Matthias Vogel
Der Kern der Magie
Matthias Vogel

Der Kern der Magie

(1)

Ich will, dass alles, was wir tun, unendlich sexy, unfassbar cool und unglaublich spannend ist.

Und ich will, dass alle Schülerinnen und alle Schüler, alle Lehrerinnen und alle Lehrer, jede Schulleiterin und jeder Schulleiter, alle Künstlerinnen und Künstler, alle Mütter und alle Väter, alle Zuschauerinnen und alle Zuschauer und auch ansonsten schlichtweg alle Personen, egal wie alt sie sind, egal wie gebildet sie sind, egal wie viel Geld sie haben, egal, wo sie politisch stehen, egal, wo ihre Großeltern geboren sind, und egal, was sie sonst noch so für Vorstellungen von ihrem Leben haben, sobald sie mit unserer Arbeit in Berührung kommen, denken: Mensch! Wie unendlich sexy, unfassbar cool und unglaublich spannend sind diese kulturellen Bildungsprojekte an diesen Schulen!

Ich finde, das sollte unser Anspruch sein.

(2)

Sexyness ist für mich ein Kriterium. Coolness ist für mich ein Kriterium. Spannend sein ist für mich ein Kriterium. Für die Qualität meiner Arbeit. Für die Qualität kultureller Bildung. Und spannend sein ist für mich gleichbedeutend mit: nicht langweilig sein.

(3)

Ich möchte hier also über die Vermeidung von Langeweile nachdenken.

Oder eigentlich: über die Vermeidung von Langweiligkeit.

Denn Langeweile ist ein Gefühl. Langweiligkeit ist eine Eigenschaft.

(4)

Das Kulturagentenprogramm will junge Menschen für Kunst und Kultur begeistern. Wenn das unser Ziel ist, dann sollten die Schülerinnen und Schüler die Projekte, die wir mit ihnen machen, nicht langweilig finden.

Das Kulturagentenprogramm will, dass die Teilhabe an Kunst und Kultur fester Bestandteil des (Schul-)Alltags junger Menschen wird. Wenn das unser Ziel ist, dann sollten die Lehrkräfte, Eltern und Schulleitungen die Projekte, die wir an ihren Schulen durchführen, nicht langweilig finden.

Das Kulturagentenprogramm will Jugendliche zu Akteurinnen und Akteuren einer kulturinteressierten Öffentlichkeit von morgen machen. Wenn das unser Ziel ist, dann sollte die kulturinteressierte Öffentlichkeit von heute die Projekte, die wir dazu konzipieren, nicht langweilig finden.

(5)

Die Kernziele unseres Programms lassen sich nicht erreichen, wenn die Projektbeteiligten die Projekte, an denen wir sie beteiligen, langweilig finden. Also sollten wir nur Projekte machen, die interessant sind. Die originell sind. Die besonders sind. Wir sollten nur Projekte machen, die nicht langweilig sind.

(6)

Ich stelle mich auf eine Kiste und rufe in ein Megafon:

Macht keine Musikvideos gegen Mobbing!
Hört auf, Plakate gegen den Klimawandel zu gestalten!
Vergesst Euer braves Toleranz-Theaterstück!
Seid nett zueinander! ist keine interessante Message!
Vermeidet Schulhofgestaltung, in jedweder Form!
Hört auf, Mosaike auf Sitzecken zu kleben!
Das ist alles langweilig!

Ich steige wieder von meiner Kiste herunter.
Niemand hat mir zugehört. Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund.

(7)

Ist Langweiligkeit Geschmacksache? Und über Geschmack lässt sich nicht streiten?

Ich bin mir meiner Sache sicher. Ich entscheide intuitiv, ob ich eine Projektidee spannend oder langweilig finde. Kann ich das erklären?

Ich kann aufzählen, was mich langweilt. Kann ich bezeichnen, warum es mich langweilt? Woran sich das festmacht? Gibt es dafür ein Kriterium?

