Anja Edelmann
Rollentausch und Identitätsstiftung
Anja Edelmann

Rollentausch und Identitätsstiftung

Das Thomas-Mann-Gymnasium erobert die Museumsinsel

Einleitung

Eine persönliche Leidenschaft für "Das Museum" zu haben und es mit den Augen der Künstlerin als Möglichkeits- und Lernraum zu begreifen, ist die eine Sache. Seit ich ein Kind bin, ist das Museum für mich ein magischer Ort. Ein Ort, an dem besondere Dinge oder Kunstwerke inszeniert oder "aufgeladen" werden, damit sie zu Erzählern werden. Eine ganz andere Sache ist es, in der Rolle der Kulturagentin die eigene Leidenschaft für das Museum als Raum zum Lernen einem Praxistest auszusetzen und die eigenen Annahmen damit auf den Prüfstand zu stellen: mit drei Schulen aus dem Märkischen Viertel Berlin, knapp 3.000 Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften und einem großen staatlichen Museumsverbund. Wie wird ein Museum zu einem Lern- und Möglichkeitsraum für viele? Ist das überhaupt möglich? Was braucht es dazu?

Wäre es nicht großartig, wenn jede Schülerin und jeder Schüler die Möglichkeit bekäme, die Museen der Stadt kennenzulernen, um einen ganz persönlichen Zugang zur Welt der Museen, zu ihrem Wissen und ihrer besonderen Erzählkraft zu erschließen? Schon zu Beginn der gemeinsamen Programmarbeit, also vor knapp vier Jahren, hatten sich die ersten Kolleginnen und Kollegen an den drei Netzwerkschulen im Märkischen Viertel, die ich als Kulturagentin begleitet habe, für diese Vision begeistert und Feuer gefangen. Im Verlauf der vierjährigen Programmarbeit haben die drei Schulen ganz eigene Wege eingeschlagen, um diese gemeinsam entwickelte Vision in die Tat umzusetzen.

Anhand des Projekts "Das Thomas-Mann-Gymnasium erobert die Museumsinsel Berlin" möchte ich in Bezug auf Carmen Mörschs Text "Störungen haben Vorrang" über meine dabei gemachten Erfahrungen reflektieren und die unterschiedlichen Qualitätsansprüche und Verständnisse, die in Museumsprojekten an verschiedenen Stellen wirksam wurden, thematisieren. Hierbei ist meine eigene Perspektive und Involviertheit in das Vorhaben ein wichtiger Faktor. Als Impulsgeberin und durch das Kulturagentenprogramm berufene "Ermöglicherin", Helferin und Begleiterin eines solchen Vorhabens variierte meine Rolle sehr stark. Motor für das Projekt waren für mich meine eigenen Qualitätsansprüche. Das Projekt sollte sowohl künstlerische als auch wissenschaftliche Fragestellungen ermöglichen und zugleich über eine offene Fragestellung und einen Bezug zur Alltagswelt der Besucher eigene individuelle Zugänge ermöglichen. Es sollte damit Raum für eine reflexive Beschäftigung mit dem Museum bieten. Die verschiedenen Beteiligten sollten das Projekt zu ihrer Sache machen. Und nicht zuletzt sollte es auch ein positives und erfolgreiches Erlebnis für alle werden und die begonnene Kooperation zwischen Schule und Museum damit eine Investition in die Zukunft sein. Carmen Mörsch beschreibt in ihrem Text, dass unterschiedliche Qualitätsanliegen aufgrund ihres normativen Charakters mitunter Spannungen erzeugen können. In dem hier beschriebenen Praxisbeispiel ging es um die daraus mitunter entstehenden Widersprüchlichkeiten und um die Möglichkeiten und Grenzen der notwendigen Aushandlungsprozesse, um diese Spannungen fruchtbar zu machen.

