Carolin Berendts, Julia Strobel
Höher, weiter, kreativ
Carolin Berendts, Julia Strobel

Höher, weiter, kreativ

Eine Reflexion des Kreativitätsdispositivs

Für die Akademietagung mit dem Titel: "Was war? Was bleibt? Wohin soll es gehen? Zu Reflexion, Verstetigung und Transfer" im November 2014 in Hamburg bereiteten Barbara Müller, Julia Strobel und Carolin Berendts zum Text von Ute Pinkert1 den Praxisreflexionsworkshop "Höher, weiter, kreativ" vor. Der länderübergreifende Austausch war so intensiv, dass Julia und Carolin sich entschlossen, die Frage nach dem Kreativitätsdispositiv in der Arbeit als Kulturagentinnen für die Publikation festzuhalten. Daraus entstand von Januar bis Februar 2015 der folgende Briefwechsel.

Hamburg, den 9. Januar 2015

Liebe Julia,
nach unserem Treffen vorhin und dem intensiven Gespräch sitze ich nun im Zug auf der Fahrt zurück nach Berlin und will dir gleich eine Zusammenfassung der Punkte schicken, die mich in Ute Pinkerts Text unmittelbar in Bezug auf meine Arbeit als Kulturagentin angesprochen haben.

Vorab muss ich gestehen, dass ihr Text mich nicht nur im Hinblick auf meine jetzige Tätigkeit anspricht, sondern die Relevanz noch viel weiter geht: Das Kreativitäts- und Performancedispositiv, das Pinkert beschreibt, das "Schneller, höher, kreativ" und der Selbstoptimierungs- und Performancedruck sind Dinge, die mir in meinem gesamten gesellschaftlichen Umfeld begegnen: nicht nur in den Schulen, in den Kultureinrichtungen, bei den Künstlerinnen und Künstlern, sondern auch in der Tageszeitung, im letzten Blogeintrag und in den Diskussionen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis … Und natürlich auch in meiner Tätigkeit als Kulturagentin, wenn ich vor lauter To-dos auf der Liste nicht mehr dazu komme, über irgendetwas anderes außer der effizienten Abarbeitung all dieser so verschiedenen Punkte nachzudenken … Wie schön, im vollen Arbeitsalltag diese Inseln der Reflexion wie die Akademien, die überregionalen Textreflexionstreffen oder diese Arbeit mit dir an dem Artikel zu haben. Das empfinde ich tatsächlich als einen Luxus.

Doch zurück zum Text: Schon bei der ersten Lektüre sprachen mir die Absätze über die Aus-Wege aus der Kreativitätsfalle aus dem Herzen. Pinkert beschreibt darin, dass wir der Wachstumslogik des Kreativitätsbegriffs eventuell auch entkommen können, indem wir bewusst scheinbar "unkreative" Tätigkeiten wie das Kunstgewerbe, das Handwerk und auch das Gärtnern in den Blick nehmen.

Mich bestätigten diese Zeilen darin, wie gut es war, bei der Kooperation der Berliner Sophie-Brahe-Schule mit dem nahe gelegenen Jugendkunstzentrum (JUKUZ) "Gérard Philipe" in Treptow die handwerklichen Gestaltungsworkshops mit den 8. Klassen über drei Jahre lang fortzuführen und immer weiterzuentwickeln. Ich erinnere mich noch, wie ich mir im April 2012 für den Kunstgeldantrag zu dem ersten Projekt "Kunst kommt von Können" den Kopf zerbrochen habe, wie ich rechtfertigen kann, dass dieses stark handwerkliche Projekt förderungswürdig ist. Grundidee war (und ist): Alle Schülerinnen und Schüler des 8. Jahrgangs und der Kleinklassen2 besuchen drei Mal das JUKUZ und lernen dort in drei Gruppen die Techniken Keramik, Druck und analoge Fotografie kennen. All diese Techniken sind aufgrund der zeitlichen Beschränkung des Ein-Stunden-Fachs in der Mittelstufe im Rahmen des Kunstunterrichts nicht vermittelbar.

