Projekte ästhetischer Bildung, die durch das Machen und Hören von Musik, das Machen und Sehen von Theaterstücken, das Machen und Anfassen von Plastiken und Skulpturen, durch Erkundungen eigener und fremder Räume, Praxen und Geschichten zu mehr Toleranz, zu mehr Freundlichkeit und Achtsamkeit im Umgang mit dem Fremden und Anderen beitragen wollen (wie es das interkulturelle Paradigma vorsieht). Vielmehr stehen die verschiebende Erkundung des Schemas, das zwischen denen und diesen unterscheidet, und seine sinnlich-leibliche Verankerung im Zentrum einer migrationspädagogisch informierten ästhetisch-kulturellen Bildung. Es geht hierbei darum, einen ästhetischen Rahmen zu schaffen, in dem Lernende mit Hilfe des Gestaltens (qua) symbolischer Formen Positionen und sich selbst in dieser Ordnung nicht nur kennenlernen, sondern auch ausprobieren, anprobieren, verändern und verwerfen.

1 Siehe auch Mecheril, Paul: "Über die Kritik interkultureller Ansätze zu uneindeutigen Zugehörigkeiten – kunstpädagogische Perspektiven", in: Lutz-Sterzenbach, Bärbel; Schnurr, Ansgar; Wagner, Ernst (Hg.): Bildwelten remixed. Transkultur, Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern, Bielefeld 2013, S. 27–36; ders: "Ästhetische Bildung und Kunstpädagogik. Migrationspädagogische Anmerkungen", in: Art Education Research, Ausgabe 6. Kunstunterricht und -vermittlung in der Migrationsgesellschaft, Teil 1: Sich irritieren lassen, Aufsatz_Ästhetische Bildung_2013, sowie ders.: "Ästhetische Bildung. Migrationspädagogische Anmerkungen", in: Institut für Auslandsbeziehungen (ifa), Institute for Art Education (IAE), Zürcher Hochschule der Künste ZHdK, Institut für Kunst im Kontext der Universität der Künste Berlin (Hg.): Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft / Reflexionen einer Arbeitstagung – 2011, ifa-Edition Kultur und Außenpolitik 2012.

2 Bade, Karl J.: Homo Migrans – Wanderungen von und nach Deutschland. Erfahrungen und Fragen, Essen 1994.

3 Rebel, Ernst: "Kontakte und Konflikte. Zur Vorgeschichte der interkulturellen

Kunstpädagogik in Deutschland (1900–2000)", in: Lutz-Sterzenbach, B. u. a. (Hg.), a. a. O., S. 111–130.

4 Vgl. Lutz-Sterzenbach, B.; Schnurr, A.; Wagner, E.: "Remix der Bildkultur – Remix der Lebenswelten. Baustellen für eine transkulturelle Kunstpädagogik", in: Lutz-Sterzenbach, B. u. a. (Hg.), a. a. O., S. 13–26.

5 Spivak, Gayatri Chakravorty: The Spivak Reader, hg. von Landry, Donna; MacLean, Gerald, New York, London 1996.

6 Said, Edward (1978): Orientalism, London 2003.

7 Castro Varela, Maria do Mar; Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, S. 29.

8 Ausführlich Mecheril, Paul: Prekäre Verhältnisse. Über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit, Münster 2003, S. 118–251.

9 Auernheimer, Georg: "Anforderungen an das Bildungssystem und die Schulen in der Einwanderungsgesellschaft", in: Auernheimer, Georg (Hg.): Migration als Herausforderung für pädagogische Institutionen, Opladen 2001, S. 45–58, hier: S. 45.

10 Hamburger, Franz: Abschied von der Interkulturellen Pädagogik. Plädoyer für einen

Wandel sozialpädagogischer Konzepte, Weinheim 2009. S. 10.

11 Vgl. Gomolla, M.; Radtke, F.-O.: Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, Wiesbaden 2007, 2. Auflage (1. Aufl. Opladen 2002); Mecheril, P.; Castro Varela, M.; Dirim, I.; Kalpaka, A.; Melter, C.: BACHELOR | MASTER: Migrationspädagogik, Weinheim 2010, Kap. V.

12 Dewey, John (1934): Kunst als Erfahrung, Frankfurt/M. 1998.