
Stuttgart: In jedem ein Picasso
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Die Künstlerin Barbara Karsch-Chaïeb hat ihren eigenen Weg gefunden, Förderschüler für Kunst zu begeistern. An der Berger Schule in Stuttgart schafft sie Vertrauen zu den Kindern, stellt ihnen Fragen und motiviert sie mit Lob, aber auch mit Ehrlichkeit. Mit Lehrerin Martina Hoeschele bildet sie ein engagiertes Dozententeam – Ein guter Kontakt …
Simon ist mit dem Mund nicht zufrieden. Er sei viel zu groß geraten. "Ich habe das Bild kaputt gemacht." Nun will er nicht daran weiterarbeiten. Er wolle es nicht weiter zerstören. Der Junge besucht die 8. Klasse der Berger Förderschule in Stuttgart. Gerade ist es hell geworden. Die vielen Hügel liegen bleich im Morgennebel, der erste Schnee müsste bald fallen. Barbara Karsch-Chaïeb hat sich neben Simon gestellt.
Seit 2011 arbeitet die bildende Künstlerin als Kunstvermittlerin für das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa). An diesem Tag Ende November ist sie in die Schule gekommen, um auf Kinder wie Simon zuzugehen. "Simon, ich finde, du hast das Bild zu schnell fertig gemalt. Du weißt, du kannst acht bis zehn Mal darüber streichen." Und schon steht die Künstlerin auf, holt noch ein paar andere Farben und Pinsel herbei. "Wenn du die Brauntöne mischt, dann wirkt der Körper viel plastischer", sagt sie.
Karsch-Chaïeb hatte die Kulturagentin Johanna Niedermüller angeschrieben, als sie ihre Arbeit aufnahm und gefragt, ob sie an einer Zusammenarbeit interessiert sei. So kamen die beiden ins Gespräch. Die Kulturagentin hat sich die Arbeiten von Karsch-Chaïeb angeschaut und war begeistert. "Ihre Kunstpädagogik und die Art und Weise, wie sie denkt und tickt, hat mich überzeugt", sagt Niedermüller. Karsch-Chaïeb motiviert die Schülerinnen und Schüler, sie will das Selbstwertgefühl der Kinder steigern. Und um das zu schaffen, hat sie einen Plan.
Karsch-Chaïeb lässt Simon und seine Klassenkameraden zeichnen und malen, sich mit Stiften und Farben austoben. Viele von ihnen haben einen Migrationshintergrund – etwa Ilianna, die gern reitet, der stille Sean, der kreative Onur oder auch Ernest, der jeden Morgen vor Schulbeginn Zeitungen austrägt. "Faces – Ansichten" heißt das Projekt, das Karsch-Chaïeb in der Schule im Rahmen des Kulturagentenprogrammes betreut. In einer Woche werden die Porträts der Schülerinnen und Schüler in der ifa-Galerie gezeigt. Eltern und Geschwister werden kommen, vielleicht auch eine Capoeira-Gruppe. An diesem Morgen müssen die Bilder fertig werden, denn bald werden sie für die Ausstellung gerahmt. Ein paar stehen schon auf dem Fensterbrett. Auf die Leinwände haben die Schülerinnen und Schüler mehrfarbige Hintergründe gemalt und davor Gesichter gesetzt. Selbstporträts sind dabei sowie ausgedachte Personen oder Rapper.
Das Selbstwertgefühl steigern
Wenn Karsch-Chaïeb als Künstlerin neu an eine Schule kommt, dann ist sie zunächst ein Fremdkörper für die Schülerinnen und Schüler, wie sie selbst sagt. Schon wieder jemand, der ein Projekt macht. Vor allem an Förderschulen gebe es ziemlich viele künstlerische und kreative Initiativen, sagt sie. Karsch-Chaïeb tastet sich langsam heran, versucht eine Verbindung zu den Kindern herzustellen. Sie stellt dann Fragen: Woher kommst du? Was machst du gern in deiner Freizeit? So entwickelten sich Gespräche. "Und wenn ich dann das nächste Mal da bin, habe ich gleich etwas, an das ich anknüpfen kann", sagt sie. Karsch-Chaïeb versucht, auf jeden einzugehen, für jeden Zeit zu haben, eine gemeinsame Basis zu schaffen. An der Förderschule betreut sie zwei Gruppen à sechs Schüler. Sie schätzt es, sich auf jeden individuell einlassen zu können und zu schauen, was wem Spaß macht.
