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Was stört und ist trotzdem da?
fragen
In einem Modellprogramm zu arbeiten, das unter anderem nachhaltige Strukturen für künstlerische Praxis in Schulen integrieren möchte, stellte mich zu Beginn des Programms vor die Aufgabe, darüber nachzudenken, woran sich diese nachhaltigen Strukturen eigentlich festmachen lassen und was damit gemeint sein könnte.
Die Nachhaltigkeit1 für die in einem Zeitraum von vier Jahren geschaffenen künstlerischen Strukturen sollte darin bestehen, diese auch nach Programmende ohne die finanziellen und personellen Ressourcen des Programms fortzuführen und aktiv im Schulalltag umzusetzen. Wie also kann eine solche Nachhaltigkeit implementiert werden? Durch ein methodisches Vorgehen? Durch eine Person, die in der Schule bleibt, beispielsweise eine_n Künstler_in? Durch einen künstlerischen Ansatz, der im Schulprogramm steht, oder vielleicht einfach durch Gelder, die immer wieder für künstlerische Projekte eingesetzt werden?
Mein Anspruch und meine Herangehensweise, diesen Fragen zu begegnen, waren es, mit Künstler_innen und Lehrer_innen eine gemeinsame Haltung zu künstlerischen Prozessen und Praktiken zu entwickeln. Ich wollte herausfinden, welches Selbstverständnis die Akteur_innen der Schulen mitbringen, welchen Anspruch sie an eine künstlerische Praxis haben, was sie benötigen, um diesen umzusetzen, und wie sie diesen mittels künstlerischer Impulse gemeinsam mit den Künstler_innen verfolgen würden. Darauf aufbauend sollten (neue) Ideen (weiter-)entwickelt, neue Handlungsfelder beschrieben und gemeinsam eine Strategie formuliert werden, um diesen Prozess zu reflektieren.
Ich wollte ein Bewusstsein für Differenz und Ungleichheit innerhalb institutioneller Strukturen schaffen, um – im Sinne von Carmen Mörsch, die kulturelle Bildung als Möglichkeitsraum begreift, in dem gesellschaftliche Emanzipation, Mitbestimmung, (Selbst-)Befragung und "Widerborstigkeit" ausgebildet werden können – Schule als Ver- und Aushandlungsort zu gestalten. Kulturelle Bildung betont nach Mörsch "das Potenzial der Differenzerfahrung beim Bilden mit Kunst und setzt einem Effizienzdenken die Aufwertung des Scheiterns, von Suchbewegungen, von offenen Prozessen und offensiver Nutzlosigkeit als Störmomente entgegen". Mörsch zufolge eröffnet kulturelle Bildung Räume, "in denen – neben Spaß, Genuss, Lust am Machen und Herstellen, Schulung der Wahrnehmung, Vermittlung von Fachwissen – auch Probleme identifiziert, benannt und bearbeitet werden können. In denen gestritten werden kann."2
Das Zusammentreffen beider Bereiche – Kunst und Schule – produziert systematisch Spannungsfelder. In der Zusammenarbeit von Lehrer_innen und Künstler_innen sind meines Erachtens das Austarieren, In-Verhandlung-Treten und Verändern der eigenen Positionen erforderlich, um Differenzen, Widerstände, Störungen und Irritationen3 auszuhalten und einen konstruktiven, kooperativen Umgang mit ihnen zu entwickeln – quasi als Qualitäten der Störung. Widerspruch und Störung als Qualität zu beschreiben, die für Veränderung und (Gegen-)Beweglichkeit sorgen, wird meiner Ansicht nach in der Schule bisher weder als Potenzial noch als Selbstverständlichkeit wahrgenommen oder genutzt.
