Kristin Haug
Berlin: Die Evolution von Wut
Kristin Haug

Berlin: Die Evolution von Wut

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Am Berliner Maxim Gorki Theater lernen die Schülerinnen und Schüler der Carl-Friedrich-von-Siemens-Oberschule, wie Gewalt entsteht und wie sie auf der Bühne dargestellt wird. Die Spielstätte öffnet ihre Türen, um den Jugendlichen zu zeigen, dass Theater mehr ist als nur Schauspiel. Das Schicksal kommt aus dem Hinterhalt. Die Tragödie sieht man nicht kommen. Doch unaufhaltsam nähert sie sich. Man kann nichts dagegen tun. Die Mutter wird sterben. Die beste Freundin zieht weg. Der Freund geht fremd. Zeit für die 17 Jahre alte Stephanie, um auszurasten. Zumindest in "Morning", einem Stück des britischen Autors Simon Stephens. Das von Sebastian Nübling inszenierte Schauspiel wird an diesem Tag im November im Maxim Gorki Theater als Gastspiel vom "jungen theater basel" in Berlin gezeigt. Seitdem Shermin Langhoff und Jens Hillje die künstlerische Leitung des Gorkis übernommen haben, arbeitet sie eng mit dem Theater aus Basel zusammen. 

Um herauszufinden, was Wut ist und wie sie ausgelöst wird, ist die Klasse 10 der Carl-Friedrich-von-Siemens-Oberschule ins Maxim Gorki Theater gekommen. Zur Spielzeit 2013/14 hat Shermin Langhoff die Intendanz des renommierten Hauses in Berlin übernommen. Die Intendantin hat den Begriff postmigrantisches Theater erfunden. Im Kreuzberger Theater Ballhaus Naunynstraße hat sie früher viel mit Jugendlichen gearbeitet. Das gehörte zu ihrem Konzept. Und das will sie auch am Gorki fortsetzen. "Shermin Langhoff bestärkt uns in der kulturellen Bildung und setzt sich für Schulkooperationen ein", sagt Janka Panskus, die am Gorki als Theaterpädagogin arbeitet. "Wir fangen erst einmal mit kleinen Theaterprojekten wie Workshops oder Werkstattbesuchen an, lernen die Schulen kennen und wenn das Vertrauen da ist, realisieren wir auch größere Projekte wie etwa Inszenierungen mit den Klassen."

Die Jugendlichen der 10. Klasse kommen aus Berlin-Spandau. Durch das Kulturagentenprogramm konnte die Schule den Bereich Darstellendes Spiel ausweiten und für neue Lernorte wie das Theater öffnen. An diesem Abend wird die Klasse sehen, wie die sechs Schauspielerinnen und Schauspieler vom "jungen theater basel" sich ohrfeigen, sich anschreien und aufeinander losgehen werden. "Morning" handelt von einem Mädchen, bei dem alles schief läuft.

Warum wird Gewalt gezeigt?

Damit die Klasse auf die Härte des Stücks vorbereitet wird, nimmt sie am Nachmittag vor der Aufführung an einem Theater-Workshop teil. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich damit auseinander, warum Gewalt auf der Bühne dargestellt wird. Suna, eine junge Frau mit dunklen Haaren, Kraft in den Augen und einer starken Stimme, leitet den Workshop an. Sie ist offen, geht auf die Klasse zu und beginnt mit Aufwärmübungen. Der Raum, das ist das Foyer des Gorki Theaters. Hier werden am Abend die Jacken und Mäntel der Besucher entgegengenommen. Hier versammeln sich die Gäste, bevor es in den Theatersaal geht.

Kulturagent Carsten Cremer ist auch mit zum Workshop gekommen. Er kennt sich gut in der Kunst- und Kulturszene Berlins aus. Er sagt, er leiste vor allem Vernetzungsarbeit. "Es ist wichtig, Leute an einen Tisch zu bringen. Der Austausch zwischen Lehrern, Künstlern und Schülern soll auf allen Ebenen funktionieren." Durch die Kooperation mit dem Gorki lernen die Schüler das Theater aus allen möglichen Blickwinkeln kennen. Das ist das Besondere an der Zusammenarbeit. "Im Peer-to-Peer-Projekt treffen die Schüler auf sämtliche Mitarbeiter des Theaters: Dramaturgen, Bühnenbilder, Personalverantwortliche", sagt Panskus. Dabei durften sie sich frei im ganzen Haus bewegen und den Mitarbeitern Fragen stellen. So lernen sie, dass ein Theater mehr ist als nur die Bühne. Sie erfahren, dass das Theater ein eigener Betrieb ist, mit einer Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit, einer Garderobe und einer Kantine. "Viele Schülerinnen und Schüler glauben, Theater sei so eine Art Hochkulturding und nichts für sie", sagt Cremer. Doch genau das sei es nicht.