"Das Thomas-Mann-Gymnasium erobert die Museumsinsel"

Bei dem Projekt "Das Thomas-Mann-Gymnasium erobert die Museumsinsel" sollte sich die gesamte Schule aus dem Märkischen Viertel mit ihren etwa 900 Schülerinnen und Schülern und fast 90 Lehrkräften mit Hilfe von neun Museums- bzw. Vermittlungsexperten das Weltkulturerbe Museumsinsel Berlin mit seinen fünf berühmten Museen erschließen. Dem eigentlichen Museumswandertag war ein Studientag für die Lehrkräfte vorgeschaltet, bei dem das gesamte Lehrerkollegium auf seine Aufgaben vorbereitet wurde. So sollten die Lehrkräfte die Museumsinsel selbst besser kennenlernen, sich schon mit den Vermittlungsinhalten befassen und organisatorische Fragen klären. Dabei sollten nicht zuletzt Ängste abgebaut und die neue Vermittlungsrolle geübt werden.

Am 22. April 2015, etwa einen Monat nach dem Studientag der Lehrkräfte, fand der eigentliche Museumswandertag statt. Die gesamte Schülerschaft versammelte sich morgens auf der Museumsinsel, um sich auf vorher festgelegte Gruppen aufzuteilen und unter acht Schwerpunktthemen in den fünf Museen rund 50 verschiedene, eintägige Workshopformate umzusetzen und damit auch 50 verschiedene Vermittlungszugänge zu erproben. Abgeschlossen wurde der Tag gemeinsam vor dem Alten Museum mit dem Flashmob einer Schülergruppe.

Am darauf folgenden Präsentationstag bereitete jede Workshopgruppe die Ergebnisse ihres jeweiligen Workshops auf, die in einer großen gemeinsamen Veranstaltung gezeigt und in einer abschließenden Rede des Schulleiters ausführlich als gemeinsame Leistung gewürdigt wurden. Als ein Ergebnis des Projekts ist eine umfangreiche Sammlung an handlungsorientierten und fächerübergreifenden Vermittlungszugängen in Form eines dicken Materialordners entstanden, der sowohl von der Schule als auch den Museen genutzt und weiterentwickelt werden kann.

Das nach 30 Jahren Gesamtschuldasein frisch gebackene Thomas-Mann- Gymnasium stand zu Programmbeginn 2011 mit dem Vorhaben, ein kulturelles Schulprofil zu entwickeln, noch ganz am Anfang. Bis auf wenige Ausnahmen gab es über die obligatorischen Museumsführungen hinaus so gut wie keine Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit dem Kulturpartner Museum. Dies lag nicht zuletzt daran, dass kaum Exkursions- oder Projekttage stattfanden, an denen es Raum für künstlerische beziehungsweise kulturelle Projekte gab. Um das Zustandekommen einer Kooperation mit den Staatlichen Museen zu Berlin dennoch zu ermöglichen, wurde ein Plan mit der Schulleitung verhandelt, der einen Studientag sowie zwei zusammenhängende Projekttage für die ganze Schule sicherstellen sollte. Das war für die Schule eine große Errungenschaft.

Analog zu Carmen Mörschs Ausführungen hinsichtlich der Perspektivgebundenheit in der Beurteilung von Qualitätskriterien beeinflussten auch in diesem Projekt unterschiedliche Qualitätsansprüche die Entwicklung des Projekts. Auch meine eigenen, bereits dargelegten Qualitätsansprüche spielten dabei eine Rolle. Da es bei Qualitätszuschreibungen jedoch auch immer um die Frage der Verteilung von Deutungsrecht geht, das, wie Carmen Mörsch konstatiert, nicht immer eine Aushandlungsfrage ist, sondern zu verschiedenen Momenten in unterschiedlichen Händen lag, wurde an vielen Stellen deutlich.

Das Lehrerkollegium hatte das große Anliegen, dass alle Fachbereiche, auch die Naturwissenschaften, dieses Kulturprojekt mitgestalten konnten. Für sie war der Hauptanreiz, mit dem Expertenteam der Staatlichen Museen zu Berlin fachspezifische Zugänge zu entwickeln. Hinsichtlich des Qualitätsanspruchs an das Projekt war der Aspekt einer lehrplanrelevanten Anbindung von Themenstellungen zentral und für viele Lehrkräfte die Bedingung, sich auf Mehrarbeit einzulassen. Für die Schulleitung sowie den "Runden Tisch Kultur" der Schule war die Stärkung der Schulgemeinschaft wesentlich.