(8)

Aber es geht ja eigentlich nicht um mich. Wir langweilen uns ja nicht nur selbst. Wir langweilen ja eventuell auch andere.

Wenn sich beispielsweise die Jugendlichen ganz massiv langweilten, man sie nur unter übelsten Drohungen auf die Bühne zwingen konnte, aber Eltern, Kollegium, Schulleitung und Presse waren begeistert – war das dann ein gelungenes Projekt? Ein qualitativ hochwertiges Projekt?

Und wie sieht es aus, wenn sich der Lehrer und die Künstlerin zu Tode langweilten, die Kulturagentin den Aufführungstermin gleich gänzlich vergaß und das spärlich anwesende Elternpublikum schon nach wenigen Minuten größtenteils einnickte, nur die Jugendlichen fanden es ganz nett – war das dann ein gutes Projekt? Ein besseres Projekt?

(9)

Was macht die Qualität eines Kunstprojektes an Schule aus?

Dazu haben wir in den letzten Jahren viele Diskussionen geführt. Unser Programm hat dazu mehrere Papiere und Handreichungen erarbeitet, die Qualitätsbereiche für Kunstgeldprojekte beschreiben. Was mir darin allerdings fehlt, ist der explizite Hinweis darauf, dass die Projekte nach Möglichkeit nicht langweilig sein sollen. Oder die Empfehlung, man möge sich bitte stets um Sexyness bemühen. Und dass eine gewisse Mindest-Coolness unbedingt gewährleistet sein sollte, habe ich auch nirgends gelesen.

(10)

Kann es etwas anderes geben als Interessantheit als Kriterium für Qualität? Irgendeinen anderen Gradmesser? Angesichts unserer Ziele? Angesichts des generellen Anspruchs von Kunst an sich?

Was genau beschreiben all die Kriterien für qualitätsvolle Kunstprojekte an Schulen, sofern sie nicht für die Interessantheit eines Projektes bürgen? Sofern sie nicht die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die Beteiligten – die Schülerschar, die Lehrerschar, die Künstlerschar und das Publikum – die Teilnahme an dem Projekt als interessant empfinden?

Mir fällt beim besten Willen nichts ein.

(11)

Ich hadere mit unseren Qualitätsbereichen.

Würden wir zum Beispiel annehmen, dass allein die Tatsache, dass ein Kunstprojekt in Kooperation mit einer Kulturinstitution entsteht, das Kunstprojekt per se interessant macht?

Es ist ja beileibe nicht so, dass alles, was in unseren Kulturinstitutionen stattfindet, zu jeder Zeit unglaublich spannend, sexy, faszinierend und atemberaubend ist. Habe ich mich schon in Kulturinstitutionen gelangweilt? Oh ja, das habe ich!

Oder ist die Tatsache, dass ein Kunstprojekt an Themen gebunden ist, die der Lehrplan vorgibt, etwa ein Garant für Sexyness und Spannung? Ich will nicht die Fotosynthese rappen, und ich fürchte, die Jugendlichen möchten das auch nicht so gern.

(12)

Entscheidet die Frage, ob ein Kunstprojekt teilweise auch im Stadtraum und nicht nur in der Schule stattfindet, darüber, ob es langweilig wird oder nicht? Oder ob es fächer- oder jahrgangsübergreifend ausgerichtet ist? Oder macht die bloße Tatsache, dass Lehrkräfte und Beteiligte in die Konzeptentwicklung einbezogen waren, das Projekt per se interessanter?

Sind nicht viel interessantere Kunstprojekte denkbar, die sich eine Künstlerin in unruhigen Träumen, ein Lehrer bei einem Glas Rotwein oder eine Kulturagentin auf ihrem Selbsterfahrungstrip durch Indien vollkommen allein ausdenken? Spielt für die Frage, ob ein Konzept spannend ist oder nicht, die Entstehung dieses Konzepts auch nur die geringste Rolle?