Wie also können Künstler_innen und Lehrer_innen die gemeinsame Praxis und ihre Bedingungen reflektieren, um dieses Potenzial nutzbar zu machen? Vor dem Hintergrund dieser Frage führt Carmen Mörsch den Begriff der "Metareflexivität"4 ein. Ihr zufolge seien Spannungsfelder und Widersprüchlichkeiten absolut konstitutiv für Projekte kultureller Bildung: "Je stärker ein Projekt versucht, von Kunst aus zu agieren, je stärker es auch auf die Hinterfragung und Veränderung bestehender Strukturen angelegt ist, desto mehr treten sie zutage."5 Damit würde "Metareflexivität als Arbeitsprinzip für die künstlerisch-edukative Arbeit in Schulen"6 Spannungsfelder sichtbar und verhandelbar machen.
verknüpfen
Das Praxisbeispiel "Lautpoetische Stimmexperimente"7 kann exemplarisch für eine mögliche Vorgehensweise stehen, wie Metareflexivität in der Praxis umgesetzt werden könnte.
"Lautpoetische Stimmexperimente" wurde gemeinsam von einem Künstler, einer Lehrerin und mir als Kulturagentin in der Fichtelgebirge-Grundschule konzipiert. Ausgangspunkt bildete die einjährige Workshopreihe "Ich mach" mir die Welt …" für Pädagog_innen8, in der künstlerische Ansätze für den Unterricht in Zusammenarbeit mit Künstler_innen und Kulturagentin entwickelt, erprobt und gemeinsam reflektiert wurden. Vier Lehrer_innen zeigten Interesse, diese Arbeitsweise, die wir als "Co-Mentoring" bezeichneten, in der Schule weiter auszubauen: Alle zwei Monate führten die Beteiligten ein gemeinsames Methodentreffen durch, um sich über die laufenden Projekte auszutauschen und beispielhaft Einblicke in die jeweiligen Arbeitsprozesse zu geben sowie weitere experimentelle Ansätze methodisch zu erproben.9
begleiten
Neben den gemeinsamen Methodentreffen, bei dem vier Lehrer_innen, der Künstler und ich in zweimonatigem Austausch miteinander arbeiteten, begleitete ich das Projekt "Lautpoetische Stimmexperimente" durch teilnehmende Beobachtungen während des Unterrichts und führte Einzelinterviews.
beobachten
Der Fokus meiner Beobachtung richtete sich darauf, wie die Projektarbeit gestaltet sein würde. Welche spezifischen Vorgehensweisen und Strategien ließen sich jeweils entdecken? Wo würden Unterschiede und wo Ähnlichkeiten in der Zusammenarbeit mit den Schüler_innen, in der Konzeption und auch der Reflexion sichtbar werden? Welche spezifischen Gewohnheiten und Routinen, welche Widersprüchlichkeiten, welche Handlungsmuster würden in der Zusammenarbeit hervortreten und sichtbar werden?
Unser Co-Mentoring sah vor, dass auch die Projektidee gemeinsam formuliert, durchgeführt und reflektiert werden sollte. Nach dem ersten Treffen zwischen Lehrer_innen, Künstler und Kulturagentin beschrieb der Künstler sein großes Erstaunen. Er habe nicht erwartet, dass alle vier Lehrer_innen ihre Ideen so vage beschreiben würden, dass er nun keine wirkliche Vorstellung davon habe, was sie genau mit ihm realisieren wollten. Ich konnte sein Erstaunen nicht teilen, weil sich doch jede Lehrer_in etwas ausgedacht hatte. Obwohl sie teilweise noch unklare Vorstellungen hatten, die wir dann gemeinsam im Gespräch ausformulierten, hatten alle am Ende eine grobe Idee entwickelt. Zum Beispiel wollte eine Lehrerin literarisch arbeiten, konnte sich jedoch nicht vorstellen, eine Verbindung zur Musik herzustellen. Sie befürchtete einer anderen den Platz wegzunehmen, wenn sie mitmachen würde. Im Gespräch mit dem Künstler entstanden dann erste Verknüpfungen zwischen Literatur und Musik, die in der Folge zum Projekt "Lautpoetische Stimmexperimente" führten.