Im ersten Durchgang haben wir noch versucht, die Workshops jeder Klasse mit einem Besuch in einem Museum zu den entsprechenden Kulturtechniken zu verbinden. Im Grunde, um den Zielen des Kulturagentenprogramms gerecht zu werden und auch noch eine "richtige" Kultureinrichtung dabei zu haben … Das hat aber nicht funktioniert, sicherlich waren dafür auch organisatorische Gründe ausschlaggebend. Doch seitdem führen wir eben "nur" diese Workshops durch, haben nach dem ersten Jahr auch die große Jahrgangspräsentation zugunsten von kleinen Klassenpräsentationen abgeschafft und damit im Laufe der Zeit in kontinuierlicher Absprache zwischen JUKUZ, Schule, Jugendlichen, Workshopleitern und Jahrgangsteams ein kleines, unspektakuläres, aber für die beteiligten Jugendlichen wertvolles Format geschaffen. Die ersten Termine im JUKUZ sind immer noch etwas wilder, doch schon beim zweiten Mal merken die meisten, dass dieser Raum und die Zeit ganz für sie da sind. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es gerade auch für Achtklässler attraktiv ist, einen Klumpen Ton zu kneten, eine Maske zu gestalten, Dinge mit den Händen zu erschaffen – kurz: sich handwerklich zu betätigen!

Und wie eine Technik, verbunden mit einem Oberthema, dazu beflügeln kann, sich selbst anders – vielleicht sogar kreativ – auszudrücken, zeigt dieser im zweiten Jahr entstandene Film.

So viel für heute. Ich bin gespannt auf deine Gedanken und freue mich, von dir zu lesen!

Viele Grüße, Caro

 

Hamburg, 16. Januar 2015

Liebe Caro,
mir geht es ganz ähnlich wie dir, und ich merke immer mehr, wie sehr die Arbeit als Kulturagentin in einem gesellschaftlichen Kontext/Dispositiv steht. Sie scheint dessen Anforderungen, Moden und Strömungen gänzlich aufzugreifen und aus meiner Sicht kaum in Frage zu stellen. Unser Handeln scheint also völlig im Kreativitäts- und Performancedispositiv "festzustecken". Für die von Ute Pinkert aufgezeigten Auswege bin ich daher, ebenso wie du, sehr dankbar.

Als Einstieg in diese Auswege erscheint mir besonders Ute Pinkerts Hinweis hilfreich, dass es für alle Akteure in der kulturellen Bildung grundlegend wichtig ist, eine reflektierende und somit professionelle Haltung zu den Diskursen einzunehmen, die durch das Dispositiv bestimmt wird. Denn aus dem Dispositiv können wir nicht "raustreten", aber eine kritische Haltung dazu können und müssen (!) wir sehr wohl einnehmen. Unser Austausch, die Arbeit in den Akademien und die regelmäßigen Treffen mit meinem Hamburger Kulturagententeam sind für mich der Beginn und die Basis einer solch reflektierenden Position und damit äußerst wichtiger Bestandteil einer qualitativ guten Arbeit als Kulturagentin.

Aber was bedeutet diese reflektierende Position in unserem Alltag genau, wie setzen wir sie um? Das von dir dargestellte Projektbeispiel finde ich in diesem Zusammenhang sehr passend: Am Anfang des Programms hatte ich manchmal das Gefühl, mich gegenüber den Antragsentscheidern irgendwie "rechtfertigen" zu müssen, wenn Schülerinnen und Schüler "nur" handwerklich arbeiten und nicht "wirklich kreativ" sind … Und dies immerhin in Disziplinen, in denen auch Picasso wunderbare Kunstwerke geschaffen hat. Aber dies nur nebenbei.

