Michaela Schlagenwerth
Tanz auf der Bühne: ein Erweckungserlebnis - TanzZeit Berlin
Michaela Schlagenwerth

Tanz auf der Bühne: ein Erweckungserlebnis - TanzZeit Berlin

Porträt der Berliner Institution TanzZeit

-

Fragt man Livia Patrizi und Jo Parkes, wie die Kooperation mit dem Kulturagentenprogramm ihre Arbeit verändert habe, kommt die erste Antwort ganz schnell: "Auf einmal gab es einen Ansprechpartner in der Schule." Das hat schnell zu einer intensiven Zusammenarbeit geführt. Nicht nur sechs neue Schulen kooperierten durch Vermittlung der Kulturagenten mit der TanzZeit - gemeinsam wurden auch neue Projektformate entwickelt.

Seit 2005 gibt es in Berlin "TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen". In den vergangenen zehn Jahren haben über 600 Berliner Schulklassen und damit über 13.300 Kinder an einem von der TanzZeit organisierten Tanzprojekt teilgenommen. Das sind beeindruckende Zahlen. Vor allem wenn man sieht, mit welch kleinem Kernteam TanzZeit Projekte ermöglicht, bei denen Berliner Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen ein halbes oder ein ganzes Jahr einmal wöchentlich zeitgenössischen Tanzunterricht erhalten. Meistens mit einer Aufführung am Ende.

Als sich der Verein vor zehn Jahren gründete, glaubte die Initiatorin und künstlerische Leiterin Livia Patrizi einen langen Weg durch die Instanzen vor sich zu haben. Aber als sie bei der Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport anrief, sagte die damalige Referentin für Darstellende Kunst Renate Breitig: "Genau so etwas fehlt in Berlin." Der Bedarf war groß und der Zeitpunkt genau richtig. Die Bedeutung und die Möglichkeiten, die durch kulturelle Bildung eröffnet werden können, waren stärker ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Nicht zuletzt durch den Dokumentarfilm "Rhythm is it" war deutlich geworden, dass an Schulen zwar Musik und Kunst und in vielen Bundesländern auch Darstellendes Spiel unterrichtet wird, aber dass der Tanz fehlte.

Bereits ein halbes Jahr nach Patrizis Anruf startete TanzZeit als Pilotprojekt an zwölf Grundschulen. Heute sind die Hauptangebote die Juniorklassen als halbjährige und die Masterklassen als ganzjährige Kurse mit jeweils einer Doppelstunde Unterricht wöchentlich für alle Altersstufen. Der Schwerpunkt liegt auf Grundschulen der Sekundarstufe Eins. Geleitet werden die Klassen jeweils von zwei Tänzerinnen und Tänzern, die selbst noch künstlerisch aktiv sind. Um das Hauptangebot herum gruppieren sich Experimente mit neuen Formaten und Sonderwege mit einzelnen Schulen, mit denen eine intensive Zusammenarbeit entstanden ist. So etwas wie der Joker der TanzZeit ist die Jugendcompany Evoke, die 2008 aus der Arbeit mit interessierten Schülerinnen und Schülern entstanden ist. "Wenn man so viele Jugendliche unterrichtet, bleibt es nicht aus, dass einige mit großem Talent und ernsthaften Ambitionen dabei sind", sagt Patrizi. Inzwischen tritt die Jugendcompany regelmäßig mit eigens für sie choreografierten Stücken auf. Es ist ein besonderes Angebot, was es zuvor so nicht gab. Semiprofessioneller zeitgenössischer Tanz von Jugendlichen für Jugendliche. Die jungen Tänzerinnen und Tänzer treten nicht nur auf, sie sind auch als peer-to-peer-Lehrer immer wieder mit in den Schulen unterwegs. "Durch die frühe Sortierung der Schülerinnen und Schüler in "leistungsstarke" und "leistungsschwache" gibt es zu wenig Vorbilder", sagt Patrizi. Wichtig sind in der Jugendcompany deswegen gerade die Tänzerinnen und Tänzer, die selbst aus sogenannten Brennpunkt-Bezirken kommen. Tänzer wie Ben Hasan al-Rim, der inzwischen nicht nur ältestes Mitglied der Jugendcompany, sondern selbst Tanzlehrer im TanzZeit-Team geworden ist.