Für das Museumsteam wiederum, also für die fest angestellte und für unser Projekt zuständige wissenschaftliche Mitarbeiterin aus dem Bereich "Bildung und Vermittlung" sowie für die acht freiberuflichen Kunstvermittlerinnen und -vermittler, war es wichtig, dass die Workshops der Institution und den verschiedenen Sammlungen, ihren Inhalten und Qualitäten gerecht wurden. Die für sie museums- beziehungsweise- sammlungsrelevanten Zusammenhänge sollten vermittelt werden, und das Projekt sollte damit dem wissenschaftlichen Anspruch der Staatlichen Museen standhalten.

Darüber hinaus legte die Leitung der Vermittlung der Staatlichen Museen zu Berlin großen Wert auf eine aktive Zusammenarbeit mit den Schülerinnen und Schülern. Für sie bot die Kooperation die Chance, die Museumsinsel aus der Perspektive der Schülerschaft zu evaluieren.

Für mich war ein wichtiges Ziel des Projekts, eine möglichst hohe Identifikation der Schülerinnen und Schüler mit dem Projekt und eine starke integrative Kraft so weit wie möglich auszuloten und damit nicht zuletzt eine für die Schulgemeinschaft identifikationsstiftende Wirkung aufzubauen. Kooperationsprojekte wie dieses bieten durch die Verlagerung des schulischen Lernkontextes in ein neues, unverbrauchtes Lernumfeld für Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit zu anderen Lernerfahrungen und zu neuen sozialen Impulsen. Für die Schulgemeinschaft waren die Aussicht, ein kulturelles Profil für die Schule zu entwickeln, und die Mitwirkung aller Beteiligten wesentlich. Hierzu sollten vor allem ein partizipativer und handlungsorientierter Vermittlungsansatz, die Bildung jahrgangsübergreifender Gruppen, ein sehr breites Spektrum an Angeboten sowie der gemeinsame Präsentationstag im Anschluss an den Museumswandertag beitragen. Jeder Schüler beziehungsweise jede Schülerin sollte den eigenen Neigungen folgend ein passendes Zugangsangebot heraussuchen. Vor allem auch diejenigen Schülerinnen und Schüler sollten integriert werden, die bisher noch wenig Bezug zu Kunst beziehungsweise zum Kulturangebot von Museen hatten. Dabei war es nicht nur mir ein besonders Anliegen, das das zu entwickelnde Vermittlungsmaterial für die Schülerinnen und Schüler von seiner Anlage her so aufgebaut sein sollte, dass es Freiraum bietet, auch eigene Fragestellungen zu entwickeln und zu verfolgen.

Nicht nur mussten die unterschiedlichen Qualitätsansätze in dem Projekt miteinander verhandelt werden, sondern auch der partizipative Ansatz des Projekts war auf unterschiedlichen Ebenen angelegt. Dies führte mitunter dazu, dass die Anliegen verschiedener Partiziptionsansätze miteinander in Konkurrenz traten. So waren zwar Schülerinnen und Schüler von Beginn an in die Konzeption des Museumswandertags einbezogen – beispielweise wurde im Rahmen einer langfristigen Kooperation von der Schule mit den Staatlichen Museen zu Berlin ein Zusatzkurs "Museum" für die Oberstufe ins Leben gerufen, und auch die Geschichtskurse der Oberstufe besuchten mehrfach die Museumsinsel unter eigenen Fragestellungen im Vorfeld des Museumswandertages. Unter anderem ist daraus ein Peer-to-peer-Workshopangebot für die siebte Jahrgangsstufe hervorgegangen – schlussendlich hat sich das ursprünglich deutlich umfangreicher angelegte Peer-to-peer-Workshopangebot beim Museumswandertag dann aber wieder reduziert, da es mit dem beschriebenen Einwahlverfahren, das eine interessengeleitete Auswahl der Angebote vorsah, kollidierte. Die jüngeren Schüler und Schülerinnen wiederum wollten sich teilweise nicht bei ihrer Auswahl auf das Peer-to-peer-Angebot, das nur einige Themen vorsah, beschränken lassen.