Mich interessiert an dieser Beobachtung der Widerspruch zwischen der Wahrnehmung des Künstlers und meiner eigenen. Das Co-Mentoring-Modell setzte zu Beginn des dritten Programmjahres ein, im Gegensatz zu dem Künstler konnte ich also bei der Entwicklung von Projektideen mit den Lehrer_innen auf zwei Jahre Erfahrungen zurückgreifen. Während er erstaunt darüber war, dass er ihre Ideenformulierungen nicht verstand, war ich irritiert und belustigt über sein Erstaunen. Zum einen hatte ich scheinbar mein eigenes Erstaunen zu Beginn meiner Arbeit als Kulturagentin vergessen und konnte diesen Umstand nun durch seine Reaktion reflektieren. Zum anderen wurde mir dadurch bewusst, dass Arbeitsprozesse und Projektentwicklung eine gemeinsame Zeit brauchen, um eine gemeinsame Sprache zu finden. Dieses Beispiel zeigt darüber hinaus einen weiteren Widerspruch auf, den ich als Reproduktion und Dekonstruktion von Routinen beschreiben würde: Aus meiner Perspektive brauchen alle am Prozess Beteiligten die Möglichkeit, Reflexionsschlaufen in ihre Arbeitsprozesse einzubauen, weil sich auf Grund von Erfahrungen Handlungsmuster und Routinen in Bezug auf die Zusammenarbeit festsetzen und in der Folge als selbstverständlich angenommen werden. Selbstverständnisse können den Arbeitsalltag und die Zusammenarbeit natürlich erleichtern. Gleichzeitig können sie aber auch, wie in dem Beispiel deutlich wird, Irritationen produzieren, wenn sie hinterfragt werden.
Ich meine, in diesem Beispiel auch Verunsicherungen der Lehrer_innen in Bezug auf die Art der Zusammenarbeit (Rollenzuschreibungen und -verteilung) und die inhaltlichen Vorstellungen beobachtet zu haben. Einerseits ist ein Großteil der Lehrer_innen gewohnt, allein vor der Klasse zu stehen, allein zu entscheiden, wie etwas gemacht wird oder wie nicht. In Projektzusammenhängen ist es der gewohnte Weg, dass die Lehrer_in der Künstler_in den Rücken freihält, damit diese_r ihre Arbeit machen kann. Das heißt, im beschriebenen Beispiel wird ein Modell der Zusammenarbeit vorgeschlagen, in dem zwei Personen, Lehrer_in und Künstler_in, zusammen überlegen, wie sie eine Situation gemeinsam gestalten, an Hand von zwei unterschiedlichen Expertisen und Perspektiven – beispielsweise indem das jeweilige Verständnis in der Auseinandersetzung mit einem Gegenüber neue Aspekte aufwirft, wie beispielsweise, dass Musik und Literatur als Ausgangspunkt für ein künstlerisches Projekt dienen können.
Hier interessiert mich, inwiefern neue oder andere Herangehensweisen zwangsläufig Routinen und Sichtweisen irritieren, die doch gewissermaßen auch den Alltag zu strukturieren helfen? Aber können sie gegebenenfalls auch Impulse für neue Lösungswege liefern, überraschen, herausfordern und provozieren?
erzählen
Im Folgenden beschreiben Künstler und Lehrerin ihr jeweiliges künstlerisches und pädagogisches Selbstverständnis in Bezug auf experimentelle Musik. Der Künstler sprach über die Bedeutungsebenen von Klängen und ihre Identifizierbarkeit in Bezug auf den Gegenstand, der sie erzeugt. Ihm zufolge gäbe es unterschiedliche Klangqualitäten, und um diese herauszuarbeiten, müsse klangimmanent vorgegangen werden, um von der Identifizierbarkeit der Herkunft eines Klanges wegzukommen. Die Lehrerin beschrieb, dass es ihr im Unterricht grundsätzlich darum gehe, Kategorien aufzubrechen: "Wir denken nicht in richtig oder falsch, darum geht es überhaupt nicht." Sie beschäftigte sich mit der Frage, wie sie dieses Anliegen methodisch aufgreifen könne, wenn die Schüler_innen zum Beispiel wissen möchten, welchen Klang sie nun gehört haben: Ist es ein Streichholz, oder ist es ein Spiegelei? Wie können also unterschiedliche Bedeutungen, Interpretationen, Dinge bei der Wahrnehmung eines Klangs nebeneinanderstehen und in Form unterschiedlicher Begriffe und Beschreibungen Vielperspektivität eröffnen?
