Albert Schmitt
Kooperation zwischen Leidenschaft und Sachlichkeit
Albert Schmitt

Kooperation zwischen Leidenschaft und Sachlichkeit

Wie ein Orchester und eine Schule gemeinsam unter einem Dach leben und arbeiten

Es gibt einfachere Fragen als die nach den "Gelingensbedingungen"1 von Kooperationen zwischen Schulen und Kultureinrichtungen. Denn gültige Antworten sind in hohem Maße kontextabhängig. Für skandinavische Schulen werden sie anders ausfallen als für afrikanische. Für US-amerikanische Orchester gelten ganz andere Bedingungen als für japanische. Mir ist selbstverständlich bewusst, dass wir hier über Deutschland sprechen, aber wird es dadurch einfacher? Die Gesamtschule im Flächenland agiert in einem völlig anderen Kontext als die Eliteschule in der Großstadt, und das Internat auf dem Land hat mit der Gesamtschule in der Metropole wahrscheinlich wenige Gemeinsamkeiten. Das vorweggeschickt, will ich im Folgenden ein paar Ansatzpunkte wagen, die jede/jeder entsprechend ihres/seines Kontexts beleuchten, annehmen oder verwerfen mag. Für uns sind sie gültig. Wer wir sind? Eine Gesamtschule in Bremens Stadtteil Osterholz-Tenever mit den im städtischen Vergleich schlechtesten Sozialdaten und ein ebenfalls in Bremen beheimatetes klassisches Orchester, das eher amerikanisch gemanagt als deutsch verwaltet wird.

In dem Stadtteil leben 88 Nationen, Kinderarmut ist ein Thema, über 60 Prozent der Menschen empfangen staatliche Transferleistungen, und der Einbruch von Gewalt bedeutet eine permanente Bedrohung. Die Gesamtschule Bremen-Ost hat es in Deutschland inzwischen zu einiger Berühmtheit gebracht. Das liegt daran, dass man hier früh verstanden hat, wie in einer bildungsfernen Situation trotzdem erfolgreich Schule gemacht werden kann. Es braucht dafür eben mehr als Wissensvermittlung: "Es geht darum, sich zu kümmern, Orientierung zu bieten"2. Das tun die rund 120 Lehrerinnen und Lehrer der Gesamtschule Bremen-Ost so beispielhaft, dass die Schule gleich mehrfach für den deutschen Schulpreis nominiert war und in den Rankings, wie beispielsweise im Magazin Focus, regelmäßig unter den besten zwanzig landet. So etwas geht nur mit überdurchschnittlichem Engagement aller Beteiligten, vom Hausmeister über die Fachlehrkräfte, der Sozialpädagogen und Eltern bis hin zur Schulleitung. Nur wenn alle bereit sind, den Kampf gegen die soziale Benachteiligung aufzunehmen und sich für Erfolg oder Misserfolg persönlich verantwortlich zu fühlen, dann wird das Unmögliche möglich. Genau das ist im Jahre 2007 schließlich auf eine Weise passiert, die niemand auch nur in seinen kühnsten Träumen vorhergesehen hätte.

Szenenwechsel: Bremen-Walle im Jahr 2006, das Waldau Theater (die Bremer Antwort auf das weit berühmtere Hamburger Ohnsorg Theater). Hier probt die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, die seit dem Durchbruch im Rahmen der PROMS in London im Jahre 1993 von Fachleuten zur Weltspitze gezählt wird, unter – vorsichtig gesagt –suboptimalen Bedingungen. Der Klangkörper gilt nicht nur als Orchester des 21. Jahrhunderts, weil das klassische Repertoire durch seinen Zugriff eine einzigartige Aktualisierung erfährt, sondern auch, weil sich hier der Organismus klassisches Orchester in wesentlichen Strukturen neu erfunden hat. Die Musikerinnen und Musiker sind nicht, wie in Deutschland üblich, angestellt, sondern sie sind die alleinigen Eigentümer ihres mittelständischen Orchester-Unternehmens. Sie tragen demnach nicht nur Verantwortung für die Töne auf der Bühne, sondern auch für die Zahlen in den Bilanzen. Initiativgeist ist die erforderliche Charaktereigenschaft. Leidenschaft und Verantwortungsbereitschaft gehen damit einher. Als einziges Orchester in Deutschland hat man, in Kooperation mit Betriebswirtschaftsprofessor Dr. Christian Scholz von der Universität in Saarbrücken, eine eigene Managementphilosophie entwickelt, die in der Zwischenzeit in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen überall dort auf Begeisterung stößt, wo die Ansprüche etwas höher sein müssen. Angefangen beim Schulorchester des Heinrich Heine Gymnasiums Bottrop über die Erzdiözese in Wien bis hin zur Investmentsparte der Commerzbank. Und das geschah nicht etwa aus Langeweile, sondern um der Benachteiligung erfolgreich zu begegnen. Eine Benachteiligung, die aus der Tatsache erwächst, dass nach 1960 in Deutschland gegründete Orchester keine nennenswerte Förderung mehr zu erwarten haben. Dementsprechend hat sich die mit 35 Jahren noch junge Deutsche Kammerphilharmonie Bremen zwar eine beachtliche Subventionsquote von 29 Prozent (vom Land Bremen) erkämpft, vor dem Hintergrund der in Deutschland üblichen 80 bis 90 Prozent Subventionierungsquote für Kulturorchester hat sie aber ohne Weiteres keine reelle Wettbewerbschance. Die Lösung hieß also Unternehmertum im Sinne von etwas unternehmen, Verantwortung akzeptieren, kreative Lösungen entwickeln und Chancen wittern lernen. Ganz in diesem Sinne hatte man Anfang 2006 einen neuerlichen Aufbruch verabredet, um nach angemessenen Proberäumen zu suchen.