(13)

Selbst wenn man alle Qualitätskriterien in unseren Programmhandreichungen in einem Projekt gleichzeitig erfüllte – könnte das Ergebnis nicht noch immer vollständig langweilig sein?

Ich denke, unsere Qualitätsbereiche haben eine Lücke. Der gesamte Qualitätsdiskurs über Projekte kultureller Bildung an Schule hat meines Erachtens diese Lücke. Und in dieser Lücke kann sich Langeweile einnisten.

(14)

In einem internen Workshop auf unserer Programmakademie baten wir – Ralf Eger, Silke Ballath und ich – einige unserer Kulturagentenkolleginnen und -kollegen darum, ihre eigenen, höchst persönlichen Kriterien dafür aufzuschreiben, wann sie – ganz persönlich – ein Kunstprojekt an ihren Schulen für gelungen hielten. Worum es ihnen in ihrer Projektarbeit also eigentlich geht.

Die häufigsten Nennungen waren: Originalität! Innovation! Risiko! Wagnis! Experiment! Verrücktheit! Störung!

(15)

In unserem zentralen Qualitätskriterienprogrammpapier gibt es zehn Qualitätsbereiche mit insgesamt 76 Unterpunkten. Nur in einem einzigen Unterpunkt fällt das Wort Originalität. In einem zweiten das Wort Innovation. Die Worte Wagnis, Experiment, Störung oder Crazyness sucht man vergebens. Und Originalität steht da gleichberechtigt neben einer Vielzahl von anderen Kriterien, die meines Erachtens die Interessantheit eines Projektes eher gefährden als garantieren. Die Frage der Originalität, die Frage der Interessantheit ist für mich aber nicht gleichberechtigt.

Viele dieser anderen Qualitätskriterien kann man im Einzelfall vollständig missachten, ohne dass das Projekt dadurch weniger interessant wird. Nur eben dieses eine nicht. Man sollte hinter jeden einzelnen Unterpunkt die Sätze ergänzen: "…, soweit dadurch die Coolness des Projekts nicht gefährdet wird."; "…, soweit das Projekt dadurch nicht weniger sexy wird."; "…, solange ihr Euch damit keine Langeweile einkauft."

(16)

Das zentrale Kriterium, das Kriterium, das über allem steht, ist: Unser Projekt darf nicht langweilig sein.

(17)

Carmen Mörsch lehrt uns1: Qualität in der kulturellen Bildung zu definieren, ist immer auch ein politischer Akt. Qualitätskriterien haben normativen Charakter. In ihnen bilden sich die institutionellen Ziele der am Ausarbeitungsprozess beteiligten Player ab.

Aus dem Institutionenmix unserer Programmarchitektur ist ersichtlich, dass in unserem Fall Stiftungen und Behörden und Ministerien an den Geldtöpfen im Hintergrund sitzen und wirken, und diese Stiftungen und Behörden und Ministerien haben sich Schulentwicklung auf die Fahnen geschrieben oder das Stärken von Kulturinstitutionen. Es gibt kein Bundesministerium für Crazyness und Störung, kein Amt für radikale Prozessoffenheit und keine GmbH für Originalität aus Prinzip. Für interessant oder cool oder sexy sein gibt es keine per se zuständige Organisation.2

Trotzdem wurden uns unsere Qualitätsbereiche ja nicht von unseren Geldgebern diktiert. An der Ausarbeitung dieses Papiers waren viele Menschen beteiligt und auch viele Kulturagentinnen und Kulturagenten. Ich war selbst Teil dieses Prozesses, und ich kann sagen, dass hier ernsthaft um etwas Richtiges, Wahrhaftiges gerungen wurde.

Wie kann es also sein, dass wir dennoch nicht hinreichend abgebildet haben, worum es vielen von uns in unserer Arbeit eigentlich geht? Warum spielt der Aspekt, der offenbar für viele Kulturagentinnen und Kulturagenten der Wesenskern des Gelingens ist, in unseren Papieren nur eine Nebenrolle?

