Kristin Haug
Dortmund: Die Welt hinter dem Hauptbahnhof
Kristin Haug

Dortmund: Die Welt hinter dem Hauptbahnhof

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Im Museum Ostwall im Dortmunder U lernen Schüler der Anne-Frank-Gesamtschule, wie vielfältig Kunst sein kann. Die Kunstpädagoginnen Sabine Held und Barbara Hlali machen Kunstwerke für die Jugendlichen erlebbar – mit einfachen, aber genialen Mitteln.  

Eigentlich fahren viele Kinder, die in Dortmunds Norden wohnen, nicht weiter als bis zum Hauptbahnhof. Die Stadtteile, die dahinter liegen, gehören nicht zu ihren typischen Ausflugszielen. Die Schüler der Anne-Frank-Gesamtschule wissen, dass sie in einer Gegend wohnen, die nicht zu den besten von Dortmund zählt. Doch seit eineinhalb Jahren schon gehen Schüler der neunten Klasse über "ihr Territorium" hinaus. Manchmal mit der Sozialpädagogin, manchmal mit einem Lehrer, manchmal allein. 20 Minuten brauchen sie ins Stadtzentrum.

Sie nehmen an einem Kunstprojekt teil, das an ihrer Schule im Rahmen des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen" über drei Jahre läuft. Neben der Dauer ist das Besondere an diesem Projekt die Zusammenarbeit mit einer anderen Schule, die nicht am Kulturagentenprogramm teilnimmt. "Zwei Klassen kooperieren durch Kunst miteinander", sagt Barbara Hlali, Künstlerin und Diplompädagogin, Ideengeberin und künstlerische Leiterin des Projekts.

Es stehe unter dem Motto Verbindung und Transfer. Ziel sei es, den Schülerinnen und Schülern moderne und zeitgenössische Kunst näherzubringen – und das in Verbindung mit einer anderen Klasse sowie durch die direkte Interaktion mit der Kunst. So wandeln die Schüler zum Beispiel Skulpturen und Gemälde in digitale Kunstwerke – etwa Videos – um oder lassen sich durch Videos zu eigenen Kunstwerken inspirieren, die sie aus Materialien wie etwa Gips herstellen. "Es ist schön zu sehen, wie die Schüler zusammenarbeiten", sagt Hlali. Wenn man die Jugendlichen in ihren Interessen und ihrem Können ernst nimmt, dann kommt etwas Tolles dabei heraus."

Jeden Donnerstag kommen die Schüler der Anne-Frank-Gesamtschule nach dem Unterricht ins Dortmunder U. Das große Gebäude in der Nähe des Bahnhofes war früher einmal der Kühlturm einer Brauerei. Das U steht für Union – so hieß das Bier, das in diesem Haus bis zum Anfang der neunziger Jahre hergestellt worden ist. Vor vier Jahren wurde es als Zentrum für Kunst und Kreativität wiedereröffnet und ist nun unter anderem Herberge für das Museum Ostwall, den "Hartware MedienKunstVerein", sowie Teile der Technischen Universität.

Kreativer Zugang zur Kunst

Für das Museum Ostwall im Dortmunder U arbeitet auch Barbara Hlalis Kollegin Sabine Held, die an diesem Donnerstag Ende Januar den Workshop leitet. Sie versucht, mit den Jugendlichen zusammen einen Zugang zur Kunst zu finden – und das macht sie auf sehr kreative Art und Weise. Held packt vor dem Workshop kleine Gegenstände in Butterbrot-Papiertüten: Gläser mit Steinchen, Gläser mit Sand, Knallfolie, Papier und Pappe. Damit hat sie an diesem Tag  noch etwas Besonderes vor. Die Tüten und die Gläser, das sind Sabine Helds Geheimwaffen.