Zeitgleich mit diesem Aufbruch neigt sich ein jahrelanger – für Lehrerkollegium, Schülerschaft, Eltern und Schulleitung der Gesamtschule-Ost – entnervender PCB-Sanierungsprozess seinem Ende zu. Die Stadt Bremen hatte ein Sanierungsbudget in Millionenhöhe zur Verfügung gestellt und hoffte in der Haushaltsnotlage auf eine zumindest teilweise Refinanzierung. Deshalb suchte die Stadt nach Mietinteressenten für Teilflächen des sanierten Schulgebäudes und fand einen solchen im Orchester. Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen meldete Interesse an.3 Das Orchester hat in der Folge im Jahre 2007 seinen Arbeitsmittelpunkt in die Schule hinein verlagert. Das heißt: die Musiker kommen nicht nur zu Besuch, sondern sie arbeiten täglich hier. Mal hinter geschlossenen Türen und unter für klassische Orchester hochkarätigen Arbeitsbedingungen (mehrere Echo Klassik-prämierte CDs sind inzwischen hier produziert worden), mal bei geöffneten Türen, die mitten hinein in das schulische "Paralleluniversum" im sozialen Brennpunkt führen.

Hier noch einmal die Fakten: Gesamtschule Bremen-Ost, eine Oberschule (seit Zuzug der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen) mit angegliederter Oberstufe. Seither größte Schule des Landes mit über 1.300 Schülerinnen und Schülern. Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, eines der weltweit führenden Orchester, im Besitz der Musikerinnen und Musiker als Unternehmen geführt.

Allein diese Grundbedingungen bieten bereits alle Voraussetzungen für ein Scheitern, das keiner weiteren Begründungen bedurft hätte. Dass das Miteinander trotzdem gelingt, hat ganz viel mit Haltung zu tun. Eine Haltung, die geprägt ist von Chancenorientierung, Mut, großer Imaginationskraft, Sachorientierung, Respekt, Toleranz und gesunder Grenzziehung.

Aber der Reihe nach. Chancenorientierung bedeutet, sich bietende Gelegenheiten mit der Entschlossenheit beim Schopf zu packen, das Beste daraus zu machen. Es hätte tausend und mehr Gründe gegeben, dieser sich abzeichnenden Konstellation auszuweichen oder sie aktiv abzuwenden: gegenseitige Lärmbelästigung, Sicherheit der teuren Instrumente, weite Arbeitswege für die Musikerinnen und Musiker, Mehrarbeit für die Lehrkräfte und so weiter.

Dagegen standen ungewisse Mehrwerte wie beispielsweise bessere Proberäume für die Musikerinnen und Musiker, höhere Aufmerksamkeitswerte für die Schule und eine Reihe vermuteter positiver Effekte für das Lernklima hier und die künstlerische Inspiration dort.

