Constanze Eckert im Gespräch mit Ulrike Hentschel
Über mögliche Zusammenhänge von Kunst (Theater) und Bildung
Constanze Eckert im Gespräch mit Ulrike Hentschel

Über mögliche Zusammenhänge von Kunst (Theater) und Bildung

Ein Gespräch mit Ulrike Hentschel

Constanze Eckert: Welche Legitimationsstrategien sind für Kunst (Theater) in der Bildung häufig anzutreffen? Sehen Sie sich hier zu Kritik veranlasst?

Ulrike Hentschel: Mit künstlerischer Arbeit im Bildungskontext sind selbstverständlich immer Wirkungsabsichten verbunden. Anders als im Kunstkontext richten sich diese Intentionen nicht nur auf die Rezipienten der Arbeit, sondern auch auf die produzierenden nicht-professionellen Akteure. Theaterpädagoginnen und -pädagogen wissen um die künstlerische und pädagogische Wirkung ihrer Arbeit und können sie auch gezielt anstreben.

Problematisch wird die Rede von den Wirkungen erst dort, wo sie zum Ausgangspunkt der Arbeit wird, wo also theaterpädagogische Arbeit ausgehend von normativ gesetzten Wirkungen und Zielen konzipiert wird. Damit ist die Grundlage für Legitimationsstrategien gelegt, die in der kulturellen Bildung allgemein und in der Theaterpädagogik im Besonderen sehr verbreitet sind. Die Argumentation folgt dabei dem Prinzip der formalen Bildung. Es geht vor allem darum, bestimmte Zielsetzungen (für den einzelnen und für die Gesellschaft) zu erreichen; Bildungsinhalte sind im Hinblick auf diese Ziele auszuwählen. Beispielhaft für diese Argumentation ist die Diskussion um Kompetenzen, die seit Beginn dieses Jahrhunderts – insbesondere unter dem Einfluss der PISA-Studien – die Bildungsarbeit in der Schule und zunehmend auch in der außerschulischen Bildungsarbeit bestimmt. Flexibilität, Team- und Empathiefähigkeit sind die Klassiker unter diesen mit kultureller Bildung im Allgemeinen und Theaterpädagogik im Besonderen zu erwerbenden Kompetenzen. Dazu werden dann je nach Konjunktur immer wieder andere, gerade aktuelle Kompetenzen propagiert. Prominent sind zur Zeit Integrations- und Partizipationskompetenzen.1

Theaterpädagogische Arbeit scheint sich für die aufgezeigten Rechtfertigungsstrategien besonders anzubieten. Da die Kunst des Theaters sich der Zeichen der sie umgebenden Kultur bedient und mit ihnen spielt, liegen Vorstellungen nahe, auf diesem Weg sei eine Einübung in soziale Zusammenhänge möglich. Der Begriff des "Probehandelns" wurde und wird in diesem Kontext häufig bemüht.

Es gibt drei wesentliche Punkte, die mir an diesem Legitimationsdiskurs kritikwürdig erscheinen:

1. Das Prinzip der Sich-selbst-erfüllenden-Prophezeiung

Im Wettbewerb um die im Feld der kulturellen Bildung zu vergebenden öffentlichen Ressourcen springen Pädagoginnen und Pädagogen – oft wider besseren Wissens – auf den Zug des Legitimationsdiskurses auf. Sie verkaufen ihre Projekte mit dem Versprechen zu erreichender Kompetenzen. In ausgefeilter Antragslyrik zeigen sie auf, inwieweit gerade ihre spezifische künstlerisch-pädagogische Praxis besonders geeignet ist, die anvisierten Kompetenzen zu erlangen. Nach Abschluss der Projekte belegen sie, dass sie die intendierten Ziele erreicht haben, verfestigen also den Eindruck dieser Potenziale künstlerischer Arbeit im pädagogischen Kontext und bestätigen den Legitimationsdiskurs. Die daraus hervorgehende "Mythenbildung" im Bereich der kulturellen Bildung wurde jüngst vom Rat der kulturellen Bildung in der Publikation "Alles immer gut"2 kritisch befragt. Es sei an der Zeit, sich von den "Standard-Mobiliars und Klischees der Weltdeutung"3 zu verabschieden, die die Wirksamkeit von Projekten im Rahmen kultureller Bildung immer wieder untermauern sollen, aber jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren.