(18)

Carmen Mörsch lehrt uns noch etwas anderes: Gewisse Aspekte der Qualität eines Kunstprojekts sind möglicherweise einer verallgemeinernden Beschreibung prinzipiell nicht zugänglich. Sie fallen außerhalb des Messbereichs.3

Es ist ja auffällig:

Die von unseren Kollegen genannten Merkmale der Innovation, Originalität, Verrücktheit, des Experiments, des Wagnisses oder der Störung beschreiben allesamt das Besondere an einem konkreten Kunstprojekt an Schule. Das Unberechenbare. Das Einzigartige. Den Wow-Effekt. Das, was so vorher noch niemand versucht hat. Das, was das Projekt von allen anderen Projekten unterscheidet.

Vielleicht liegt das Problem also genau hier: Das, was wirklich interessant ist, lässt sich vielleicht nicht verallgemeinern. Die Qualität, die hier gemeint ist, lässt sich vielleicht prinzipiell nicht in allgemeine Kriterien fassen. Dann ist der Versuch, Gelingens- oder Qualitätskriterien zu verfassen, an sich höchst problematisch. Denn damit beschreiben wir alles, nur eben nicht die Einzigartigkeit des konkreten Projektes. Wie soll man diese Einzigartigkeit denn auch zu fassen bekommen?

(19)

"All the things you can talk about in anyone"s work are the things that are least important… You can describe all the externals of a performance – everything, in fact, but what really constitutes its core. Explaining something makes it go away, so to speak; what"s important is what"s left over after you"ve explained everything else."4

(20)

Es sollte trotzdem unbedingt versucht werden, diesen Aspekt der Einzigartigkeit genauer zu beschreiben. Es ist nämlich das eigentlich entscheidende Kriterium. Das Kriterium für wirklich interessante Kunstprojekte an Schule. Es ist der Grund, warum wir tun, was wir tun. Es ist das, was das Wunder bewirkt. Alles andere ist zweitrangig. Es ist immer da, wenn der Zauber sich einstellt. Wenn wir nicht bezaubern, sollen die Kinder lieber Mathe machen oder Völkerball spielen oder kleine, hippe Schülerfirmen gründen. Dieses fehlende Kriterium ist der Kern der Magie.

Ich möchte es probieren. Ich möchte versuchen, das Unbeschreibbare zu beschreiben: Was ist es, was Kunstprojekte an Schule spannend macht?

(21)

Ich vergrabe Rote Beete in einem Wald und werde niemandem jemals etwas davon erzählen.5

Das finde ich interessant. Weil man das normalerweise nicht macht. Es ist Unsinn.

Was ist an Unsinn interessant?

(22)

Mit Verrücktheit oder Crazyness bezeichnen wir Verhaltens- oder Denkmuster, die nicht der akzeptierten gesellschaftlichen Norm entsprechen. Verhaltens- oder Denkmuster, die anders sind.

Und ich muss jetzt hier gestehen: Ich mag nicht nur unsinnige Projekte. Ich mag auch verrückte Projekte. Ihr Anderssein macht sie spannend.

(23)

Warum finde ich ausgerechnet Sexyness und Coolness an Schule so interessant?

Ich hätte ja meinen Text auch anders beginnen können, beispielsweise:

Ich will, dass alles, was wir tun, total redlich, absolut ehrlich und stets berechenbar ist.

Ich habe nichts gegen Redlichkeit. Und auch Ehrlichkeit finde ich prima. Und in manchen Situationen weiß ich Berechenbarkeit durchaus zu schätzen.

Nur: Irgendwie fühle ich mich dafür nicht zuständig. Das ist irgendwie nicht meine Aufgabe.

