Lena-Marie Freund
Wie der Wind der Freiheit
Lena-Marie Freund

Wie der Wind der Freiheit

Ein Gespräch mit Ulrike Becker, Kulturbeauftragte der Heinrich-Heine-Gesamtschule in Aachen, über die Rolle und Aufgaben als Kulturbeauftragte in Nordrhein-Westfalen und die Zusammenarbeit mit den Kulturagenten

Ort

Aachen

Anzahl Schülerinnen und Schüler

1100

Anzahl Lehrkräfte

100

Homepage

www.hhg-aachen.de

Lena Marie Freund: Sind Sie von der Schulleitung zum Kulturbeauftragten berufen worden oder haben Sie sich freiwillig gemeldet?

Ulrike Becker: Ich hatte in der Schule bereits eine Funktionsstelle für Kulturarbeit, und als die Verlautbarung vom Kulturagentenprogramm kam, hat die Schulleitung mich gefragt, ob ich das Amt der Kulturbeauftragten übernehmen will.

Wie ist Ihre Tätigkeit in der Schulstruktur verankert?

Wir haben einen Kulturausschuss, eine sogenannte Steuergruppe "Kultur", wie sie auch das Kulturagentenprogramm nennt, die regelmäßig stattfindet, und ich bin Ansprechpartnerin für kulturelle Fragen. Unsere Schule hat seit einigen Jahren Kulturklassen. Das ist eine Struktur, an die das Kulturagentenprogramm sehr gut andocken konnte, weil wir bereits kontinuierlich mit Kooperationspartnern zusammengearbeitet haben.

Wie sind Sie zu Beginn des Programms an Ihre neue Rolle herangegangen?

Zu Beginn war ich euphorisch! Das Programm war sehr reizvoll, weil ich das Gefühl hatte, dass die Zusammenarbeit zwischen Kulturinstitution, Künstlerinnen und Künstlern und Schule so ernst genommen wird, dass auch die Schule gefragt wird: Was benötigt ihr? Das kannte ich von Programmen so bisher nicht.

Welche Aufgaben haben Sie als Kulturbeauftragte?

Es geht darum, inhaltlich im Sinne des Schulprofils zu arbeiten. Das ist meines Erachtens die eigentliche Aufgabe. Pragmatisch heißt das, die zweimal im Jahr stattfindenden Kulturprojekttage zu organisieren, an denen die ganze Schule teilnimmt. Das zu organisieren ist viel Arbeit: Es bedeutet, gemeinsam mit der Kulturagentin Kooperationen herzustellen zwischen den Lehrkräften, Schülergruppen, den Kulturinstitutionen und den Künstlerinnen und Künstlern.

Haben sich diese Aufgaben im Laufe des Kulturagentenprogramms verändert?

Ja, der Aufbau von Partnerschaften und die Kommunikation unter ihnen hat viel Zeit in Anspruch genommen. Danach hat sich der Schwerpunkt auf die Schulprogrammarbeit verlagert.

Welche Fähigkeiten und Kompetenzen haben Ihnen geholfen, das Amt auszufüllen?

Die Grundlage ist meine Begeisterung für Kultur und die Überzeugung, dass sie für Schülerinnen und Schüler im Schullalltag und für ihr ganzes Leben wichtig ist. Ohne beides hätte ich viele Phasen dieser Tätigkeit nicht so gut meistern können. Auch Kommunikationsfähigkeit, das heißt, dass ich gut mit Kolleginnen und Kollegen sowie Kooperationspartnern in Kontakt treten und vermitteln kann, ist wesentlich.

Wie gestaltet sich Ihre Zusammenarbeit mit der Kulturagentin?

Wir treffen uns regelmäßig sowohl zu zweit, nur Kulturagentin und Kulturbeauftragte, als auch gemeinsam mit unserer didaktischen Leitung und mit den Teilnehmenden der Steuergruppe "Kultur". Und es gibt Treffen im Schulnetzwerk. Die Kommunikation und der Austausch in diesen Zusammenhängen sind das Wesentliche. Wir behandeln viele inhaltliche Fragen und tauschen uns über das große Spektrum der Kulturpartner aus, das die Kulturagenten einbringen.

Welche Impulse haben Sie aus dieser Zusammenarbeit erhalten?

Im Rückblick erscheint mir der wichtigste Impuls, über den Tellerrand der Schule zu gucken. Die Schulstruktur ist sehr eng. Durch das Kulturagentenprogramm hat sich der Blick geweitet: als wäre plötzlich ein Wind der Freiheit durch die Schule geweht, der vieles von dem ermöglicht hat, das man sich vor dem Programm nicht getraut hätte.

