Silke Ballath, Anja Scheffer
Warum liegt der Film in der Schublade?
Silke Ballath, Anja Scheffer

Warum liegt der Film in der Schublade?

Kurzbeschreibung

Ausgangspunkt des Projekts „RESPECT!“ war die Schulordnung der Refik-Veseli-Schule. 70 Schülerinnen und Schüler beschäftigten sich mit den Regeln und setzten sie filmisch um. Mit Unterstützung von Künstlerinnen und Künstlern entstanden sechs Episoden zu den Themen Pünktlichkeit, Konflikte, Verantwortung, Verhalten, Schulklima und Diskriminierung, in den Formaten Spielfilm, Werbefilm und Reportage.

Bundesland

Berlin

Ort

Berlin

Beteiligte Klassenstufen

7 bis 9

Thema

künstlerische Auseinandersetzung mit der Schulordnung

Format

Projekttage

Beteiligte Schülerinnen und Schüler

70

Projektdauer

September 2012 – Mai 2013

Durchführungsorte

In der Schule
Präsentation in einem Kino

Kulturagent

Silke Ballath

-

Das Filmprojekt "RESPECT!" wurde im Schuljahr 2012/13 realisiert, nachdem die Schüler_innen1 der Refik-Veseli-Schule dafür gestimmt hatten, im Rahmen des Programms "Kulturagenten für kreative Schulen" Medien- und/oder Theaterprojekte zu realisieren. Gemeinsam mit Oliver Tempel, damals Schulsozialarbeiter der Schule, wollten wir die Schulregeln verfilmen. Vorbild für diese Idee war ein Film2 der Nürtingen-Grundschule in Berlin über die von den Kindern gemeinsam erarbeiteten Regeln im Schulalltag.

In der Refik-Veseli-Schule bildeten die nunmehr ehemalige Hausordnung3 der Schule die Grundlage für das Vorhaben sowie eine Umfrage von Schüler_innen mit Schüler_innen danach, welche der Regeln ihnen bekannt seien, welche sie sinnvoll fänden, welche weniger. Die Regisseurin Anja Scheffer und die Kulturagentin Silke Ballath organisierten gemeinsam mit dem Schulsozialarbeiter Oliver Tempel ein Casting für alle Schüler_innen im Herbst 2012. Daniel Harder (Musikvideoproduktion/Kamera für unter anderem Peter Fox, Sido) und Sebastian Grobler (Regisseur von unter anderem "Der ganz große Traum") stellten ihre Arbeit den Schüler_innen im Assembly4 vor und unterstützten uns während der gesamten Produktion. Wir wollten mit dem Filmprojekt einerseits einen Raum für die Künste in der Schule öffnen und zeigen, wie beispielsweise dadurch neue Perspektiven auf die Zusammenarbeit zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen entstehen können. Andererseits wollten wir anregen, die Schulkultur gemeinschaftlich von und durch die Schüler_innen zu gestalten und das Identifikationsgefühl für die Schule zu stärken.

Das Filmprojekt "RESPECT!" begann mit dem Casting, zu dem sich knapp 80 Schüler_innen meldeten. Etwa 70 Schüler_innen aus den Klassen 7 bis 9 arbeiteten von Mitte Oktober bis Ende November 2012 mit Anja Scheffer, Daniel Harder und Sebastian Grobler an der Realisierung des Films. Jeweils drei Tage lang wurde eines von sechs Themen der Schulregeln assoziativ erarbeitet, durch Improvisation szenisch umgesetzt und schließlich verfilmt.

Während der Dreharbeiten baten wir die Rap-AG, die Filmmusik mit uns zusammen zu entwickeln. Es klappte leider nicht, doch dann entstand eine Zusammenarbeit mit DJ B. Side/Oliver Scheffer, der die Filmmusik produzierte und den RESPECT!-Song mit drei Schüler_innen erarbeitete. Es entstand die Idee, im Februar 2013 noch ein Musikvideo zu drehen. Im Freizeitraum entwickelten zwei Street-Artists und ein Schüler extra dafür ein RESPECT!-Graffity.

Die Premiere des Films fand im Mai 2013 in Kooperation mit dem Eiszeit-Kino statt. Die gesamte Schulgemeinschaft sah den Film in fünf Vorführungen, Gäste waren geladen. Schüler_innen moderierten die Premiere ausgehend von ihren Erfahrungen. Im Schuljahr 2013/14 wurde der Film dann auch den Grundschüler_innen der Nürtingen-Grundschule gezeigt, auf Wunsch von deren Schulleiter Markus Schega.

Für die Lehrer_innen der Refik-Veseli-Schule fand ein Workshop statt, in welchem erarbeitet werden sollte, wie mit dem Filmmaterial im Kontext Schule umgegangen werden könnte. Pädagog_innen der Nürtingen-Grundschule teilten ihre Erfahrungen mit dem Kollegium der Refik-Veseli-Schule, ausgehend von dem Vorgängerfilm "FAIR SEIN! 10 Regeln von Kindern für Kinder". Allerdings stieß dieser Workshop auf eher verhaltene Begeisterung: Wenige Lehrer_innen der Schule brachten die Kapazitäten auf, um über das Filmmaterial Unterrichtseinheiten, Arbeitsansätze und anderes zu erarbeiten. Daraus entwickelte sich die Idee, eine AG für interessierte Schüler_innen anzubieten, angeleitet von Anja Scheffer und dem Demokratiecoach Saiid Ismati. Ein Patenprogramm sollte langfristig über die Arbeit mit dem Filmmaterial entwickelt werden. Die RESPECT!-AG wurde nach etwa zehn Terminen aufgegeben, die Schüler_innen wollten nicht mehr kommen, vonseiten des Kollegiums gab es keinen Rückhalt5 dafür – vor allem aus Zeitgründen.