Die anvisierten Qualitätsprämissen hinsichtlich der Partizipationsgrade im Projekt konnten auch aus anderen Gründen nicht immer eingelöst werden. So waren die Schülerinnen und Schüler in die Entwicklung der Workshopmaterialien zwar eingebunden, aber um ihre Vorstellungen und Ideen innerhalb der komplexen Organisations- und Abstimmungsprozesse des Großvorhabens einfließen zu lassen, wäre eine viel größere Unterstützung notwendig gewesen. Es hätte auch starker Ermächtigungsgesten zur Mitbestimmung bedurft, die unter dem Druck des Schulalltags, aber auch unter dem Realisierungsdruck des Projekts selbst an vielen Stellen zu kurz kamen. Darüber hinaus traten bei der Entwicklung des Projekts nicht nur die unterschiedlichen Qualitätsvorannahmen und Ansprüche miteinander in Verhandlung, sondern auch die Deutungshoheiten. Dies zeigte sich insbesondere auf der Ebene der Aufgabenformulierung. Hier waren die Ansprüche der Museen leitend. In der Umsetzung kamen jedoch durch die Lehrenden wiederum deren Qualitätsverständnisse zum Tragen. Ihre Interpretationen der Aufgabenstellung und auch ihre methodischen Erfahrungen prägten das Geschehen vor Ort. In einigen Fällen führten diese Aneignungsprozesse auch dazu, dass beispielsweise manche Lehrkräfte das gemeinsam mit dem Museum entwickelte Material während der Anwendung erneut umarbeiteten. Bezogen auf die Frage von Deutungsmacht wird klar, dass bei einem Projekt dieser Größenordnung, das auf die Erschließung eigener Zugänge im Museum setzt, die Deutungshoheit zeitlich wechselt. Waren es anfangs die Museen, dann die Lehrpersonen, oblag es am Ende den Schülerinnen und Schülern, in welcher Weise sie auf die Angebote eingingen.

Rollentausch als Herausforderung und Lernpotenzial

Unter dem Druck von Lehrplänen und Notenzwängen werden Schülerinnen und Schüler streckenweise zu reinen Rezipienten, die "bespielt" werden, ohne dass sie Einfluss auf die Inhalte oder den Ablauf des Unterrichts hätten. Bei der Konzeption des Projekts sollten die Schülerinnen und Schüler von Anfang an eine tragende Säule darstellen und eine aktive Rolle bei der Gestaltung des Kulturwandertags spielen. Wesentlich war auch, dass bei der Durchführung des Wandertags jede Schülerin und jeder Schüler die Aufgabe zu bewältigen hatte, selbstgesteuert und eigenverantwortlich zu agieren und dies in neuen Gruppen und anderen Rollen als denen, die im Klassenkontext eingeübt waren. Dies hatte zur Folge, dass Schülerinnen und Schüler in einzelnen Gruppen einerseits spontan die Führungsrolle übernahmen oder dass einzelne aus der Oberstufe sogar selbstständig ganze Workshops leiteten. Andererseits waren die organisatorischen Unklarheiten und Störmomente, die bei der Umsetzung eines solchen kulturellen Bildungsexperiments manchmal auftauchen, für einen Teil der Schülerschaft nur schwer auszuhalten. Der komplett durchfunktionalisierte, reibungslos ablaufende, konditionierte Schulalltag mit seinen absolut berechenbaren Abläufen scheint zu einer Konsumhaltung bei Schülerinnen und Schüler beizutragen. Sichtbar wurde das vor allem auch in den Auswertungsbögen, in denen mit größter Selbstverständlichkeit neben der Begeisterung für das selbstgesteuerte Vorgehen und die jahrgangsübergreifenden Gruppen auch auf die wahrgenommenen organisatorischen Unstimmigkeiten hingewiesen wurde.

Insbesondere für die Lehrkräfte bedeutete das Projekt große Herausforderung und zugleich Chance. Gerade weil Ort und Inhalte des Geschehens für sie ein weitgehend unbekanntes Feld darstellten, konnten sie sich auch nicht auf die mit Unterricht verbundene Autorität innerhalb des eingespielten schulischen Lernkontextes und innerhalb der Klassenverbünde stützen. Ihren Wissensvorsprung als Teil der Autorität aufzugeben, auf Wissensfragen der Schülerschaft keine Antwort zu haben und damit eigene Wissenslücken einzugestehen, war für viele eine wenig verlockende Vorstellung. Eben jenes Nicht-Wissen verbunden mit der Offenheit der Gruppendynamik und der Unkenntnis des Ortes ermöglichte andererseits gerade auch den Lehrkräften, aus ihrem eingeübten Rollenrepertoire zu treten und sich stärker als Lernbegleiter und Coaches zu begreifen und selbst einen lernenden Modus zu finden. Im Laufe der Vorbereitungen des Projekts haben sich immer mehr Lehrkräfte dem innovativen Vermittlungsansatz des Projekts Museumswandertag angeschlossen. Nicht zuletzt aufgrund des sorgfältig ausgearbeiteten Studientags im Vorfeld ließen sich am Museumswandertag selbst schließlich fast sämtliche Lehrkräfte mit großem Mut und Engagement auf das Experiment des Rollentauschs ein. Belohnt wurden sie dabei mit neuen Lernerfahrungen, mit neuen Aspekten ihrer Beziehungen zu Schülerinnen und Schülern und nicht zuletzt mit einem markanten Erfahrungszugewinn als Pädagogen.