2. Die Reduktion auf einen Methodenbaukasten

Werden – im Sinne formaler Bildung – die im Bildungsprozess zu erreichenden Kompetenzen vorausgesetzt, so verkürzt sich der Blick auf die Inhalte. Sie erscheinen so lediglich als Mittel, um diese anvisierten Ziele zu erreichen. Der Schritt zum Methodenbaukasten ist dann nicht mehr weit. Theaterpädagogische Arbeitsformen werden auf eine Reihe von Methoden reduziert, die unabhängig vom jeweiligen Projekt und losgelöst von künstlerischen Absichten eingesetzt werden. (Nebenbei bemerkt: Solche Methoden lassen sich in Workshops gut vermitteln und in vielfältigen pädagogischen Kontexten und in den Fachdidaktiken diverser Fächer durchaus erfolgreich einsetzen.) Von einer fachspezifischen produktiven und rezeptiven Auseinandersetzung mit künstlerischen Formen des Theaters ist diese Reduktion auf Methodenwissen jedoch weit entfernt.

Abgesehen davon kann das Ausgehen von vorab bestimmten Zielsetzungen auch den Blick auf die Vielfalt der Theaterformen und -ästhetiken einschränken. Das Anstreben von Empathie beispielweise kann in engen Zusammenhang mit einer Einfühlungsästhetik und mit einer möglichst wahrscheinlichen Wiedergabe gesellschaftlicher Realität durch theatrale Mittel in Zusammenhang gebracht werden.4

3. Die Reduktion von Bildung auf den Erwerb von Kompetenzen

Im Kontext des Legitimationsdiskurses erscheint kulturelle Bildung sehr häufig als eine Summe aus verschiedenen Kompetenzen. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass Kompetenzen als funktional für einen bestimmten festgelegten Anforderungskontext definiert sind. Demgegenüber möchte ich – trotz der aktuell verbreiteten inflationären Rede von Bildung als humaner Ressource – an einem Bildungsbegriff festhalten, der sich dieser Funktionalität verweigert und Bildungsprozesse innerhalb theaterpädagogischer Praxis als risikoreich, ergebnisoffen, nicht vollständig didaktisierbar und womöglich disfunktional gegenüber einem gegebenen Kontext charakterisieren. Der Kunstpädagoge Pierangelo Maset spricht in diesem Sinne von "Bildung als Entfaltung der Differenz".

Ausgehend von dieser Kritik des Legitimationsdiskurses scheint es mir notwendig, die Rolle der bzw. die Art der Wirkungsforschung und der Forderung nach vermehrter und verbesserter Wirkungsforschung innerhalb der einzelnen Bereiche kultureller Bildung kritisch zu reflektieren. Wirkungsforschung bleibt dann dem Legitimationsdiskurs verhaftet, wenn sie lediglich überprüft, welche Fähigkeiten, Kompetenzen und welche Transfermöglichkeiten in andere Lernfelder mit der Arbeit an künstlerischen Projekten eingehen.

"Ästhetische Bildung ist Bildung eines Abstands zur allgemeinen Bildung." Das ist ein Zitat von Martin Seel5, mit dem Sie Ihren Text " …mit Schiller zu mehr social skills? Zur Rolle des Theaters im aktuellen Bildungsdiskurs"6 beenden. Was sagt es über die Rolle der Kunst in der Bildung aus?