(24)

Ich glaube – nein, ich bin mir absolut sicher:

Kunst ist immer dann interessant, wenn sie anders ist als die Dinge, die außen herum entstehen oder vorherrschen.

(25)

Die Schule ist eine Sinn stiftende und Sinn definierende Anstalt. An Schule ist Unsinn daher immer interessant.

Die Schule ist der Ort, an dem gelehrt wird, was die gesellschaftlich akzeptierten Normen sind. Kunst darf, Kunst kann, Kunst muss hier ausscheren.

Und die Schule ist eher nicht cool. Und erst recht nicht sexy. Will sie ja auch gar nicht sein. Wie unendlich wirkungsvoll ist es aber dann, wenn unser Kunstprojekt sexy und cool ist.

(26)

Kunst ist eine Antwort auf die vorgefundene Lage. Je andersartiger und widerborstiger die Antwort ausfällt, desto interessanter ist sie.

(27)

Kunst kann und soll für die Beteiligten eine Differenzerfahrung ermöglichen. Eine Differenzerfahrung zu ihrem üblichen Handeln. Eine Differenzerfahrung zu ihrem sonstigen Denken. Das gilt für die Jugendlichen genauso wie für die Erwachsenen.6

Je größer die Differenz in einem Projekt zu ihrem sonstigen Erleben, desto interessanter und intensiver wird die Erfahrung. Auf je mehr Bereiche sich diese Differenzerfahrung erstreckt, desto wirkungsvoller ist sie. Und je mehr Beteiligte durch dieses Projekt eine Differenzerfahrung machen, desto besser.

(28)

Differenzerfahrungen ermöglichen an Schule. Das ist die Kunst.

Deswegen gibt es keine allgemeingültige Antwort. Denn Differenz ist relativ. Originalität ist relativ. Ein Projekt kann an einer Schule sensationell aufregend sein und ist an einer anderen Schule gähnend langweilig. Es kommt auf den Kontext an.

(29)

Kommt euren coolen Ghetto-Großstadt-Kids also bloß nicht mit Hip-Hop und Graffiti. Das könnt ihr an einer katholischen Mädchenschule im Allgäu machen. Oder von mir aus in der Seniorenresidenz des Bundes der Vertriebenen an der Elbchaussee. Da wird"s vielleicht spannend. Vermeidet das Naheliegende! Tut genau das Gegenteil!

Erst mal müssen wir schauen, wie es hier normalerweise ist. Und erst dann können wir den Gegenangriff starten. Der Kontext ist alles.

(30)

Macht Musik mit den Baller-Sounds aus Killerspielen!

Malt großformatige Ölporträts von Leuten, die der Verfassungsschutz beobachtet!

Schreibt keine Schulsongs! Vertont das Parteiprogramm der FDP!

Lasset die Kinder aus dem ärmsten Stadtteil Schmuckstücke herstellen aus echtem Silber! Machet bloß kein Friedensprojekt an eurer friedensbewegten Reformschule! Bauet eine riesige Atombombe aus Pappmaschee und lasset die Kinderlein in Reih und Glied marschieren und der Schulleiterin salutieren und nennet es das Nordkorea-Projekt! Und in die schlechteste Klasse, aus dem übelsten Jahrgang, zu den verdorbensten Kindern, denen niemand etwas zutraut – dahin schicket den besten und edelsten und teuersten Künstler, den ihr überhaupt nur finden könnt!

(31)

An der Schule werden Kinder zu sozialen Lebewesen erzogen. Es ist daher absolut interessant, egozentrische und asoziale und gegen alle Grundwerte des Schulkanons gerichtete Kunstprojekte zu machen. Aber dürfen wir das?

Ist Kunst an Schule dazu da, damit die Institution ihre sonstigen pädagogischen Ziele besser erreicht? Oder ist Kunst dazu da, die Institution selbst infrage zu stellen? Und wenn ja, ist das institutionell gewollt oder muss dies heimlich geschehen? Und wer bestimmt, wozu Kunst an Schule da ist? Wer hat die Macht? Und wer nimmt sich das Recht?