Auch die Museumsvermittlerinnen und -vermittler stellte das Projekt vor ungewöhnliche Herausforderungen. Es verlangte von ihnen, ihren wissenschaftlichen Anspruch an manchen Stellen zu relativieren, und vor allem, ihre bislang uneingeschränkte Angebots- und damit auch Deutungshoheit und die daraus erwachsene Autorität aufzugeben und Be-Deutung mit den Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften neu auszuhandeln. Dem konnten die Vermittlerinnen und Vermittler nur mit einer hohen Bereitschaft zum Dialog und zu Kompromissen begegnen. Belohnt wurden sie mit Einblicken, wie die jugendlichen Besucherinnen und Besucher die Museen und das entwickelte Angebot an selbst erklärenden Vermittlungsmaterialen wahrnehmen, und mit einem Zugewinn an wertvollen Informationen über die Zielgruppe Schüler. Das unverstellte Feedback der "Eroberer" führte bei den Vermittlerinnen und Vermittlern dazu, die gewohnten eigenen Vermittlungsansätze konstruktiv zu hinterfragen. Dass sie auch ihr eigenes "Vermittlerkapital", ihre Herangehensweisen und Methoden untereinander und mit den Lehrkräften zu Diskussion stellten, bedeutete ein Risiko und einen Kontrollverlust über die Umsetzung und Anwendung ihres individuellen Vermittlerwissens.

Dadurch, dass am Museumsinseltag die personelle Vermittlung quasi weggefallen ist, wurden sowohl für die Vermittlerinnen und Vermittler als auch für die Lehrerinnen und Lehrer Ressourcen frei, um eigenen forschenden Fragestellungen nachzugehen und selbst zu Lernenden zu werden.

Ein Format der Beteiligung, das von mir als Kulturagentin in den Prozess getragen wurde, um die Anliegen von Schülerinnen und Schülern sichtbar zu machen, war ein Flashmob. Er sollte als Barometer für eine Fragestellung, die von der Schülerschaft entwickelt wurde, genutzt werden. Die Fragen, die ich den Schülerinnen und Schülern stellte, lauteten: Was ist euer Motiv, an dem Wandertag teilzunehmen? Identifiziert ihr euch mit diesem Projekt oder werdet ihr instrumentalisiert für kulturelle Bildung? Auch hier zeigte sich schnell, dass die Anliegen an ein solches Format sehr unterschiedlich waren. Während für mich der Flashmob eine Möglichkeit darstellte, das Projekt mit Energie aufzuladen, eine Geste der Dynamik zu erzeugen, eine Brücke für Beteiligung zu schaffen und als sprachliches Mittel zur Sichtbarkeit von Schülerinnen und Schülern beizutragen, waren diese nur schwer zu motivieren. Auch die Lehrkräfte und Museen hatten schnell eigene Vorstellungen darüber, was der Flashmob aussagen sollte. Zum tatsächlichen Abschluss des Inseltages hatte sich dann doch, gegen die Erwartungen, ein großer Teil der Schülerschaft in einer Art Flashmob im Lustgarten vor dem Alten Museum um ihr großes Eroberungstransparent "Das Thomas-Mann-Gymnasium erobert die Museumsinsel" versammelt. Auf ein Zeichen hielten alle ein Statement zum Tag auf gelben Papierbögen hoch und jubelten dabei ihrem Schulleiter und dem Organisationsteam mit großem Stolz zu. Dieses Beispiel verdeutlicht wiederum, dass Vorstellungen über Partizipation, wie sie Carmen Mörsch in ihrem Text beschreibt, sehr unterschiedlich sind. Eine Aushandlung darüber, welche Anliegen hier ins Spiel gebracht werden, erfolgte nicht, wäre aber notwendig gewesen, um das Projekt weiterzuentwickeln. Auch der Umstand, dass Beteiligung als Qualitätskriterium von vornherein positiv besetzt war, wurde nicht hinterfragt, sondern Beteiligung wurde als normatives Element des Projekts von allen Akteuren mitgetragen.