Zu sich selbst kommen, im Körper Ruhe finden, über den Körper in einen dialogischen Austausch treten, Berührung stattfinden lassen: Das sind wesentliche Elemente der Arbeit im zeitgenössischem Tanz. Mit Grundschulkindern ist das mit spielerischer Leichtigkeit möglich. Für Jugendliche ist es meist eine Herausforderung – aber gerade für sie ist es wichtig. "Tanz kann sehr viel", sagt Liva Patrizi. "Es kann gerade auch jenen, die sich damit schwer tun, Erfahrungen ermöglichen, durch die sie sich selbst und Andere mehr spüren." Zeitgenössischer Tanz, bei dem der Kontakt mit sich selbst, mit dem eigenen Körper eine große Rolle spielt, kann helfen, eine eigene, individuelle Körpersprache zu entdecken – ein Prozess bei dem, einmal in Gang gekommen, auch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wächst. TanzZeit hat alle möglichen Lerneffekte, die durch Tanz entstehen können, längst aufgelistet. Gleichzeitig sagt Livia Patrizi: "Im Fokus der TanzZeit-Formate stehen nicht Lerneffekte, sondern die gemeinsame künstlerische Erfahrung."

Bei TanzZeit wird nichts Vorgefertigtes mit den Schülerinnen und Schülern einstudiert, man begibt sich gemeinsam auf die Suche. "Die Künstler vereinbaren mit den Schülerinnen und Schülern ein Thema oder eine Frage. Sie recherchieren, sammeln Informationen, probieren Ansätze, sehen die Schwächen, sammeln wieder, verdichten, sortieren. Es gibt in der künstlerischen Arbeit eigentlich immer diesen Moment der Desorientierung, bei dem man nicht weiß, wo man steht und wie man damit umgehen muss, ein bisschen verloren zu sein. Von da aus beginnt man dann eine Struktur zu bauen bis man ein Stück hat. Das ist der Prozess, den die Künstlerinnen und Künstler in der Arbeit an den Schulen durchlaufen. Für die Kinder und Jugendlichen ist das als ,role model" etwas sehr Wichtiges. Sie können Erwachsene auf diese Weise als Lernende erleben, mit all den Herausforderungen, die dazu gehören."

Die halbjährigen Juniorklassen enden in der Regel mit einer kleinen Abschlusspräsentation in der Schule. In den über ein ganzes Schuljahr laufenden Masterklassen wird ein Stück erarbeitet, dass im Sommer beim drei- bis viertägigen Tanzfestival der TanzZeit im Podewil auf der großen oder auf der Studiobühne gezeigt wird. Verpflichtend ist das nicht. Wenn sich im Verlauf der Arbeit an der Schule herausstellt, dass die Fokussierung auf eine Aufführung kontraproduktiv wirkt, wird ein anderes Konzept entwickelt. Auch, ob eine Aufführung auf der großen oder eher auf der Studio-Bühne in Frage kommt, wird im laufenden Arbeitsprozess entschieden.

Jeweils fünf Wochen vor Festivalbeginn kommen die TanzZeit-Künstlerinnen und Künstler zusammen. Sie bringen Videos ihrer geplanten Stücke mit, in Kleingruppen wird gesichtet, diskutiert, beraten. Um die 40 Tänzerinnen und Tänzer sowie Choreografinnen und Choreografen arbeiten mit TanzZeit zusammen. Die Meisten von ihnen sind schon seit Jahren dabei. "Einmal eine Doppelstunde Tanz pro Woche für ein halbes oder für ein ganzes Schuljahr", sagt Jo Parkes, die über viele Jahre bei TanzZeit die Fortbildung und Entwicklung neuer Formate geleitet hat. "Das klingt so einfach. Aber wir haben uns innerhalb dieser einfachen Struktur der Junior- und Masterklassen immer weiter entwickelt und eine sehr starke Kommunikationskultur entwickelt."

Welche Kriterien setzt man für einen guten Tanzunterricht an? Welchen künstlerischen Ansprüchen muss eine Tanzaufführung mit Schülerinnen und Schülern genügen? Wie balanciert man dabei pädagogische und künstlerische Ansprüche aus? Und wie gewichtet man diese überhaupt? TanzZeit war mit diesen Fragen nie allein. Sie ist Mitglied im Bundesverband Tanz in Schulen, auch international ist man im regen Austausch. Trotzdem muss man diesen Prozess als Team ganz konkret gemeinsam durchlaufen, jeweils eigene Lösungen finden.

Die Qualitätssicherung haben Jo Parkes und die Choreografin Hanna Hegenscheidt fast zehn Jahre lang aufgebaut. "Man muss schauen, wie man die Teams zusammenstellt", sagt Jo Parkes. "Es gibt vierzig Künstler, die haben alle Schwächen und Stärken. Man muss sehen, wie man sie gut miteinander im Team kombiniert. Was passt für die Schulen und für die Klassen? Und welche Künstler könnten voneinander lernen?" Die Zweierteams arbeiten gleichberechtigt auf Augenhöhe miteinander, und längst melden die Künstler auch selbst an, mit jemandem Bestimmten zusammen arbeiten zu wollen, weil sie von ihm etwas Bestimmtes lernen können. Es gibt Fortbildungen, Austauschtreffen, und sogenannten Sharings, in denen man gemeinsam einen Unterricht besucht und reflektiert. Die Teamkultur des intensiven offenen Austauschs, die TanzZeit aufgebaut hat, ist so wichtig, nicht nur weil sie die Tänzer für ihre Arbeit stärkt und qualifiziert. Sie hat die gesamte Arbeit der Künstlerinnen und Künstler in den Schulen geprägt. Mit großer Leidenschaft setzen sie diesen offenen Austausch in der Schule mit den Kindern und Jugendlichen fort. Wenn möglich werden mit den Schülerinnen und Schülern Moves ausgetauscht und mit ins Bewegungsrepertoire aufgenommen. Sie sind nicht nur als Tänzerinnen und Tänzer an der Entwicklung eines Stücks beteiligt, die gesamte Arbeit ist darauf aufgebaut, dass sie selbst Bewegungen erfinden, ausprobieren, gestalten, zu Choreografinnen und Choreografen werden.