(32)

Ich finde es künstlerisch absolut interessant, wenn sich 13-jährige Jungen in einem Schulfilm mit angeklebten Schnurrbärten gegenseitig mit Maschinenpistolen erschießen.7 Denn das macht man normalerweise nicht. Es wird von Eltern, Sozialpädagoginnen und Schulleitungen normalerweise nicht so gern gesehen. Es ist normalerweise verboten. Und das Schlimme ist: Ich kann sie alle schon auch recht gut verstehen. Kunst überschreitet an Schule Grenzen. Und viele davon sind ja auch ganz sinnvoll. Vielleicht muss man Kompromisse machen.

(33)

Kompromisse sind wertvoll. Sie sind die Basis, auf der überhaupt soziales Leben möglich ist. Kompromisse herzustellen und akzeptieren zu lernen, ist eines der zentralen Ziele von Schule und Gesellschaft überhaupt. Sie sind die Basis, warum wir friedlich und zivilisiert zusammenleben. Das ist auch ganz gut so. Nur leider:

Kunst ist keine demokratische Veranstaltung. Kompromisse sind nicht sexy. Kompromisskunst ist nicht spannend. Kompromissprojekte sind langweilig. Mit Kompromisskunstprojekten werden wir junge Menschen nicht für Kunst und Kultur begeistern. Ein Dilemma.

(34)

Kulturagentinnen und Kulturagenten sind – noch vor allem anderen – Kompromiss-Vermittler, Kompromiss-Hersteller.

Wir sind damit beschäftigt, die Ansprüche der Schule, der Schulleitungen, der Lehrenden, der Jugendlichen und der Eltern mit den Ansprüchen von Kunstschaffenden und Kultureinrichtungen immer wieder unter einen Hut zu bringen. Aber falls das gelingt, falls dies überhaupt möglich ist – alle Positionen anzuhören und gleichzeitig zur Geltung zu bringen – verengt sich der Raum, auf dem etwas Neues, Originelles, Verwegenes passieren kann, damit nicht auf die Größe eines Bierdeckels? Wenn überhaupt?

(35)

Manchmal hilft Mut.

Wenn eine Lehrerin ihre Klasse zu einem verrückten Kunstprojekt anmeldet, während alle Jahrgangskollegen ihre Klassen eifrig für die Realschulprüfung vorbereiten, erfordert das Mut.

Wenn eine Sozialpädagogin ein Projekt begleitet, das ihren Schulleiter höchstwahrscheinlich auf die Palme bringen wird, erfordert das Mut.

Wenn ein Kulturbeauftragter ein Projekt initiiert, das den Vertretungsplan zerstört und für Wehklagen im Lehrerzimmer sorgt, erfordert das Mut.

Und wenn eine Schulleiterin sich hinter eine Projektidee stellt, obwohl sie weiß, dass Eltern sie dafür anfeinden werden, erfordert das Mut.

Ich wurde mehrfach Zeuge, als Verantwortliche an Schule großen Mut bewiesen haben.

Es waren die erhabensten Momente meiner Arbeit.

(36)

Wenn die Originalität, das Anders-Sein, die Differenzerfahrung den Kern der Magie beschreibt – wie verhält sich dann dieses Momentum von Einzigartigkeit, von Einmaligkeit, von Besonders-Sein zur allgegenwärtigen Forderung nach Nachhaltigkeit?

Kann man jedes Jahr das gleiche Kunstwerk machen? Und ist es dann noch ein Kunstwerk?

Natürlich kann man jedes Jahr das gleiche Kunstprojekt machen. Aber wird es damit nicht automatisch langweilig?

(37)

Wir streben nach Nachhaltigkeit durch die Einschreibung künstlerischer Projekte in schulinterne Curriculae.

Doch ich werde das Gefühl nicht los:

Sobald ein Kunstprojekt im schulinternen Curriculum steht, ist es nicht mehr originell.