Ich merke rückblickend, wie ich die Begriffe "kreativ" beziehungsweise "Kreativität" anfangs fast automatisch und unreflektiert – vor allem bei der Formulierung der Anträge – eingesetzt habe. So nach dem Motto "kreativ muss vorkommen, sonst ist es kein gutes Projekt". Immer habe ich also versucht, die Anforderungen des "Kreativitätsdispositiv" gewissermaßen ganz zu "erfüllen". Schließlich trägt sogar das Kulturagentenprogramm den Begriff im Titel: "für kreative Schulen". Gilt es also, diese Forderung oder Feststellung (?) mit jedem neuen Projekt und möglicherweise sogar mit der Entwicklung der Schule unter Beweis zu stellen und zu bestätigen? Ist die sogenannte Kreativität damit ein erstrebenswertes Ziel an sich, und was sind überhaupt "kreative Schulen"? Alles, was also kreativ ist, scheint per se besser und (künstlerisch) wertvoller zu sein. Und alle, die kreativ arbeiten/handeln, also die Künstlerinnen und Künstler, sind die es damit auch?

Dies führt zu einem weiteren Aspekt in Ute Pinkerts Text, der mir in meiner täglichen Arbeit begegnet ist – eine "Hierarchie in der Wertschätzung". Die Künstlerin oder der Künstler wird als Vermittler besonders wertgeschätzt, die Lehrerperson hingegen – als "unkreativ" – abgewertet. Diese Hierarchie hat in meiner Wahrnehmung die Zusammenarbeit dieser beiden Personengruppen (natürlich unterbewusst) häufig mitgeprägt: Die Lehrerperson ist für Lernziele, Organisation und pädagogische Aufgaben zuständig, die Künstlerinnen und Künstler für kreatives beziehungsweise künstlerisches Arbeiten. Dabei war nicht die Verteilung der Aufgabenfelder das Problem, sondern die darin implizierte Aufwertung der "Kreativen" versus der vermeintlich "Un-Kreativen" genauso wie die eher eng gefasste Definition des "Kreativen", denn mit Sicherheit ist auch die Lehrperson kreativ – nur eben anders und daher als solche nicht wahrgenommen. Die gemeinsame Arbeit auf Augenhöhe war daher manchmal durchaus schwierig. So habe ich beispielsweise Lehrkräfte erlebt, die ihre Befürchtung formulieren konnten, dass sie nach einer Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern in den Augen der Schülerinnen und Schüler als total langweilige – weil gänzlich "unkreative" – "Vermittler" dastehen könnten. Und der Ausweg? Nicht ganz einfach. Wichtig ist natürlich eine klare Verteilung der Aufgaben, aber vor allem auch der Austausch zu den Themen Kreativität, kreative Berufe und deren Anerkennung, Rollenverteilung und so weiter.

Soviel erst einmal für heute. Mich interessieren deine Erfahrungen und was dir dazu noch so durch den Kopf geht.

Herzliche Grüße, Julia

 

Berlin, den 26. Januar 2015

Liebe Julia,
entschuldige bitte, dass meine Antwort so lange auf sich warten ließ, aber die gefühlten ganz und gar "unkreativen" Anteile unserer Tätigkeit nehmen mich zur Zeit sehr ein – und ich bin gespannt, wie sich das bis zum Programmende noch entwickelt. Momentan scheint mir eher die normative als die liminale Performance tonangebend für meine Tätigkeit zu sein … Aber dazu später mehr.

Ich kann mich deinen Ausführungen nur anschließen: Die von dir beschriebene Ab- und Aufwertung von "kreativen" versus "unkreativen" Tätigkeiten, Berufen und Personen begegnet mir in diesem Job täglich. Der Ausweg daraus führt natürlich, wie du sagst, über die Rollenklärung, aber auch die ist nicht mit einem Gespräch abgeschlossen. Gerade beschäftigt mich ein Projekt, in dem immer wieder Kränkungen zwischen einer Kunstlehrerin und einem Künstler auftauchen, die eigentlich – wie ich meine – dasselbe für die Jugendlichen wollen. Und dennoch geraten sie immer wieder aneinander, weil sich die Ebenen in einem Gespräch zwar formal, aber nicht immer emotional klären lassen. Die Lehrerin fühlt sich herabgesetzt, während der Künstler seine Professionalität nicht anerkannt sieht. Die Moderation und Vermittlung in diesen Fällen ist meiner Meinung nach ein Aufgabengebiet, in dem sich die Kulturagentinnen und Kulturagenten an einer vorher nicht besetzten Schnittstelle verdient gemacht haben. Natürlich können auch wir nicht alle Probleme lösen, aber durch unsere Begleitung können Projekte in besserem Einverständnis entwickelt und durchgeführt werden, und sie erhalten manchmal dadurch eine neue Qualität.