Grundsätzlich haben beide, Lehrerin und Künstler, ein sehr ähnliches Verständnis davon, dass Kategorien einschränkend wirken können, wenn sie nicht hinterfragt werden. Der Künstler verdeutlichte sehr konkret, dass der Automatismus, einen Klang zu beschreiben, darin liege, ihn an Hand seiner Herkunft zu identifizieren, zum Beispiel beim Klang eines Autos: Die Aussage "Da kommt ein Auto" erfasst den Klang nicht differenziert genug, sodass er nicht von einem anderen Auto unterschieden werden kann. "Da kommt ein langsames, lautes, altes, kaputtes Auto" hingegen ermöglicht durch das Differenzieren, Hinterfragen und Herausarbeiten von Klangqualitäten neue Perspektiven auf einen bekannten Klang und de- sowie rekonstruiert die Wahrnehmung der Umgebung, macht sie gegebenenfalls komplexer und sensibilisiert das Hörerlebnis.
Aus anderen Passagen des Gesprächs geht hervor, dass die Lehrerin viel mit ihren Schüler_innen diskutiert und nach deren Meinung fragt. Wenn jemand sagt: "Finde ich blöd" oder "Finde ich gut", möchte sie genau wissen, was gut oder blöd ist. Auch sie fordert die Schüler_innen auf, zu beschreiben, was sie wahrnehmen, um durch das konkretere und differenziertere Benennen und Beschreiben einer Aussage für andere Sichtweisen zu öffnen, Spielräume für Auseinandersetzungen anzubieten und dadurch Bedeutungen und Meinungen nebeneinanderzustellen, um beispielsweise Kategorisierungen zu hinterfragen.
Beide, Lehrerin und Künstler, setzten sich mit Bedeutungen von Kategorien auseinander. Darin enthalten war auch die Reflexion von Definitionsmacht – denn die Frage, welche Kategorien als natürlich wahrgenommen werden und damit wirkmächtiger sind als andere, wird implizit mitverhandelt. Meine Überlegung dazu ist, ob nicht neue Hierarchien durch den Versuch der Aufhebung von "richtig und falsch" entstehen. Ist es möglich, bewertungsfrei unterschiedliche Bedeutungen nebeneinanderzustellen?
reflektieren
Am Ende entschieden wir uns gemeinsam, das Projekt mit einem Experiment abzuschließen. Wir wollten unsere Praxis mit Hilfe der künstlerischen Methode "Graphic-Recording"10 reflektieren.
Alle Beteiligten (Lehrerin, Künstler und Kulturagentin) hatten abwechselnd die Rolle der Erzähler_in, der Zeichner_in und der Fragenden (je 30 Minuten) inne. Während eine Person fragte und die andere erzählte, dokumentierte die Zeichner_in das Gespräch. Auf diese Weise entstanden drei unterschiedliche Bilder, die wiederum drei Übersetzungen des Erzählten festhielten. Diese Zeichnungen dienten im Anschluss als Grundlage, um die drei Perspektiven miteinander zu vergleichen und zu diskutieren.11
Ergebnisse aus dem Graphic-Recording-Prozess
Foto: Alexander Müller/Forum K&B
Bei der gemeinsamen Betrachtung der Aufzeichnungen stellten wir fest, dass wir sie bereits nach der ersten Betrachtung nicht mehr unmittelbar mit der Erzählung und folglich mit der Erzähler_in in Verbindung bringen konnten. Wir sahen vor allem die Zeichner_in. Die Lehrerin formulierte es so: "Also, die Form bestimmt immer den Inhalt: Es ist absolut ehrlich, was man hier sieht." Sie beschrieb beispielsweise, dass meine Aufzeichnung, in der ich die Erzählungen des Künstlers festgehalten hatte, expressive Elemente enthalte, die mit ihrer Art der Zeichnung übereinstimmten. Die Zeichnung des Künstlers, die vor allem durch feine schwarze Linien gekennzeichnet war, nahm sie in meiner Aufzeichnung ebenfalls wahr und schlussfolgerte daraus, dass meine Rolle der Prozessbegleitung auch formal in der Aufzeichnung sichtbar wurde, obwohl ich die Perspektive des Künstlers festgehalten hatte.