In einer solchen Ausgangslage die Veränderung zu wählen, zeugt in erster Linie von dem Mut, die eigene Komfortzone zu verlassen. Dieser Begriff ist wunderbar illustrativ für eine Situation, in der man sich so gemütlich eingerichtet hat, dass man sie am liebsten nie wieder verlassen möchte. Gemeint ist hier aber nicht das Lehrerzimmer mit den vielen kleinen Errungenschaften, die das Leben leichter machen und für die man womöglich Jahre gekämpft hat – sei es das Mobiliar oder der Kaffeevollautomat. Gemeint ist auch nicht das Ausnutzen von Schwachstellen im Schulrecht oder in den Verwaltungsvorschriften, wodurch sich viele kleine Annehmlichkeiten organisieren lassen. Gemeint ist vielmehr die psychologische Komfortzone. Sie ist zwar nicht so offensichtlich, aber sehr viel tückischer, da sie nicht nur positive Aspekte birgt. Das Charakteristische für diese Komfortzone ist, dass sie im psychologischen Sinne für maximale Sicherheit steht. Sie ist der Grund, warum Menschen oft gegen jedes rationale Verständnis an für sie ungünstigen Bedingungen festhalten. Ganz einfach, weil es das ist, was sie kennen und weil das Bekannte Sicherheit verspricht Gegen derlei Beharrungskräfte hilft nur Mut. Mut zur Veränderung. Und der braucht auch noch seine große Schwester, den Mut zur aufrichtigen Selbstreflexion, die das Risiko birgt, auf Eigenschaften zu stoßen, die man lieber nicht entdeckt hätte, weil sie vielleicht peinlich, schwach oder hässlich sind. Vielleicht aber auch, weil sie groß, strahlend und machtvoll sind. Oft genug sind es gar nicht die minderwertigkeitsbelasteten Eigenschaften, die uns vor uns selbst zurückschrecken lassen, sondern unser positives Potenzial. Und damit bin ich bei der Imaginationskraft.

Viele Dinge wären nie entstanden, wenn nicht einzelne Menschen oder ein Kollektiv den Mut gefunden hätten, ihren Träumen zu vertrauen. Diese Träume haben wir alle, die wir täglich mit Idealen umgehen, sei es in der Bildung oder in der Kultur. Die Ideale sind es, die uns antreiben, wenn wir mit der Wurzel unseres Tuns noch in Kontakt sind. Ob und in welchem Maße das der Fall ist, kann uns die aufrichtige Selbstreflexion beantworten. Manchmal liegt hier schon das Übel begründet, weil das jahrelange, tägliche "Rendezvous mit der Realität" die ursprüngliche Quelle bis zur Unkenntlichkeit getrübt oder gar zugeschüttet hat. In solchen Fällen muss ich mir über Imaginationskraft erst einmal keine Gedanken machen, da gilt die ganze Aufmerksamkeit vorläufig den behutsamen Aufräum- und Freilegungsarbeiten. Wo das nicht erforderlich ist, kann es nützlich sein, den imaginativen Kräften mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Dafür ist jede Form des wirklich kreativen, künstlerischen Schaffens von großem Vorteil.

Visionäre Kraft geht mit Leidenschaft einher, und Leidenschaft ist ein starker Motor, aber auch ein wirkungsvolles Hindernis, wenn es um Verständigung geht. Es ist also einerlei, ob Schule oder Kultureinrichtung – es gilt, eine Vision zu formulieren, und es gilt, sie gemeinsam in die Tat umzusetzen, was zwingend eine Einigung zur Voraussetzung hat. Entweder steht die Antwort auf die Frage an "Wer folgt wem?", oder es geht um die Klärung der Kompromisslinie.

Daher braucht es Sachorientierung, wenn es darum geht, gute erste Schritte zu definieren über die man "in Beziehung tritt". Denn um nichts anderes geht es bei einer Kooperation: um das Etablieren einer Beziehung zwischen zwei Institutionen, die gut ohne einander ausgekommen sind und die im Zweifel erst einmal lernen müssen, einander zu verstehen. Liebe hilft dabei, sich aufeinander zu beziehen, ist aber nicht conditio sine qua non. Respekt tut"s als Mindestbasis auch.

Ein kleines Beispiel aus unserer Kooperation mag das verdeutlichen: Die Proberäume der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen liegen mitten in der Schule. Nicht in der Nähe, nicht in einem Anbau, sondern mitten im Gebäude. Im Sinne der gegenseitigen Offenheit und als Zeichen des Vertrauens war es eine verführerische Überlegung, sich durch Überlassen der jeweiligen Schlüssel den gegenseitigen Zugang zu den jeweiligen Räumen zu ermöglichen. Ich hatte seinerzeit darauf verzichtet, weil es mir wichtig und richtig erschien, eine Privatsphäre zu erhalten, die dem Anderen die Mühe zumutet, um deren Betreten zu bitten. Ist doch jede lange anhaltende Beziehung nicht nur von wechselseitigem Respekt und Vertrauen geprägt, sondern immer auch vom anhaltendem Werben um den Anderen, was zur Voraussetzung hat, dass ich mir seiner Andersartigkeit bewusst bleibe und ihr mit größtmöglicher Achtung begegne. Übertragen auf die institutionell professionelle Eben gilt das Gesagte in abgeschwächtem Maße, aber im Grunde genauso. Hier kommt dann der Begriff der Toleranz ins Spiel. Andersartigkeiten gilt es, zu tolerieren und als solche anzunehmen. Dadurch wird eine Basis des gegenseitigen Angenommenseins geschaffen, die aufkeimenden Ängsten entgegenwirkt. Angst ist im Übrigen ein wichtiges Stichwort im Beziehungszusammenhang, denn das wahre Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern eben Angst. Aber das Gegenmittel haben wir weiter oben schon kennengelernt. Es ist auch hier wieder der Mut.

