Constanze Eckert im Gespräch mit Nora Sternfeld
Partizipation und der dritte Raum
Constanze Eckert im Gespräch mit Nora Sternfeld

Partizipation und der dritte Raum

 

Constanze Eckert: Auf der Tagung "Der partizipatorische Imperativ"1, die im Mai 2010 im Museum für zeitgenössische Kunst in Zagreb stattfand, hast du dich mit den Paradigmen einer "Kunst für alle!" sowie auch einer "Kunst mit allen" kritisch auseinandergesetzt. Worin liegt deiner Ansicht nach die Problematik bei diesen Ansätzen?

Nora Sternfeld: Heute sollen Kunst und Kultur nicht mehr nur "für alle" da sein, sondern unter dem Schlagwort der "Partizipation" zur Kunst "mit allen" werden. Darüber hinaus geht es unter dem Label "Herstellung von Sichtbarkeit" immer wieder darum, das Feld der Repräsentation auf marginalisierte Gruppen der Gesellschaft zu erweitern. Aus der Perspektive von diesen "allen" (gemeint sind marginalisierte Positionen, die bisher nicht als Teil von "allen" – oder besser als Zielgruppen – gewonnen werden konnten), an die sich die neuen institutionellen Diskurse richten, bedeutet das, dass sie einerseits eingeladen werden, mitzumachen, und andererseits als Objekte der Repräsentation zur Verfügung stehen sollen. Der Kunst- und Kulturvermittlung wird in diesem Zusammenhang die Rolle der Brücke zwischen den Zielgruppen und den elitären Inhalten der Institutionen zugeschrieben. Sie soll – zumeist bei kompletter Unangetastetheit der Institution – die Lücken schließen, die diese ihrem (Bildungs-)Auftrag schuldig bleibt. Partizipation meint in diesem Zusammenhang eigentlich vor allem Interaktion.2 Alle sollen den Eindruck haben, sich zu beteiligen, ohne dass diese Beteiligung irgendeinen Einfluss haben kann.

Wie ist diese Partizipation, bei der sich möglichst viele beteiligen sollen, ohne dass sie etwas zu entscheiden haben, nun zu verstehen? Zumeist handelt es sich dabei wohl nicht um eine emanzipatorische, sondern um eine institutionell-hegemoniale Strategie, die Antonio Gramsci "Transformismus"3 genannt hat. Diese basiert – Gramsci zufolge – darauf, dass Hegemonie nie nur durch Zwang, sondern immer auch durch Bildungsprozesse hergestellt und erhalten werden muss. "Jedes Verhältnis von Hegemonie", schreibt er, "ist ein pädagogisches Verhältnis."4 Und weil er die reformpädagogische Einsicht ernst nimmt, dass Lernen keine Einbahnstraße von den Lehrenden zu den Lernenden, sondern ein Verhältnis voller gegenseitiger Lerneffekte ist, macht er deutlich, dass Hegemonie auch darin besteht, von den Rändern her zu lernen. Allerdings nicht zur Veränderung der Machtverhältnisse, sondern im Hinblick auf ihre Erhaltung. "Wer gutes bewahren will, muss manches verändern", war ein Slogan der Österreichischen Volkspartei in den 1990er Jahren: eine transformistische Einsicht im Hinblick auf die Erhaltung der bestehenden Machtverhältnisse. Das Ziel des Transformismus besteht darin, Kritik zu integrieren, ohne dass die Verhältnisse und Strukturen von Macht und Ausschluss selbst ins Spiel kommen müssen.5

Entgegen diesem hegemonialen Verständnis von "Partizipation" versuche ich einen anderen Begriff der Partizipation voranzutreiben: Ich schlage vor, Partizipation nicht als bloßes "Mitmachen" zu begreifen, sondern als eine Form der Teilnahme und Teilhabe, die die Bedingungen des Teilnehmens selbst ins Spiel bringt.

Was verstehst du unter guter Partizipationskunst? Gibt es auch etwas, was es unbedingt zu vermeiden gilt?

Was mich an der Idee der Partizipation in der Kunst interessiert, ist der Aspekt des gemeinsamen Handelns. Ich denke hier an Hannah Arendts Konzept des politischen Handelns in der Öffentlichkeit. In der Idee eines solchen partizipativen künstlerischen Handelns scheint mir eine Kraft zu liegen, die "Genievorstellungen" überwindet und eine Offenheit auch für unerwartete Begegnungen und Momente schafft. Arendt schreibt: "Das Handeln bedarf einer Pluralität, in der zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, dass keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht."6 Es gibt allerdings sicherlich die Gefahr der Ausbeutung von Geschichten und Erfahrungen der Leute, mit denen Künstlerinnen und Künstler arbeiten, für ihr eigenes künstlerisches symbolisches Kapital, und es scheint mir sehr wichtig, dieser Gefahr aktiv entgegenzuarbeiten. Eine weitere Gefahr scheint mir darin zu bestehen, dass Partizipation nur zum Deckmantel einer Entdemokratisierung wird: Während Zielgruppenevaluationen sich zunehmend ausbreiten, haben etwa an den Universitäten massive Einschnitte in der realen demokratischen Mitentscheidung der Studierenden stattgefunden. Hier stellt sich also die Frage, inwieweit eine künstlerische Praxis stark genug ist, sich der hegemonialen und gouvernementalen Funktion der Partizipation zu widersetzen.

Was würdest du für das Gelingen eines künstlerischen Partizipationsprojektes als unverzichtbar beschreiben?