Die Aufzeichnungen regten uns dazu an, unsere jeweiligen Selbstverständnisse, die wir formuliert hatten, in Bezug auf unseren gemeinsamen Arbeitsprozess, unsere Rollen und andere Aspekte in den Blick zu rücken. Sie ermöglichten uns auch, verbindende Elemente wahrzunehmen, die in allen Zeichnungen hervortraten. In der jeweiligen Benennung der Verbindungselemente unterschieden wir uns allerdings; der Künstler sah "Wucherungen, Knoten, Geschwüre", die ich mit dem Begriff "Rhizom" ergänzte, und die Lehrerin sprach von "verschlungenen Linien". Anhand der Zeichnungen war es uns möglich, diese Begriffe als ähnlich zu identifizieren und ihre Bedeutungen zu verhandeln. Dadurch, dass der gesamte Prozess aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln abgebildet wurde, konnten wir Übersetzungslücken ausmachen und ihnen eine gemeinsame inhaltliche Bedeutung geben.
Während bereits die Erzählung eine Reflexion der eigenen Praxis ermöglichte, wurde in der gemeinsamen Betrachtung der Aufzeichnung eine weitere Ebene eröffnet. Ein In-Distanz-Treten zur eigenen Erzählung wurde unmittelbar für jede_n von uns möglich, da die eigene Praxis durch die Brille einer weiteren Person gefiltert wurde.
transformativität
"Was stört und ist trotzdem da?" Die Überschrift meines Artikels deutet an, dass in der Zusammenarbeit von Künstler_innen und Lehrer_innen Störmomente auftreten. Störungen in Arbeitsbeziehungen sind nicht weiter ungewöhnlich, jede Art von Beziehung weist Störungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten und auf verschiedenen Ebenen auf. Die Frage ist, wie wir damit umgehen? Das trotzdem fordert ein, dass die jeweiligen Störphänomene reflektiert und ein gemeinsamer Umgang damit gefunden wird. Es beschreibt aber auch, dass die Störmomente sich dadurch nicht notwendigerweise auflösen.
Ich möchte daher Mörschs Vorschlag, Metareflexivität als Arbeitsprinzip zu verstehen, für die Zusammenarbeit von Lehrer_innen und Künstler_innen aufgreifen, um diesen Störphänomenen zu begegnen. Widerspruch und Störung als Qualität und Selbstverständnis verstanden, ermöglichen es, Veränderung, (Gegen-)Beweglichkeit und Reflexion als konstitutive Momente der Zusammenarbeit zu nutzen. Das Spezifische dieser Qualitäten der Störung bezeichne ich als Transformativität und beschreibe damit die Veränderbarkeit und (Gegen-)Beweglichkeit von Haltung, Position, Ordnungen. Bezugnehmend auf den Begriff der Performativität, der den Zusammenhang zwischen Sprechen und Handeln fasst, ist Performativität hier im Sinne Judith Butlers zu lesen.12 Transformativität liegt ein postperformatives Verständnis zugrunde: Im Prozess der Reflexion mit einem Gegenüber – beispielsweise bezüglich eigener Zuschreibungen – werden Haltung, Ordnung und Position wandelbar, erleb- und erfahrbar. Transformativität bezeichnet demnach die Prozesse, die zur Metareflexivität beitragen und dem Arbeitsprinzip Metareflexivität einen sprachlichen Kontext hinzufügen.
Mörschs Verweis auf Metareflexivität als Arbeitsprinzip ist daher aus meiner Sicht eine Möglichkeit, Störphänomenen zu begegnen und sie anzuerkennen. In ihrem Textbeitrag geht es ihr vornehmlich um die Verhandlung der aktuellen Qualitätsdebatte im Bereich der kulturellen Bildung. Kriterien, die als Qualitätsmerkmale allgemein anerkannt werden, können, so ihr Hinweis, dazu beitragen, dass Unterdrückungsmechanismen und Machtverhältnisse unreflektiert reproduziert würden, je nach Perspektive derjenigen, die sie als Legitimationsinstrument einsetzen beziehungsweise anwenden.