Martin Seel unterscheidet Kunst als eine spezifische Form des Ästhetischen von den vielfältigen Formen ästhetischer Wahrnehmung und Gestaltung des uns umgebenden Alltags. Ein Kunstwerk, so seine These in genanntem Text, "ist nicht von der Welt, es ist über die Welt". Er knüpft die Besonderheit von Kunst also an ihre Fähigkeit auf die "Welt" zu verweisen. Das kann sie allerdings nur, indem sie sich von "Welt" unterscheidet und dadurch die Erfahrung der Differenz beziehungsweise der Distanz ermöglicht. So verstehe ich das Diktum vom "Abstand zur allgemeinen Bildung". Die Auseinandersetzung mit Prozessen künstlerischer (theatraler) Gestaltung kann nur dann bildend wirken, wenn sie einen Abstand zu allgemeinen Erfahrungsbeständen ermöglicht, wenn sie auf diese zu verweisen vermag und sie damit auch in Frage stellen kann. Darin sehe ich die Rolle, die Kunst als Impuls von Bildungsprozessen spielen kann. Ausdrücklich ist mit Distanznahme kein Rückzug in den "Elfenbeinturm" ästhetischer Erfahrung gemeint. Sie stellt vielmehr die notwendige Voraussetzung für den ver- und befremdeten Blick dar, der sich aus dem Abstand auf die routinisierten Muster sozialer Praxis werfen lässt.

In jüngerer Zeit hat sich die Kunstphilosophin Juliane Rebentisch in ähnlicher Weise geäußert.7 Ausgehend von einem erfahrungsästhetischen Ansatz hebt sie allerdings nicht die Besonderheit des ästhetischen Werks gegenüber der Außenwelt hervor, sondern spricht von der spezifischen Erfahrung, die im Umgang mit Kunst gewonnen werden kann. Diese Besonderheit ästhetischer Erfahrung, die sich von anderen Erfahrens- und Erkenntnisformen unterscheidet, ist Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur ästhetischen Bildung. Statt von vorab formulierten Kompetenzen auszugehen, schlage ich vor, den Gegenstand/das Ereignis der Erfahrung – also: eine konkrete Theaterproduktion, ein Theaterprojekt – in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen. Aus dieser Perspektive lässt sich fragen, welche möglichen Bildungsprozesse sich in der künstlerischen Arbeit mit diesem Gegenstand/Ereignis abzeichnen.

Es soll damit allerdings nicht der Eindruck einer vereinfachenden Gegenüberstellung entstehen. Die Kontrastierung einer funktional von bestimmten Kompetenzen für gesellschaftliche Zusammenhänge agierende Theaterpädagogik auf der einen und einer künstlerisch motivierter Praxis auf der anderen Seite leugnet den grundsätzlichen Verwertungszusammenhang, in dem diese Arbeit immer steht. Angesichts des aktuell diskutierten gesellschaftlichen Zwangs zur Darstellung und Selbstdarstellung muss sich jegliche Form theaterpädagogischer Arbeit immer auch die Frage stellen, inwieweit und mit welchen Verfahren sie möglicherweise zu diesen Selbstdarstellungszwängen beiträgt.

Gibt es aus Ihrer Perspektive etwas, das nur Kunst (Theater) in die Bildung einbringen kann? Was macht Theater für die Bildung besonders?

Es ist schwierig, über Bildungsprozesse zu sprechen, die das Theater oder die Kunst ermöglichen können. Angesichts der Eigensinnigkeit ästhetischer Erfahrungen und der Historizität der Künste kann es sich dabei nur um die Beschreibung eines Rahmens handeln, die für jede künstlerische Arbeit zu konkretisieren ist. Darüber hinaus lassen sich gegenwärtig vielfältige interdisziplinäre Bezüge zwischen den Künsten beobachten. Einzelne künstlerische Verfahren oder Formen – wie zum Beispiel die Performance Art – sind damit nicht ausschließlich als Praktiken einer Kunstsparte anzusehen.