Und die Kunstgeldanträge: Ich habe sie jetzt nicht statistisch ausgewertet, aber die Begriffe "kreativ/Kreativität" kamen oft genug darin vor. Oft auch das kleine alles und nichtssagende Wort "künstlerisch", das ja ein Garant für Kreativität und Qualität zu sein scheint – im Gegensatz zum unkünstlerischen Handwerk … Wunderbarerweise profitiere ich bereits in meinem Arbeitsalltag von unserem kleinen Briefwechsel. Ich sitze nämlich gerade an der Formulierung des letzten Antrags in der Programmlaufzeit: Es handelt sich um ein Netzwerkprojekt, in dem Schülerinnen und Schüler meiner drei Schulen mit einem tollen Grafiker im wahrsten Sinne des Wortes EINDRÜCKE aus den vergangenen dreieinhalb Jahren sammeln und im Siebdruckverfahren Postkarten davon drucken. Und ich versuche ganz bewusst, den handwerklichen Anteil zu würdigen und nicht in den Schatten der "künstlerischen Kreativität" zu stellen. Da hat sich die Reflexion gleich bewährt und ist in die Arbeitspraxis eingegangen.

Und dabei ist mir noch einmal klar geworden: Die Beherrschung der handwerklichen Techniken ermöglicht ja erst einen virtuosen Umgang mit ihnen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass dieser Aspekt des "Erlernens" in aktuellen künstlerischen Bildungsprojekten keinen Platz mehr findet. Oder wir beschränken uns darauf, in diesem Bereich der kulturellen Bildung festzustellen, dass die Lehre und das Erlernen gewisser technischer Fertigkeiten der curricular festgelegte, allgemeine Erziehungsauftrag der Schulen sei. Wir arbeiten in zeitlich abgeschlossenen Projekten mit Inhalten, Digitalfotografie, Collagen, Assoziationen … und nach einer Woche, einem Monat steht ein Ergebnis, oft mit Unterstützung großartiger Künstlerinnen und Künstler zu einem beeindruckenden Abschluss gebracht.

Ich komme selbst aus dem Theater- und Musikbereich und habe dank meiner Eltern außerhalb der Schule von klein auf Instrumente spielen gelernt: Blockflöte, Geige, Bratsche. In der Musik – insbesondere in der klassischen – ist es ganz klar, dass du zuerst eine Technik erlernen, dein Instrument beherrschen musst, bevor du damit spielen kannst oder sogar in ein Orchester eintrittst.

Diese Idee des Beherrschens einer Technik oder des Erbringens einer Leistung beschreibt Ute Pinkert im zweiten Teil ihres Textes in Bezug auf das Theater und die Theaterpädagogik als normativen Performancebegriff. Die normative Performance ist leistungsorientiert und widmet sich der Regel- und damit auch Technikbeherrschung. Sie ist ebenso wie die Kreativität zu einem eigenen gesellschaftlichen Dispositiv geworden. Dem stellt Pinkert den grenzüberschreitenden, widerständigen liminalen Performancebegriff gegenüber, der im Sinne der Kunstform Performance auf Transformation zielt. Ihre Betrachtungen, wie die beiden Performancedimensionen in theaterpädagogischen Projekten zusammenwirken, halte ich für überaus treffend.

In der klassischen Musik wird, wenn ich diese Idee vom Theater zur Musik übertragen darf, die normative Performance eine Voraussetzung für die liminale: Erst die Beherrschung deines Instrumentes ermächtigt dich, dich über die Grenzen des Festgeschriebenen zu erheben und zum Beispiel zu improvisieren. Mit dem Vermitteln und sogar Lehren von künstlerischen und handwerklichen Techniken geben wir den Kindern und Jugendlichen die Schlüssel in die Hand, um sich später über die Grenzen der Techniken hinwegzusetzen. Und vielleicht scheitert manches liminale künstlerische Bildungsprojekt auch an dem Anspruch, mit Jugendlichen beispielsweise Gattungsgrenzen zu überwinden, die diese überhaupt noch nicht als Einschränkung kennen gelernt haben?