Die Präsentationen der Stücke sind in jedem Sommer ein großes Fest für alle Beteiligten. "Für die Schüler ist die Erfahrung auf einer großen Bühne zu stehen und wenn das Licht angeht mit allen Beteiligten im gleichen Moment das zu liefern, was ihre Rolle ist, oft ein Erweckungserlebnis", sagt Livia Patrizi.

TanzZeit – Zeit für Tanz in Schulen wird vom Land Berlin gefördert und steht unter der Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters und der Choreografin Sasha Waltz. Jedes Jahr bewerben sich mehr Schulen um eine Junior- oder Masterklasse als TanzZeit annehmen kann, die über die Fördermittel des Landes Berlin jeweils die Hälfte der Kosten trägt. Die andere Hälfte müssen die Schulen aus ihrem Budget selbst zahlen. Entschieden schwieriger ist es für TanzZeit, mit den Schulen neue Formate auszuprobieren. "Schulen haben dafür in der Regel keine Ressourcen", sagt Jo Parkes. Durch das Kulturagentenprogramm hat sich das verändert. "Auf einmal gab es mit den Kulturagenten und den Kulturbeauftragten Partner mit denen es möglich war, Experimente zu wagen, Risiken einzugehen und zu schauen, welche Dinge funktionieren. Schulen sortieren Partner von außen, mit denen in der Zusammenarbeit etwas nicht sofort funktioniert, in der Regel sehr schnell wieder aus. Für alles andere fehlt ihnen die Infrastruktur." Neue Formate zu entwickeln, ist unter diesen Umständen schwierig. "In den besten Fällen", so Jo Parkes, "hat mit den Kulturagenten und den Kulturbeauftragten eine intensive Zusammenarbeit stattgefunden. Es wurden Vorschläge ausgetauscht und diskutiert, und es wurde gemeinsam etwas entwickelt. Es war ein Austausch mit Leuten, die wussten, wie die Schule tickt, was sie braucht und auch, was realistisch ist."

Tanzprojekt der Lina-Morgenstern-Schule mit TanzZeit
Fotos: Marion Borriss

Wichtig waren auch die finanziellen Ressourcen. Die Möglichkeit in etwas Neues investieren zu können, in Projekte, die nicht gleich eine Erfolgsgeschichte und ein vorzeigbares Ergebnis liefern müssen. "Genau das ist so wichtig", betont Jo Parkes. "Gerade da, wo es Spielraum für Fehler gibt, wo man Scheitern und daraus lernen kann, kann etwa Spannendes, Neues entstehen."

Entstanden sind auf diesem Weg neue Vermittlungsformate. Das ist neben den vielen neuen und oft auch intensiven Schulpartnerschaften der wichtigsten Synergieeffekte der Zusammenarbeit von TanzZeit und dem Kulturagentenprogramm. Zu den Leuchtturmprojekten dieser Zusammenarbeit gehört beispielsweise das Curriculum-Projekt der Weddinger Erika-Mann-Grundschule bei dem (in der Regel an drei Terminen) jeweils ein bestimmter Lehrstoff mit choreografischen Aufgaben im Klassenzimmer erarbeitet wird. Die Schülerinnen und Schüler erschließen sich dabei andere Zugänge zu einem Schulfach – und oft auch andere Dimension. Die TanzZeit arbeitet nun daran, dieses neue Format als festes Angebot in ihr Programm zu integrieren.

Überhaupt, das steht schon jetzt fest, werden die angestoßenen TanzZeit-Projekte auch nach Ende des Kulturagentenprogramms in vielen Schulen nahtlos weiter laufen. Und manchmal machen die Projekte dabei einen Quantensprung. An der Lina-Morgenstern-Schule hat sich beispielsweise aus den TanzZeit-Klassen eine Kooperation mit der TanzZeit-Jugendcompany entwickelt. Jetzt tanzen die Schülerinnen und Schüler der Lina-Morgenstern, von denen manche vielleicht auch einmal JuCo-Mitglieder werden, und die jungen Viertelprofis der Jugendcompany gemeinsam – und zwar nach der Schule!