Das Maxim-Gorki-Theater unterstützt diese Herangehensweise und lässt den Schulen freien Raum, indem ihnen kein fertiges Konzept übergestülpt wird, sondern gemeinsam an einem Konzept gearbeitet wird. Die Lehrerinnen und Lehrer können sich anschauen, welche Stücke gezeigt werden und dann überlegen, was die Klassen dazu machen könnten. "Wir unterstützen sie dabei", sagt Panskus. Die Schüler der Carl-Siemens-Oberschule etwa hätten sich mit verschiedenen Produktionen auseinandergesetzt, um unterschiedliche Theater-Formen kennenzulernen, wie etwa eine Romanadaption des Buches "Der Russe ist einer, der Birken liebt".

Ziel soll es sein, dass sich Schule und Theater öffnen. Aus diesem Grund besucht nicht nur die Theaterpädagogin die Schule und fragt, was die Schüler von der Kooperation mit dem Gorki erwarten, sondern die Jugendlichen erfahren auch vor Ort, was Theater ist. "Als die Schüler zum ersten Mal hier waren, haben sie gemerkt, dass wir ziemlich viele Schauspieler mit türkischen Wurzeln haben", sagt Panskus. Eine Schülerin mit Migrationshintergrund habe das nicht erwartet und sei Feuer und Flamme gewesen, als sie hier war.

Anstatt an diesem Nachmittag nur zuzuschauen, was im Theaterworkshop passiert, macht Kulturagent Cremer einfach mit. Während der Aufwärmübung läuft er mit den Schülerinnen und Schülern durch den Raum und befolgt die Anweisungen von Theaterpädagogin Suna. Die Jugendlichen sollen böse schauen, dann sich mit Handschlag begrüßen, dann sich Komplimente machen. Dann sollen sie sich gegenseitig beleidigen. "Du bist so hässlich" sagen sie zueinander oder "Scheiß-Türke". "Wie fühlt sich das an?", will Suna wissen. "Was löst das in euch aus?" Doch die Jugendlichen können keine genauen Antworten auf ihre Frage geben.

Die Jugendlichen sind im Thema gefangen

Dann setzen sich alle in einen Kreis. In der Mitte liegt das Plakat des Stückes. Darauf ist ein Mädchen mit einem verstörten Gesichtsausdruck zu sehen. "Wie sieht das Mädchen aus?", fragt Suna. "Warum schaut es so traurig?" "Warum könnte es jemandem schlecht gehen?" Eine Schülerin sagt: "Vielleicht ist jemand gestorben." Eine andere: "Sie hat mit ihrem Freund Schluss gemacht." "Warum?", will Suna wissen. "Weil er sie betrogen hat", sagt die Schülerin. Die Jugendlichen sind längst im Thema gefangen. Eine Diskussion über Situationen, in denen Menschen verzweifelt sind, entbrennt.

Von der Diskursebene geht es jetzt ins Schauspiel über. Suna möchte, dass die Schülerinnen und Schüler Situationen improvisieren. Die Vorgabe: Die Protagonisten reden über eine Person, der es aus eigenem Verschulden schlecht geht, lästern über sie und dann kommt diese Person dazu. Wie fühlt es sich an, wenn über einen hinter dem Rücken geredet wird? Wie geht jemand damit um, wenn er das mitbekommt? Er wird wütend. So kann Wut entstehen. Doch wie macht sie sich Luft? Suna sagt: "Findet fünf Gesten, die Wut ausdrücken und hängt sie aneinander, macht eine Performance daraus." Suna fordert eine Wut-Performance. Und dann wird es laut. Die Schüler schreien, stampfen mit den Füßen auf den Boden, sie schnaufen und sie knurren. Sie spielen sich in Rage. Jetzt hat Suna sie genau da, wo sie die Jugendlichen haben wollte. Innerhalb von zwei Stunden hat sie gezeigt, wie Wut entstehen und aussehen kann.

Abends schauen sich die Schüler das Stück im Gorki Theater an. Der Saal ist dunkel, die Schauspieler schreien, rappen zu Stroboskop-Blitzen, halten die Zuschauer mit ihrer herausragenden Darstellung gefangen. Das Schweizerdeutsch klingt hart und wütend.

Fotos: Kristin Haug

"Theater ist anders als Film. Es bezieht das Publikum mit ein, versucht zu kommunizieren", sagt Cremer. Das hätten die Schüler gelernt. Theater sei eine Kunstform, die es ermöglicht, eigene Erfahrungen zu reflektieren und zu sehen, wie andere Menschen mit ähnlichen Erlebnissen umgehen. Wie sie auf Wut reagierten. Aber sie haben auch gelernt, was alles noch zum Theater gehört, welche Menschen hinter den Kulissen im Einsatz sind, welche unterschiedlichen Formen von Theaterstücken es gibt. Im nächsten Schuljahr soll die Kooperation weiter gehen. Die Klassen des Darstellenden Spiels sollen wieder mit Mitarbeitern aus unterschiedlichen Abteilungen arbeiten können, um so einen Einblick in alle Facetten des Theaters zu erhalten. Auch Workshops und ein Vorstellungsbesuch sind geplant. Und auch die Kooperation zwischen einer neuen Produktion, die im Herbst anläuft und einer fächerübergreifenden Schul-AG soll es geben. "Wir wollen gern weiter zusammenarbeiten", sagt Panskus. "Und wenn das Kulturagentenprogramm ausläuft, dann finden wir vom Theater sicher auch einen Weg, die Projekte mit den Schulen weiter zu finanzieren."