Ich glaube, dass Wagnis, Scheitern, Originalität, Überraschung sowie Irritation als spezifische Qualitäten von kultureller Bildung unterstützend dazu beitragen können, Unterdrückungsmechanismen und Machtverhältnisse zu hinterfragen und sie nicht als gegeben anzunehmen – sondern zu bearbeiten. Dieser Anspruch hat sich in dem hier vorgestellten Projekt teilweise eingelöst: Die Akteur_innen haben sich beispielsweise eingelassen, Widersprüchen und Störmomenten zu begegnen, einen Umgang mit ihnen zu entwickeln und sie gleichzeitig als Teil der gemeinsamen Arbeit anzuerkennen. Damit künstlerische Strategien in diesem Sinne nachhaltig in schulischen Prozessen wirksam werden können, müsste Transformativität als Qualität kultureller Bildung eingesetzt werden.
1 Einige Begriffe, zum Teil auch Fragen, sind kursiv gesetzt. Ich schreibe ihnen eine besondere Bedeutung in Bezug auf meine Fragestellung zu und möchte damit auf Sinnzusammenhänge und Bedeutungsebenen in der Zusammenarbeit von Künstler_innen und Lehrer_innen hinweisen im Hinblick auf Metareflexivität als Arbeitsprinzip.
2 Mörsch, Carmen: "Glatt und Widerborstig: Begründungsstrategien für die Künste in der Bildung", in: Gaus-Hegener, Elisabeth; Schuh, Claudia (Hg.): Netzwerke weben – Strukturen bauen. Künste für Kinder und Jugendliche, Oberhausen 2009, S. 53f.
3 Vogel, Matthias: "Kern der Magie. Forderungen für künstlerische Projekte an Schulen" in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015.
4 Siehe dazu: Mörsch, Carmen: ",Störungen haben Vorrang." Metareflexivität als Arbeitsprinzip für die künstlerisch-edukative Arbeit in Schulen" in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015.
5 Ebd.
6 Ebd.
7 Siehe dazu den Beitrag von Roszak, Stefan; Ballath, Silke: "Ach Meiz, get i chmex, tua hfna del. Lautpoetische Stimmexperimente und ein Co-Mentoring zwischen Künstler, Kulturagentin und Lehrerinnen", in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015.
8 Siehe zur ausführlichen Beschreibung des Vorgängerprojektes: Ballath, Silke; Hummel, Claudia; Steinkrauss, Nils: "Wechselspiele – Verantwortungs- statt Methodenübernahme. Eine Reflexion zum künstlerischen Pädagog_innenworkshop ,Ich mach" mir die Welt, widdewidde, wie sie mir gefällt …"", in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015; sowie eine Reflexion dazu: Willenbacher, Sascha: "Künstlerische Lernkultur! Potenziale von Kooperationen für die Unterrichtsentwicklung" in: Kooperationsprozessor – Gemeinsam etwas bewegen. Onlinepublikation der Halbzeittagung des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2014.
9 Für inhaltliche Arbeitsmethoden und Ansätze siehe zur ausführlichen Beschreibung: Roszak, S.; Ballath, S., a. a. O.
10 "Graphic Recording heißt live grafisch aufnehmen bzw. festhalten (engl. to record = aufnehmen)." Vgl. Wikipedia, Bearbeitungsstand: 26. März 2015 de.wikipedia.org/wiki/Visual_Facilitation [11.05.2015].
Im Mai 2014 arbeiteten wir im Rahmen der Akademie des Programms Kulturagenten für kreative Schulen in einem Workshop mit Graphic Recordings. Die Idee, einen Gruppenprozess durch eine abgewandelte Form des Graphic Recordings einzusetzen entstand hier.
11 Zur Beschreibung und Reflexion der Methode siehe: Ballath, Silke: "[auf]zeichnungen der eigenen praxis [über]setzen. Vorschlag für eine [selbst]reflexive Zusammenarbeit zwischen Künstler_innen und Lehrer_innen", in: Eger, Nana; Klinge Antje: Im Dazwischen: Künstlerinnen und Künstler vermitteln, Bochum 2015.
12 Judith Butlers Ansatz besteht darin, dass Handlung reproduktiv ist, und Wiederholung in sich trägt. Ihre Grundthese dabei ist, dass keine Wiederholung identisch ist, sondern eine Veränderung oder Differenz zum Vorhergegangenen impliziert. In diesem Zwischenraum zwischen Wiederholung und Reproduktion entsteht eine Verschiebung.