Welche Rahmenbedingungen – zeitliche, organisatorische, aber auch persönliche – sind aus Ihrer Sicht wichtig, um die Aufgabe einer Kulturbeauftragten zu erfüllen?

Ich glaube, dass vor allem die Offenheit des Kollegiums vorhanden sein sollte. Natürlich wird man nie alle überzeugen können. Aber wenn es eine stabile Gruppe gibt, die das Programm mitträgt und neugierig ist, ist eine wichtige Bedingung erfüllt. Und natürlich sollte auch die Schulleitung offen sein und Spielräume ermöglichen, sonst geht gar nichts. Meine Arbeit wurde besonders durch unseren didaktischen Leiter unterstützt, der eine große Begeisterung und Offenheit für Kultur hat und die er sehr stark eingebracht hat. Erleichternd ist auch, dass wir ein tolles Kollegium im Kunstbereich haben, das sich sehr gerne an experimentellen Prozessen beteiligt.

Wie sieht die Zusammenarbeit mit Ihrem Kollegium aus?

Also Überzeugungsarbeit war in erster Linie beim Aufbau der Steuergruppe notwendig, die sich langsam in das Thema kulturelle Bildung eingearbeitet hat und wahrgenommen hat, dass man sie nicht nur auf künstlerische Fächer beziehen muss. Als Steuergruppe haben wir immer wieder in den Lehrerkonferenzen Ideen vorgestellt, wie man beispielsweise Kulturprojekttage gestalten kann. Zu einer Veranstaltung für das ganze Kollegium hatten wir die Kulturpartner der Stadt Aachen eingeladen. Auf diese Weise konnten sich die Kolleginnen und Kollegen bei den Kulturinstitutionen erkundigen, wie und wo sie ihre Fächer andocken können. Das war ein sehr wichtiger Prozess, der gezeigt hat, dass man nicht nur im Fach "Kunst" etwas Künstlerisches machen kann.

Sie haben nun schon öfter die Steuergruppe "Kultur" als wichtiges Gremium benannt. Wie setzt sie sich an Ihrer Schule zusammen?

Sie besteht hauptsächlich aus Lehrerinnen und Lehrern aller Fachdisziplinen, einigen Schulleitungsmitgliedern sowie einer Sozialpädagogin und wechselnden interessierten Schülerinnen und Schülern, teilweise aus der Schülervertretung. Gerne hätte ich allerdings die Schülerschaft noch stärker vertreten. Neuerdings haben wir Schülerinnen und Schüler als Kulturbotschafter. Und auch einige Mütter begleiten die Arbeit in der Steuergruppe schon lange.

An welchen Fortbildungen haben Sie im Rahmen des Kulturagentenprogramms teilgenommen und welche waren für Sie besonders hilfreich?

Es gab einige Vorträge – darunter beispielsweise einer von Max Fuchs –, die mir für den theoretischen Background meiner Tätigkeit sehr weitergeholfen haben. Zudem gab es Workshops, in denen wir selbst mit künstlerischen Methoden gearbeitet und erfahren haben, wie man Dinge auch anders bearbeiten kann. Es war sehr wichtig, dass nicht nur theoretische, sondern auch praktische Fortbildungsangebote gemacht wurden.

Wenn Sie selbst andere Lehrkräfte als Kulturbeauftragte weiterbilden sollten, in welchen Feldern sehen Sie am meisten Bedarf?

Es sollten Angebote gemacht werden, in denen Lehrerinnen und Lehrer ihre kreativen Potenziale selbst erfahren und entfalten können. Bei Lehrkräften ist das tatsächlich schwierig, weil sie sich ungern selbst auf die unwägbaren Prozesse einlassen. Aber wenn es gelingt, ist das eine gute Basis, um daran weiterzuarbeiten. Eine andere entscheidende Sache war bei uns, dass Kontakte zu Kooperationspartnern hergestellt wurden. Denn nun verbinden Kolleginnen und Kollegen eine bestimmte Person oder ein bestimmtes Erlebnis mit Kultureinrichtungen, und das ist sehr wichtig.

Was hat sich an Ihrer Schule durch Ihre Arbeit als Kulturbeauftragte und die Arbeit der Kulturagentin verändert?

Insgesamt kann man feststellen, dass Kultur einen größeren Stellenwert erhalten hat. Sie wird ernster genommen und es wird geschätzt, dass es uns – mich, die Kulturbeauftragte, und die Kulturagentin Monika Nordhausen – als Ansprechpartnerinnen gibt. Das merkt man daran, dass die Kulturprojekttage nicht infrage stehen, sondern in der Schule fest verankert sind. Bei vielen Kolleginnen und Kollegen merke ich, dass sie Spaß daran gewonnen haben und gerne Kulturprojekte machen. Ein Drittel des Kollegiums ist sicher schon dabei!