Damit sind die mir wesentlich erscheinenden Bedingungen einmal vollständig genannt, unter denen die Potenziale einer Kooperation zwischen Schule und Kultureinrichtung maximal ausgeschöpft werden können. Alle, die mehr erfahren wollen, sind hiermit herzlich eingeladen, sich die Arbeit vor Ort anzuschauen oder am Programm der Commerzbank-Stiftung teilzunehmen. Sie hat uns glücklicherweise in die Lage versetzt, den Know-how-Transfer von Bremen zu anderen Orten zu finanzieren, indem wir Tandemteams aus Schulen und Kultureinrichtungen einladen, die das Phänomen vor Ort studieren können.

Die Zusammenarbeit mit der Gesamtschule Bremen-Ost bündeln wir im sogenannten Zukunftslabor. Hier finden zahlreiche Projekte gemeinsam mit der Schule statt. Außerdem initiiert die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen im Zukunftslabor Begegnungen von Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen und Kulturen. Das Funktionieren dieses Formats muss sich für aktuelle Vorhaben immer wieder neu bewähren. Ohne die beschriebene Haltung wäre nichts dergleichen entstanden, und es wäre auch keinen Meter weiter zu entwickeln.

Wir müssen uns doch fragen, warum wir in unseren Schul- und Bildungseinrichtungen eigentlich permanent beklagen, dass zu wenig Geld da sei. Sicherlich ist Geld die Zutat, von der es im Zweifel immer ein bisschen mehr sein kann. Aber im internationalen Vergleich stehen wir so schlecht nicht da. Der Grund für die Unzufriedenheit und den Ruf nach mehr Geld liegt meines Erachtens eher in einem Haltungsschaden, und Haltungsschäden sind schmerzhaft. Der Schmerz ist real, und wir alle erleiden ihn täglich. Das Übel bei der Wurzel zu packen, heißt für mich, die Haltung zu ändern. Weg von einer für Wohlstandsgesellschaften typischen, aber nicht hilfreichen Konsumentenmentaliät hin zu einer chancenorientierten, kreativen Unternehmermentalität – was in meinem Verständnis auch für Bildungseinrichtungen gilt. Das geht nicht von jetzt auf gleich, es geht auch nicht ohne Rückschläge und Schmerzen, aber es geht jeden Tag ein bisschen leichter, wenn wir erst einmal damit beginnen.

Es braucht: Initiativgeist (Unternehmertum), Chancenorientierung, Mut, große Imaginationskraft, Leidenschaft, Sachorientierung, Verantwortungsbereitschaft, Mehrarbeit, Respekt (wenn nicht Liebe), Toleranz, gesunde Grenzziehung.

Diese Auflistung legt bereits nahe, dass einfache Rezepte nicht greifen. Die Zutaten sind zum Teil von größter Widersprüchlichkeit (Leidenschaft – Sachorientierung). Das dahinter liegende Haltungsmerkmal ist daher ein konsequentes Sowohl-als-auch. Einen tieferen Einblick in diese für die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen charakteristische Denkweise bietet das von Christian Scholz und mir gemeinsam verfasste Buch: "Hochleistung braucht Dissonanz"4. Allen, die sich auf das Abenteuer von Kooperation einlassen wollen kann ich nur von Herzen dazu gratulieren. "Der Weg wird kein leichter sein"5, aber ein lohnender.

1 Hüther, Gerald: Die Macht der inneren Bilder, Göttingen 2004.

2 Anette Rüggeberg zitiert nach: "Sozialarbeit im Dreivierteltakt", in: Süddeutsche Zeitung vom 21.02.2015.

3 Tönnesmann, Jens: "Zukunftsmusik", in: brand eins Neuland 06 – Land Bremen, 2013, S. 189–196.

4 Schmitt, Albert; Scholz, Christian: Hochleistung braucht Dissonanz. Was Teams vom 5-Sekunden Modell der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen lernen können, Weinheim 2011.

5 Songtitel von Xavier Naidoo.