Am besten beantworte ich die Frage wohl mit einem Beispiel: Martin Krenn etwa ist ein Künstler, den ich in diesem Zusammenhang sehr schätze. Seine Arbeiten sind stets zugleich positioniert, involviert, reflexiv und offen. Er macht starke Vorschläge, aber er lässt sich zugleich auf die Kooperation ein. Mit dem Institut für Erziehungswissenschaft in Innsbruck entwickelte er das Projekt "Statt Rassismus" (2011). Gemeinsam mit Studierenden, die selbst auch zu Autorinnen und Autoren wurden, entwickelte er ein Projekt im öffentlichen Raum, das das Vehikel einer Wahlkampagne wie ein Trojanisches Pferd nutzte. Statt für eine politische Partei zu werben, wurde hier ein Wahlkampf "für eine Gesellschaft ohne Rassismus" geführt. In dem Projekt "Demokratie und Wohlstand für alle" (2009) greift Krenn selbst die Formulierung "für alle" auf. Anhand von Fragebögen und einer partizipativen Performance konfrontiert er sich und die Bewohnerinnen und Bewohner von Linz-Auwiesen im Rahmen des Festivals der Regionen mit einer Auseinandersetzung mit dem Wohlfahrtstaat, seinen Versprechen und seiner Transformation. Heute haben wir gelernt, uns an "Zielgruppen" und "Teilöffentlichkeiten" zu richten. Wie kann die Forderung "Demokratie und Wohlstand für alle" heute angesichts der Fragmentierung des Neoliberalismus diskutiert werden? Wie lassen sich Ideen der Gleichheit und des Grundeinkommens ansprechen und umsetzen?

Was mich an Krenns Projekten interessiert, ist, dass er selbst mit starken Fragen und Themen und anhand von einer sehr ernsthaften Auseinandersetzung in die partizipative Kooperation eintritt. So gibt er nicht bloß eine leere Partizipation vor, sondern provoziert eine Auseinandersetzung, die sehr oft auch zu Konflikten und weiteren Fragen führt. Dass Krenns Projekte eine vielschichtigere Perspektive auf Partizipation vorschlagen, hat wohl damit zu tun, dass er sehr viel über die Gefahren der neoliberalen Mitmachideologie, des Paternalismus und des Ausnützens in der künstlerischen Zusammenarbeit nachgedacht hat.

Was wird im dritten Raum möglich? Welche Art des Lernens kann verwirklicht werden?

Der dritte Raum, wie in Homi K. Bhabha beschreibt,7 hat ja durchaus etwas mit dem Zwischenraum des gemeinsamen Handelns bei Arendt zu tun. So denkt Bhabha an einen Raum, in dem sich Unterschiede treffen und zum Ausdruck kommen können, ohne dass diese immer schon bereits gekannt, gewusst und hierarchisiert sind. Mary Louise Pratt und James Clifford sprechen von "Kontaktzone"8, was mir ein sehr ähnlicher Begriff zu sein scheint. Sie beschreiben damit gesellschaftliche Räume, in denen unterschiedliche soziale und kulturelle Positionen aufeinandertreffen und miteinander alltäglich – mehr oder weniger konfliktuell – auskommen müssen und verhandelt werden. Was ich an dem Konzept der Kontaktzone mag, ist, dass hier Hierarchien thematisiert werden können: Sie bestimmen nicht alles, aber sie sind diskutierbar und werden nicht verleugnet. Das Lernen in einer solchen Kontaktzone oder in einem solchen dritten Raum ist sicher nicht konfliktfrei denkbar – es handelt sich dabei wohl nicht um einen "Safe Space", so sehr wir uns das auch wünschen würden. Was aber möglicherweise im Zwischenraum gelernt werden kann, ist die Freude, nicht immer nur dieselben Machtverhältnisse aufs Neue einzuüben, sondern gemeinsam in eine radikaldemokratische Auseinandersetzung darüber einzutreten, warum die Verhältnisse so sind, wie sie sind, und dass es zu diesen auch eine Alternativen gibt, die sich niemand alleine hätte vorstellen können …

1 Siehe www.imperativsudjelovanja.net/index_njem.html [29.05.2015].

2 "Interaktivität überschreitet ein bloßes Wahrnehmungsangebot insofern, als sie eine oder mehrere Reaktionen zulässt, die das Werk in seiner Erscheinung – meist momentan, revidierbar und wiederholbar – beeinflussen, seine Struktur aber nicht grundlegend verändern oder mitbestimmen." Vgl. Kravagna, Christian: "Arbeit an der Gemeinschaft", in: republicart webjournal, 1/1998, online: www.republicart.net/disc/aap/kravagna01_de.htm [29.05.2015].

3 Gramsci, Antonio: Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, Band 10/II, § 44, Hamburg 1994, S. 1727f.

4 Ebd., S. 1335.

5 Vgl. Marchart, Oliver: Hegemonie im Kunstfeld. Die documenta Ausstellungen dX, D11, d12 und die Politik der Biennalisierung, Köln 2008, S. 25. Marchart wendet den Begriff des Transformismus aus der politischen Theorie auf das Ausstellungsfeld an und ermöglicht damit eine über Vereinnahmungslamentos hinausgehende differenzierte Analyse gegenwärtiger Tendenzen und Strategien im Ausstellungskontext.

6 Arendt, Hannah: Vita Activa, München 2002, S. 15.

7 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000.

8 Siehe Clifford, James: "Museums as Contact Zones", in: Clifford, James: Routes, Travel and Translation in the Late Twentieth Century, Cambridge 1997, S. 188–219.