Haben sich Ihre Unterrichtsinhalte in Hinblick auf die Verankerung kultureller Bildung in der Schule verändert?

Ich selbst und auch andere Kolleginnen und Kollegen haben im Unterricht schon vorher viele Kooperationen mit außerschulischen Partnern gehabt. Schule hat aber leider oftmals enge Vorgaben, bestimmte Inhalte werden abgefragt oder müssen abfragbar sein – auch im Kunstbereich. Das ist für mich ein Dilemma. Im Rahmen der Kulturprojekttage aber hat eine Öffnung der Schule nach außen stattgefunden: Sie holt mehr Leute von außen rein, und auch die Schülerschaft geht mehr nach außen.

Was hat sich in Ihrer Arbeit durch die Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern und Kultureinrichtungen verändert?

Ich stelle fest, dass die Zufriedenheit, mit Künstlerinnen und Künstlern, mit oder in Kulturinstitutionen zu arbeiten, viel größer geworden ist. Dadurch, dass Künstlerinnen und Künstler an die Schule geholt werden oder man selbst in andere Bereiche geht, kann man Dinge anders sehen, eine andere Perspektive einnehmen. Auch für Schülerinnen und Schüler eröffnet sich ein anderer Blick auf Inhalte und Themen. Es ermöglicht ihnen, vielleicht zu sehen, dass die Arbeit in den künstlerischen Projekten nicht nur Lernstoff ist, den man abarbeiten muss, sondern dass es etwas mit ihnen zu tun hat.

Wenn Sie an eine neue Schule kommen würden, um ein künstlerisches kulturelles Schulprofil mitzuentwickeln, was würden Sie nach den Erfahrungen aus dem Programm als Erstes tun?

Ich würde mich zunächst kundig machen, welches Kulturprofil an der Schule bereits vorhanden ist. Dann würde ich Kontakt mit der Schulleitung aufnehmen, vor allem mit der didaktischen Leitung, um zu überlegen, wie man die Kulturarbeit in der Schule verankern könnte. Dann würde ich im Kollegium Mitstreiterinnen und Mitstreiter suchen, um ein Team zu bilden und Strukturen so zu verändern, dass eine Öffnung für kulturelle Prozesse möglich wird.

Sie haben eingangs erwähnt, dass in ihrer Steuergruppe Kolleginnen und Kollegen unterschiedlicher Fachrichtungen teilnehmen. Hat sich Ihr Blick als Kunstlehrerin auf die anderen nichtmusischen Fächer/Fachrichtungen dadurch verändert? Gehen Sie nun mit den Erfahrungen aus dem Programm anders auf die Kolleginnen und Kollegen anderer Fachrichtungen zu?

Ja, das würde ich schon aus taktischen Gründen so machen, weil man die Kolleginnen und Kollegen unbedingt ins Boot holen muss. Wen man allerdings auch ins Boot holen muss, sind vor allem die Schülerinnen und Schüler. Man sollte sie in die Prozesse einbeziehen. Man sollte eruieren, welche kulturellen Bedürfnisse sie haben. An meiner Schule spielen die vielen verschiedenen kulturellen Wurzeln der Schülerinnen und Schüler eine große Rolle. Vieles ist aber nicht unmittelbar sichtbar. Es gilt, diesen Schatz zu heben und einzubauen. Das ist ein langer Weg, bei dem sich regelmäßig die Frage stellt, wie man das macht.

Kulturelle Bildung und Partizipation der Schülerinnen und Schüler in allen Projektschritten ist sicherlich ein Weg. Ihre Schüler sind in der Steuergruppe als Kulturbotschafter aktiv. Welche Rolle haben sie und wie erfüllen sie ihre Aufgaben?

Unsere Kulturbotschafter sind Schülerinnen und Schüler mit sehr unterschiedlichen kulturellen Wurzeln, das ist ein Antrieb sowohl für sie als auch für die Schule. Sie wollen das Kulturagentenprogramm und die Kulturarbeit unbedingt generell bekannter machen, damit alle Schülerinnen und Schüler etwas mit den Kulturprojekttagen anfangen können und wissen, was das Besondere daran ist.

Wie sieht Ihre Wunschschule im Hinblick auf die Verankerung kultureller Bildung aus?

Mein vorrangigster Wunsch ist, dass die Schulstruktur und der Schulalltag mehr Spielräume zulassen: zeitliche und räumliche Spielräume, in denen etwas stattfinden kann. Den Schulalltag erlebe ich, obwohl wir ein 60-Minuten-Modell haben, als sehr hektisch. Praktisch kann nur ein Thema nach dem anderen abgehakt werden. Es braucht Spielräume, um zur Ruhe zu kommen, um wirklich auch mit anderen Methoden arbeiten zu können. Schülerinnen und Schüler sollten die Möglichkeit erhalten, in Kulturinstitutionen zu gehen und Lernen als selbstgesteuerten Prozess zu erleben: Sie sollten ihre Fähigkeiten zeigen und ausleben dürfen, anstatt wie Lernstoffkonsumenten dazusitzen.