In kleinen Gruppen könne man die Impulse der Schülerinnen und Schüler besser nutzen, erkennen, wo die Potenziale liegen. Manchmal sei das nicht so einfach. Gerade an einer Förderschule hätten einige Schülerinnen und Schüler ihr Päckchen zu tragen, kämen aus zerrütteten Familien. "Manche Geschichten frustrieren einen", sagt Karsch-Chaïeb. Manchmal fühle sie sich dann wie eine Therapeutin. Und wenn Schülerinnen und Schüler einmal partout keine Lust hätten, mitzumachen, dann lässt die Künstlerin sie auch in Ruhe. Lernen, sie zu lassen, das sei sehr wichtig. "Viele kommen dann schon von allein und machen mit."
Unterschiede ausmachen, Spannungen entdecken
Martina Hoeschele schätzt solche Eigenschaften. Gute Künstler sind für sie diejenigen, die freier arbeiten, die offen sind und erkennen, welche Talente in Kindern stecken. Hoeschele arbeitet als Fachoberlehrerin für musisch-technische Fächer an der Berger Schule. Sie ist an diesem Morgen mit zum Projekt gekommen, unterstützt Barbara Karsch-Chaïeb sozusagen. Die beiden unterrichten in einem Team. "Künstler sollen ihre Individualität mitbringen", sagt Hoeschele. Es sei gut, dass durch das Kulturagentenprogramm etwa Pianisten, Sänger oder Bildende Künstler von außen kämen. Als Leherin oder Lehrer könne man da schon allerhand Unterschiede ausmachen.
Wenn man immer im gleichen Fahrwasser unterwegs sei, dann öffneten Künstlerinnen und Künstler einem oft die Augen. Hoeschele freut sich, wenn etwa mal ein Balletttänzer in den Unterricht käme. Sie findet es gut, wenn der Tänzer den Kindern dann vormacht, was es heißt, diszipliniert zu sein oder sagt: "Jetzt wird aber mal durchgetanzt." Das sei eine tolle Chance für die Schülerinnen und Schüler.
In der zweiten Gruppe, die Karsch-Chaïeb an diesem Vormittag betreut, hat sich der Geräuschpegel deutlich nach oben verlagert. Der schmächtige Cem hat am nächsten Tag Geburtstag, und ist sehr aufgekratzt. Er wird 14 Jahre alt. Cem rennt durch den Klassenraum und streitet mit seiner Klassenkameradin Anna. Der Junge sieht zerbrechlich aus, zierlich. Aber er ist laut. Künstlerin Karsch-Chaïeb bleibt ruhig, geht professionell mit den Kindern um. Sie kann das. Weiß, was sie sagen muss. Wie sie es sagen muss.
Im vergangenen Jahr betreute sie ein Projekt in einer Klasse mit 28 Schülerinnen und Schülern. Die Kinder sollten ein Kochbuch gestalten. Doch einige von ihnen waren nicht motiviert, konnten sich kaum begeistern. Das Kochbuch ist fertig geworden, es ist auch schön geworden, handgemacht, aber vielleicht hätte man es besser machen können. Aus diesem Grunde fände es die Künstlerin gut, wenn sie Projektanträge nicht immer allzu konkret formulieren müsste, wenn mehr Spielraum bliebe. Manchmal würde Karsch-Chaïeb gern ein Projekt nach den Wünschen der Kinder realisieren. Erst einmal schauen, wer lieber zeichnen, wer lieber singen möchte. Dann wären die Schülerinnen und Schüler ganz anders motiviert.
Manchmal könne man aber auch die Kinder motivieren, die Zeichnen und Malen nicht mögen oder etwa nicht daran glaubten, dass sie gut darin wären. So wie Simon zum Beispiel. Karsch-Chaïeb zeigt den Kindern daher auch abstrakte Kunst, etwa von Picasso oder Zeitgenössisches von Dan Perjovschki. In der Kunst sei nichts hässlich. Simon schlägt sie vor, bei dem Porträt, das er gemalt hat, doch erst einmal die Haare zu ergänzen. Und der Schüler setzt den Pinsel noch einmal an.