Die Tatsache, dass sämtliche Beteiligte ihre eingeübten Rollen aufgaben und sich damit aus der eigenen Komfortzone herausbewegen mussten, führte letztlich zu einer angenehmen und offenen Aufbruchstimmung, bei der unter wechselseitiger Wertschätzung auf Augenhöhe gemeinsam Neuland betreten wurde. Die inhaltliche Auseinandersetzung, wie sie von mir anfangs imaginiert wurde, konnte sich allerdings nicht immer durchsetzen. Hier wäre es sicherlich lohnenswert, über die Frage der Beteiligungsgrade und ihrer Möglichkeiten, aber auch ihrer Grenzen, intensiver nachzudenken.

Mut zu neuen Lernformen

Der Museumswandertag des Thomas-Mann-Gymnasiums ging in vielen Aspekten über alltägliche Vermittlungsarbeit hinaus. Das breit angelegte Format erlaubte in seiner Themenvielfalt, nicht nur Kunst und Geschichte in dem Projekt abzubilden, sondern auch Fächer wie Geografie, Chemie und Physik und damit praktisch das ganze Unterrichtsspektrum der Schule.

Dass die gesamte Schule gleichzeitig unterwegs war, ermöglichte es allen Schülerinnen und Schülern eine zu ihnen passende Aufgabe auszuwählen, und begünstigte gleichzeitig die vorübergehende Auflösung der Klassenverbände und die Bildung von jahrgangsübergreifenden Gruppen. Die Aufgabe der eingefahrenen Sozialstrukturen gab Raum für neue persönliche Begegnungen und Rollenerfahrungen zwischen den Schülern.

In Hinblick auf meine Fragestellungen als Kulturagentin habe ich bei diesem Projekt viel gelernt. Damit die vielen unterschiedlichen Bemühungen und der persönliche Mut und Einsatz der Einzelnen zu fruchtbaren Ergebnissen führen, benötigen solche Bildungsexperimente beziehungsweise Pilotprojekte dringend eine Erprobungs- und Verstetigungsphase, um die gemachten Erfahrungen aufnehmen und weiterentwickeln zu können.

Viele Schülerinnen und Schüler haben das Potenzial einer Mitgestaltung solch eines Projekts erkannt und wären jetzt, nach dem ersten Durchlauf und mit den damit verbundenen Erfahrungen nun sehr viel besser in der Lage, sich stärker und noch wirksamer einzubringen, ihre Interessen zu vertreten und den Prozess damit maßgeblich mitzugestalten. Das Projekt hat gezeigt, dass alle, insbesondere die Schülerinnen und Schüler erst die experimentelle Erfahrungsgrundlage benötigen. Dafür braucht es mutige Vorstöße in Unbekanntes, die Bereitschaft, Fehler zu machen und bei "Autoritäten Komplikationen zu verursachen". Erst auf der Erfahrungsgrundlage Museumswandertag 2015 ist diese Schulgemeinschaft in die Lage versetzt worden, sich eine eigene Meinung zur Institution Museum zu bilden, um sich an einem Diskurs über ein Museum als Lernraum zu beteiligen und Fragen wie beispielsweise "Was wollen wir von der Museumsinsel Berlin?" diskutieren zu können.

Ich hoffe und wünsche mir, dass es in Zukunft viele solcher Experimente von engagierten Schulen in unseren "heiligen Hochkulturtempeln" gibt, damit diese vor allem auch für jüngere Zielgruppen nicht nur zu Orten des Wissens, sondern zu lebendigen Lernorten werden. Dass dies grundsätzlich möglich ist und über eine ernstgemeinte Auseinandersetzung vor allem auch der kuratorischen Abteilungen mit aktuellen, nicht nur für wenige, sondern für viele relevante Fragestellungen gelingen kann, hat das Projekt in ersten Ansätzen gezeigt.