Es ist nicht mehr interessant. Es ist nicht mehr anders genug. Es ist jetzt normal geworden.

(38)

Doch was ist, wenn die Schülerinnen und Schüler, die am Projekt teilnehmen, überhaupt nicht wissen, dass es im Curriculum steht? Vielleicht ist es für die Jugendlichen und für die Lehrerin, die es betreut, und für den Künstler, der es in diesem Jahr durchführt, ja trotzdem das erste Mal. Das magische erste Mal.

Es käme also beispielsweise darauf an, wie es im Curriculum steht. Es müsste hinreichend unbestimmt sein. Und hinreichend anders als alles andere, was darin steht. Am besten vielleicht: THERE WILL BE KUNST, Jahrgang 7, ungefähr zwei bis fünf Wochen lang für 10.000 Euro, alles Weitere streng geheim.

(39)

Vielleicht ist es möglich, dass an einer Schule immer wieder neue, originelle und aufregende Kunstprojekte entstehen. Die Wirkung wird allerdings nachlassen. Wenn man eine Schule über die Jahre und ihre Schülerinnen und Schüler ein Schulleben lang mit interessanten künstlerischen Projekten konfrontiert, wird es immer schwieriger, eine Erfahrung möglichst different zu allen Vorerfahrungen zu machen.

(40)

Irgendwann gewöhnt man sich auch an die Tatsache, dass man mit Außergewöhnlichem konfrontiert wird. Man hört auf, sich zu wundern. Es ist dann normal geworden. Fester Bestandteil des Alltags. Ist das dann ein Grund zu feiern?

(41)

Und lässt sich Einzigartigkeit denn prinzipiell übertragen, von einem Jahrgang auf den nächsten, von einer Schule auf eine andere, aus einer Stadt in ein anderes Bundesland?

Wenn die Originalität, das Anders-Sein, die Differenzerfahrung den Kern der Magie beschreibt – wie verhält sich dann dieses Momentum von Einzigartigkeit, von Einmaligkeit, von Besonders-Sein zur allgegenwärtigen Forderung nach Transferierbarkeit?

(42)

Ich werde noch ein Gefühl nicht los:

Sobald ein Kunstprojekt funktioniert hat, sobald ein Kunstprojekt transferiert wird, ist es nicht mehr originell. Es ist es nicht mehr interessant. Es ist nicht mehr anders genug. Es ist jetzt best practice geworden.

(43)

Ich habe Menschen sagen hören:

"Es braucht ja nicht jede Schule das Rad neu zu erfinden."

Ich wurde sehr, sehr still.

Aber nach einer Weile platzt es dann doch aus mir raus:

"Doch, Baby! Genau darum geht es!

Wir gehen jetzt da raus und erfinden jeden Tag das Rad neu!

Oder wenigstens etwas, das mindestens genauso cool ist!"

(44)

Das Rad nicht neu erfinden. Wie unglaublich unsexy ist dieser Gedanke.

1 Mörsch, Carmen: "'Störungen haben Vorrang.' Metareflexivität als Arbeitsprinzip für die künstlerisch-edukative Arbeit in Schulen", in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen", Berlin 2015.

2 Eger, Ralf: "Störungen haben keine Lobby. Qualitätsdiskurse in der kulturellen Bildung", in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen", Berlin 2015.

3 Mörsch, C., a. a. O.

4 Gorey, Edward: Ascending Peculiarity. Edward Gorey on Edward Gorey, S. 123.

5 Der Filmemacher und Lebenskünstler Dr. Thomas Oberlies tut dies mehrfach im Jahr. Ich konnte ihn zufällig einmal dabei beobachten.

6 Das haben vor mir schon wesentlich klügere Menschen so oder so ähnlich formuliert.

7 Siehe das Projekt "DAS MILLIONENGRAB" an der Winterhuder Reformschule.