Ich habe zum Abschluss des ersten Programmjahres Bobby McFerrin und Chick Corea in der Berliner Philharmonie gehört und erinnere mich noch sehr gut, wie ich im Konzert ein Aha-Erlebnis hatte, weil da alles drin war: Meisterschaft am Instrument/der Stimme, Kenntnis eines Kanons, das Spielen mit ihm und das Sich-über-ihn-Hinwegsetzen, Vertrauen in das Können des anderen, Zusammenarbeit, Zuhören und Mitgehen … Wir hatten eine Woche später Abschlussklausur des ersten Jahres im Kreise der Berliner Kulturagentinnen und Kulturagenten, und ich weiß noch, wie begeistert ich davon erzählte, dass ich im nächsten Jahr "musikalischer" arbeiten wolle … musikalischer im Sinne von Zuhören, Motive aufnehmen und weiterführen, Vertrauen in das Gegenüber und seine Ideen und auch im Aushalten und Setzen von Stille, was ein wichtiger Teil von Musik ist, denn schon ein kleiner Leerraum kann uns eine wertvolle Verschnaufpause vom Kreativitäts- und Performancedispositiv verschaffen …

Ob mir das gelungen ist, weiß ich gerade nicht zu sagen … Sagt es dir etwas? Ich setze mich zurück an meinen Antrag und sende dir die besten Grüße!

Herzlich, Caro

 

Hamburg, den 4. Februar 2015

Liebe Caro,
ich meine zu verstehen, was du mit "musikalischer arbeiten" meinst, und fände es interessant, von dir zu erfahren, ob und vor allem an welchen Stellen es dir gelungen ist oder du zumindest dem sehr nahegekommen bist.

Und wenn ich nun versuche – gerade auch im beginnenden Rückblick auf unsere Arbeit als Kulturagentinnen – (wieder) einen handhabbaren "Umgang" mit dem Kreativitätsbegriff zu finden oder ihn erneut für meine Arbeit mit Bedeutung und "Gebrauchswert" zu füllen, so bleiben Ute Pinkerts Gedanken und Auswege definitiv wichtig, insbesondere ihre Ausführungen zur ökonomisch bestimmten Dimension des Kreativitätsbegriffs für die Bildung. In diesem Kontext wird Kreativität ja als eine wichtige wirtschaftliche Ressource angesehen.

Diese "ökonomisch bestimmte Dimension" beschreibt meines Erachtens einen Teil unseres "Unbehagens" im Umgang mit dem Kreativitätsbegriff. Initiieren wir künstlerische Projekte, damit sich die Schülerinnen und Schüler als "kreative" Menschen besser auf dem Arbeitsmarkt behaupten können? Ich zumindest kann für meine Arbeit als Kulturagentin (heute) festhalten, dass ich kulturelle (Bildungs-)Projekte anstoßen und begleiten möchte, die sich – wenn sie sich schon nicht von diesem Kreativitätsdispositiv distanzieren können –zumindest (Frei-)Räume erhalten, in denen das (künstlerische) Denken, Fühlen, Sprechen und Handeln der Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrerinnen und Lehrern und natürlich den Künstlerinnen und Künstlern keinen implizierten ökonomischen Nutzen verfolgt, sondern eher im Gegenteil, das Unnütze, das Unabsichtliche, Zufällige und scheinbar Ziellose gänzlich gelten lässt. In einem Sinne, der – mit künstlerischen und kunsthandwerklichen Methoden – das Entwickeln, Erfinden, Erzeugen oder Herstellen von etwas Neuem meint und nicht das Ziel verfolgt, mit "Kreativität" zur "Wettbewerbsfähigkeit" der Schülerinnen und Schüler beizutragen. Und so erscheint mir eben gerade diese vermeintliche "Nutzlosigkeit" ein zentraler Aspekt im kritischen Umgang mit dem Kreativitätsbegriff: Künstlerisches Handeln eröffnet Räume, die für sich stehen, ohne eine (ökonomische) Verwertbarkeit erzielen zu wollen, und kann dafür ganz spezifische Methoden, Haltungen und Fragen zur Verfügung stellen. In diesem Zusammenhang erwähnt Ute Pinkert auch Peter Sloterdijks kritische Auseinandersetzung mit dem Kreativitätsbegriff, indem sie unter anderem auf seine Formulierung "Wissenschaft vom Unterlassen" hinweist. Also, mehr Mut zum "leeren Raum", zur Stille, zum scheinbar Nutzlosen!