Auch der häufig zu findende Verweis auf die körperliche Erfahrung als bildende Besonderheit des Theaterspielens bleibt unbefriedigend, dort, wo er sich lediglich auf die Verbesserung von Körperwahrnehmung oder auf ein ganzheitliches Lernen mit allen Sinnen richtet. Von einer Besonderheit ästhetischer Erfahrung in der (produktiven aber auch rezeptiven) Begegnung mit Theater lässt sich aus meiner Sicht allerdings im Zusammenhang mit der spezifischen Form der Zeichenhaftigkeit dieser Kunst sprechen. Im Doppelcharakter theatraler Kommunikation, der gleichzeitigen Anwesenheit von Darstellung und Dargestelltem auf der Bühne, sehe ich ein spezifisches Moment ästhetischer Erfahrung. Diese Erfahrung kann am eigenen Körper gewonnen werden und ist dort auch besonders evident; sie ist jedoch ebenso kennzeichnend für die Gestaltung des Raumes, des Lichts, der Requisiten und so weiter. Bildend kann diese Erfahrung wirken, indem sie den Zwischenraum zwischen diesen Ebenen – des Vorgangs der Darstellung und des Dargestellten – als Gestaltungsraum bewusst macht. Auf diese Weise können die Akteure eine reflexive Haltung zu sich selbst und zu ihrer eigenen Gestaltungsarbeit gewinnen und darüber hinaus möglicherweise auch Einsichten in die wirklichkeitskonstituierende Funktion gesellschaftlicher Aufführungspraxis gewinnen.

Wie sieht es mit der Bedeutung der Bildung für das Theater aus?

Ein wesentliches Interesse der Institution Theater an theaterpädagogischer Arbeit liegt in den Formen "ästhetischer Alphabetisierung", die dieser Arbeit immanent sind. Dabei geht es darum, das Zeichensystem, die Sprache(n) einer Kunst kennenzulernen, also Theater zu sehen und mit anderen in einen Austausch über das Gesehene zu kommen. Auf diese Weise wird ein potenzielles Publikum gebildet, das die komplexe Struktur theatraler Arbeit "lesen" kann und in der Lage ist, sich differenziert mit der Kunst des Theaters auseinanderzusetzen. Im Sinne materialer Bildung, die in der Weitergabe von Kulturgut an die zu Bildenden besteht, wird so der Bildungsauftrag des Theaters erfüllt. Ob und inwieweit es darüber hinaus auch Impulse zur Veränderung der Institution Theater und der Kunst des Theaters geben kann, die von theaterpädagogischer Arbeit ausgehen, und welche Impulse das sind, dazu bedarf es differenzierter Fallstudien. Eine erste Veröffentlichung zu diesem Feld liegt inzwischen von Ute Pinkert vor.8

1 Vgl. Deutscher Bundestag: Schlussbericht der Enquete Kommission "Kultur in Deutschland", Berlin 2007, S. 379.

2 Rat für Kulturelle Bildung: Schön dass ihr da seid. Kulturelle Bildung: Teilhabe und Zugänge, Essen 2014.

3 Ebd., S. 10.

4 So beschrieben in: Rittelmeyer, Christian: Warum und wozu ästhetische Bildung? Über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsbericht, Oberhausen 2010, S. 81.

5 Seel, Martin: "Intensivierung und Distanzierung", in: Kunst und Unterricht, Heft 176/1993, S. 48–49, hier S. 49.

6 Hentschel, Ulrike: " …mit Schiller zu mehr social skills? Zur Rolle des Theaters im aktuellen Bildungsdiskurs", in: dramaturgie. Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft, Heft 1/2007, S. 5­–9.

7 Vgl. "Zur Aktualität ästhetischer Autonomie. Juliane Rebentisch im Gespräch", geführt von Loretta Fahrenholz und Hans-Christian Lotz, in: Inaesthetik Nr. 0 (2008), S. 103–118; Dominique Laleg: "Das Potenzial des Ästhetischen. Drei Fragen an Juliane Rebentisch zum Verhältnis von Ästhetik und Politik", in: ALL-OVER, Nr. 3, Oktober 2012, online: allover-magazin.com/?p=1072 [31.05.2015].

8 Pinkert, Ute: Theaterpädagogik am Theater: Kontexte und Konzepte von Theatervermittlung, Milow 2014.