Nach vier Jahren Programmlaufzeit, wie beurteilen Sie den Gewinn für Ihre Schule?

Ein großer Gewinn ist vor allem die Verankerung der regelmäßigen Kulturprojekttage, weil sich bestimmte positive Routinen aufgebaut haben. Es gibt stabile Kooperationspartner, die gerne in die Schule kommen und mit denen hier gerne zusammengearbeitet wird. Das ist schon sichtbar, und wir sind nun an einem Punkt, an dem wir es noch deutlicher nach außen sichtbar machen müssen.

Wie macht es sich bemerkbar, dass die Aktivitäten nach außen dringen?

Vor allem durch Elternrückmeldungen und durch die Presse, wobei diese dankenswerterweise auf alle kulturellen Aktionen reagiert, ob sie mit dem Kulturagentenprogramm verbunden sind oder nicht.

Wie sieht die interne Kommunikation aus? Welche Wege haben Sie genutzt, um Ihre Aufgaben auch bei den Kolleginnen und Kollegen und der Schülerschaft, aber auch den Eltern und in der Schulöffentlichkeit präsent zu machen?

Es gibt hier verschiedene Ebenen, beispielsweise Schulkonferenzen, an denen auch Eltern beteiligt sind; hier wurde das Programm natürlich thematisiert und vorgestellt. Auch die Lehrerkonferenz war ein wichtiges Element. Dann gibt es Teamkonferenzen, die noch wichtiger sind, weil im kleineren Kreis über Dinge debattiert werden kann. Außerdem haben wir eine große Kulturwand im Lehrerzimmer, über die Informationen weitergegeben werden. Wir haben einen schulinternen Jahresbericht für Eltern, Schülerinnen und Schüler sowie Kolleginnen und Kollegen, der über alles berichtet, allerdings in repräsentativer Form. Und natürlich ist der persönliche Kontakt mit entsprechenden Leuten besonders wichtig.

Wie könnte kulturelle Bildung – idealerweise – noch stärker sichtbar gemacht und verankert werden?

Man sollte noch mehr tun, um die Schülerschaft und auch die Eltern in diese Prozesse miteinzubinden. Es braucht kulturelle Veranstaltungen, durch die sich eine Schulgemeinschaft finden und in einen Diskurs kommen kann. Das ist, was an unserer Schule konkret ansteht. Die Kulturklassen und die Kulturprojekttage sind schon eine ganz gute Struktur. Wir sind im Moment im Prozess darüber nachzudenken, aus der Schule eine Dalton-Schule zu machen, in der die Schülerinnen und Schüler möglichst selbstständig Lerninhalte erarbeiten. Als Kulturbeauftragte bin ich am Rande damit befasst. Das ist auch eine Chance für die Verankerung von kulturellen Tätigkeiten. Bei unseren Überlegungen und Kontakten zum Zentrum für Ästhetik und Kommunikation der Katholischen Hochschule NRW wurde die Einrichtung eines Werkstattprinzips im Rahmen der Dalton-Stunden diskutiert: Schülerinnen und Schüler sollen die Werkstatt nutzen können.

Wenn Sie auf Ihre Aufgaben als Kulturbeauftragte zurückblicken, wo haben sich strukturelle und organisatorische Grenzen bemerkbar gemacht?

Zu meinen Aufgaben ist eine ganze Menge dazugekommen. Das, was ich früher punktuell gemacht habe, musste nun regelmäßig gemacht und für andere mitgedacht werden. Ich habe sehr viel Zeit investiert, was nur zu leisten war, weil ich eine Teilzeitstelle habe. Bei einer vollen Stelle weiß ich nicht, ob ich das in diesem Umfang überhaupt hätte leisten können. Das sollte bei den Kulturbeauftragten unbedingt berücksichtigt werden, weil für die Kommunikation mit den verschiedenen Bereichen und zwischen den Beteiligten der Schule und den außerschulischen Partnern sehr viel Zeit nötigt ist. Sie muss auch intensiv sein, damit alles funktionieren kann.

Wenn Sie abschließend ein Resümee ziehen, hat sich die Zeit als Kulturbeauftragte für Sie gelohnt?

Auf jeden Fall! Ich habe viele neue Dinge, interessante Kulturpartner und Kunstschaffende kennengelernt – sehr spannend und sehr bereichernd! Außerdem habe ich sehr viel über interne Strukturen in der Schule und in anderen Bereichen gelernt.

Vielen Dank für das Gespräch.