Was heißt also dann "kreative" Schule? Für mich wäre es eine Schule, die im Verständnis eines solchen (un-ökonomischen) Kunstbegriffs genau jene genannten Freiräume ermöglicht, den künstlerischen Prozess vor die Präsentation stellt und ihren Schülerinnen und Schülern Momente großer Selbstfindung oder -verortung in und mit Kunst ermöglicht. Wenn ich – vielleicht auch zum Abschluss unseres Gedankenaustauschs – auf genau die Projekte schaue, die diesen Überlegungen besonders nahe gekommen sind, und mir deswegen als "gelungen" erscheinen, so bleiben bei mir meist nicht die "großen" Momente einer Aufführung oder Abschlusspräsentation hängen, sondern vielmehr die vermeintlich "kleinen", in denen eine Schülerin/ein Schüler für sich etwas Neues entdeckt hat und dies mit sich in Verbindung bringen konnte, oder jene Momente, in denen sie/er eine Fähigkeit an sich kennen gelernt hat, die bisher nicht in den schulischen Kontext passte, im künstlerischen Arbeiten aber von Relevanz und damit von Bedeutung war.

Und so schließe ich erst einmal, liebe Caro, im Gefühl, dass hier eigentlich noch viel zu denken und zu sagen wäre … Bleiben wir im Austausch dazu!

Herzliche Grüße, Julia

 

Berlin, den 5. Februar 2015

Liebe Julia,
besser als in deinem letzten Absatz hätte ich es nicht formulieren können, Danke! Das erinnert bei allen Projektdokumentationen und -präsentationen, die ein Programm wie unseres in seinem förderpolitischen Kontext natürlich auch benötigt, an das, was wirklich wichtig und doch so schwer abbildbar ist: die konkrete Arbeit in den Prozessen mit den Kindern und Jugendlichen oder eben auch mit den Kulturschaffenden und Kolleginnen und Kollegen an den Schulen. Diese Arbeit ist und bleibt schwer abbildbar in einem vom Kreativitäts- und Performancedispositiv dominierten Arbeits- und Wahrnehmungsfeld, das mit Bildern glücklicher Kinderaugen und "kreativer" Abschlusspräsentationen seine eigene Legitimation zu rechtfertigen sucht, obwohl sie meines Erachtens oft im Prozess, im Zweifeln, im Ausprobieren und damit im (vielleicht sogar gemeinsamen) Lernen besteht.

Beim Lesen deines letzten Abschnitts fiel mir wieder ein, dass ein Schüler des 8. Jahrgangs in seinem Schüler-Lehrer-Eltern-Bilanzgespräch auf die Frage nach seinem schönsten Schulmoment im vergangenen Schuljahr antwortete: "Die Arbeit in den Trickfilmworkshops im JUKUZ!"

Ich wünsche dir in den nächsten Wochen mit all ihren Herausforderungen noch viele solcher Momente, die mir immer wieder zeigen, wozu ich diese Arbeit mache. Und freue mich weiterhin auf Austausch – auch außerhalb unseres Briefwechsels!

Herzliche Grüße sendet Caro

 

 

1 Pinkert, Ute: "Kollisionen? Kreativität und Performance – Schlüsselbegriffe kultureller Bildung im Kontext kulturbestimmender Diskurse", in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen", Berlin 2015.

2 Kleinklassen ist ein Terminus, der in Berlin geläufig ist: Willkommensklassen, in denen Jugendliche nichtdeutscher Herkunftssprache in kleineren Gruppen bis zu 15 Schülerinnen und Schüler erst einmal bis zu elf Monaten Deutsch lernen, bevor sie in den Regelschulbetrieb integriert werden.