Als die Neuntklässler der Anne-Frank-Schule in der Schulwerkstatt U2 ankommen, geht die Kunstpädagogin mit ihnen zwei Stockwerke höher ins Museum Ostwall, dem Kooperationspartner des Projektes. Im Museum Ostwall im U wird zeitgenössische Kunst ausgestellt – vieles aus der Fluxus-Bewegung, die in den sechziger und siebziger Jahren von Künstlern wie Joseph Beuys, Yoko Ono oder Alison Knowles angeführt wurde, und die für die Überführung der Kunst ins Leben stand. Die Schüler lernen an diesem Tag den Künstler Nam June Paik kennen. Im Jahr 1963 hat er einige Schallplatten an einem Stock befestigt. Sabine Held sagt, sie wolle den Kindern Kunst im Dialog näherbringen und fragt sie: "Wie sieht das Kunstwerk aus?"

Schüler: "Sieht aus wie ein Spieß."

Held: "Wie könnte es heißen?"

Schüler überlegen.

Held: "Schallplatten-Schaschlik heißt das Werk. Was ist ein Schaschlik?"

Schüler: "Ein Spieß mit Wurst und Gemüse daran".

Held: "Ja, genau. Und wie könnte man diesen Schaschlik mit den Schallplatten benutzen?"

Held will keine Vorträge halten. Kunst soll erlebbar sein. Und damit fährt sie gut. Die Jugendlichen sind aufmerksam, hören ihr zu, stellen Fragen und lernen nebenbei Kunstgeschichte. Held hat es geschafft, ihre Neugier zu wecken. Dann zeigt die Kunstpädagogin den Schülern ein Werk von Alison Knowles. Es heißt Yellow Panel, hängt im Museum an der Wand und ist eine Stoffbahn, an der mehrere Stoffbeutel festgenäht wurden. In jeder kleinen Tasche befindet sich etwas, das man allerdings nicht erkennen kann. Kaffeebohnen könnten darin sein oder kleine Steinchen, die Geräusche machen, wenn man an ihnen wackeln würde.

Ein Opus aus Geräuschen

Anschließend lässt Sabine Held die Kinder in einem Kreis aufstellen. Jeder hält eine Butterbrot-Papiertüte, ein Glas, eine Rassel oder einen anderen Gegenstand zum Geräusche machen in der Hand. Die Kinder schütteln die Tüten nacheinander, jede klingt anders. Es klappert, es schellt, es raschelt, es klingt. Die Tüten werden zu Klangkörpern. Held zeigt nun mal auf diesen, mal auf einen anderen Schüler, dann wieder auf den nächsten. Die Kinder machen im Takt Geräusche. Held ist nun die Dirigentin, die ein Orchester aus Schülern mit Klangkörpern vor sich hat: Gemeinsam kreieren sie ein Opus aus Geräuschen. Auch die Schüler übernehmen schließlich die Dirigentenrolle. Und am Ende pustet ein Mädchen Luft in eine Tüte und lässt sie dann laut knallen. Tusch! Wieder macht Held Kunst erlebbar, erfahrbar. Das Visuelle tritt nun zugunsten der Geräusche in den Hintergrund.

Fotos: Kristin Haug

Die Jugendlichen lernen so, dass Kunst mehr sein kann als Gemälde an Wänden oder Skulpturen in Hallen. Ein Mädchen sagt: "Wir lernen hier viel darüber, wie Kunst verschieden dargestellt werden kann. Und es kommen immer andere Themen dran." Held versucht als Kunstvermittlerin, Bezüge zu schaffen und zu vermitteln, dass man auch selbst Bestandteil eines Kunstwerks sein kann.

Auf der Anne-Frank-Schule hätten 86 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund, sagt Kulturagentin Barbara Müller. Viele von ihnen seien noch nie in einem Museum gewesen. Doch seit dem Projekt trauten sie sich ins "U", manchmal auch einfach so in ihrer Freizeit. Dann brächten sie sogar Freunde und Eltern mit. "Kunst ist eine Möglichkeit für die Schüler, Zugang zur Welt zu finden, Teil der Gesellschaft zu werden."  Kunst sei so wichtig für die Entwicklung der Persönlichkeit. Das klinge so groß, schiebt die Kulturagentin gleich nach. "Aber es ist doch so."