Gleichzeitig war der Film Ausgangspunkt und Motivator für ein Theaterprofil, das an der Schule entwickelt werden konnte. Im Frühjahr 2013 wurde ein Theaterpilot realisiert. Seitdem baut die Schule ein Profil auf, in dem eine Klasse zu Beginn des 7. Schuljahrs vier Wochen lang ausschließlich Theater spielt und in der 8./9. und 10. Klasse jeweils zwei Wochen.

Die folgende Darstellung basiert auf einer Fragestellung, die uns im letzten Jahr immer wieder beschäftigt hat: "Warum liegt der Film ,RESPECT!" nun in der Schublade?" Wir haben die Frage an beteiligte Lehrer_innen, den Kulturbeauftragten, Schüler_innen, die Schulleitung der Refik-Veseli-Schule, zwei Schulsozialarbeiter_innen der Schule, an den Schulleiter und einen Lehrer der Nürtingen-Grundschule sowie den Filmregisseur Sebastian Grobler weitergegeben. Möglichst verschiedene Perspektiven und unterschiedliche Stimmen sollten eingefangen werden, um ein Bild davon zu zeichnen, was Gründe dafür sein können, warum ein Film, der viele Möglichkeiten bietet, in der Schule damit zu arbeiten, in der Schublade landet – vielleicht sogar mit gutem Grund. Einige der angefragten Personen haben sich per E-Mail oder im persönlichen Interview geäußert, andere gar nicht.

Anja Scheffer hat, ausgehend von dem Interviewmaterial, einen "fiktiven Chat" entwickelt, der alle Fragmente der Interviews in einer Art Dramaturgie zueinander ins Verhältnis stellt. Die unterschiedlichen Positionen, die sich teilweise widersprechen, teilweise ergänzen, teilweise die Vielzahl unterschiedlicher Meinungen sichtbar machen, werden darin deutlich. Die Gliederung in Vorspann, Episode 1, Episode 2, Episode 3, Episode 4, Epilog und Abspann, analog zum Film, entspricht Anja Scheffers künstlerischer Arbeitsweise, wie beispielsweise dem fragmentarischen Drehbuch von "RESPECT!" oder ihren Theaterstücken, in welchen prozessual Textfragmente zu einzelnen Szenen zusammengesetzt werden.

Deutlich wird, dass die Frage, warum ein Film in der Schublade liegt, viele Gründe haben kann. Wir haben dieses Textformat gewählt, um Raum für Assoziationen zu ermöglichen, darüber nachzudenken, welche Rolle künstlerische Projekte im Schulalltag spielen, welche Energie sie freisetzen, wie sie Veränderungsprozesse unterstützen können, wie gegensätzliche Positionen Handlungsspielräume verengen und mehr. Dieser Chat ist entstanden, um in Kommunikation und Reflexion mit- und untereinander zu kommen und zu bleiben.

Casting für das Filmprojekt
Foto: Taha

Szenenentwicklung mit Schülerinnen und Schülern
Foto: Daniel Harder

Themenerarbeitung
Foto: Anja Scheffer

Fingerwaffen
Foto: Taha

Dreh mit Daniel Harder
Foto Anja Scheffer

 

Handy
Foto: Daniel Harder

Respect
Foto: Daniel Harder

Premiere
Foto: Hendrik Scheel

Ein fiktiver Chat über "RESPECT!"

"Das Hauptziel der Schule ist es, junge Menschen […] zu ehrlichen, rücksichtsvollen Mitgliedern einer demokratischen, toleranten und zunehmend komplexeren Gesellschaft zu erziehen, in der die Menschenwürde geachtet wird und Konflikte mit friedlichen, rechtsstaatlichen Mitteln beigelegt werden."

"Schüler, die zu spät kommen, haben sich bei der betreffenden Lehrkraft zu entschuldigen."

"Den Anordnungen des Lehrpersonals ist Folge zu leisten."6

Wer hält sich schon an eine Schulordnung, die laut einer Schüler_innenumfrage im Jahr 2012 kaum eine_r versteht oder gar kennt und mit der man sich nicht identifizieren möchte? In sechs Wochen sind sechs Episoden zu den Themen Pünktlichkeit, Konflikte, Verantwortung, Verhalten, Schulklima und Diskriminierung in unterschiedlichen Filmformaten entstanden, um diese in einer überzeugenden und für die Schüler_innen, verständlichen Sprache und Ästhetik zu vermitteln. "RESPECT!" ist ein Spielfilm über die Regeln des Zusammenlebens.

Schule innen. Ein Jugendlicher bietet heimlich diverse "Waren" an wie Eddingstifte und Waffen. Ein zweiter kauft ihm ein Messer ab. Streit entsteht, die Waffen kommen ins Spiel, Cut. Text: Waffen und andere Gegenstände, durch die jemand verletzt werden kann, sind in der Schule verboten.

Schule außen. Ein junger Moderator lädt uns ein, ihm zu folgen, um zu sehen, was zum Thema "Konflikte" in der Schule so alles los ist: Cybermobbing, Diebstahl, Tags à la "Murat, du Schwanz". Murat, das Mobbingopfer, steigt im 4. Stock aufs Fensterbrett, Black. Offenes Ende. Dann Schüler_innen-Interviews, kritische Beiträge zum Thema Konflikte.7

Vorspann

Anja Scheffer, Regisseurin: Warum der Film? Was war ganz am Anfang das Ziel, die Vision, die Hoffnung, die man hat aufgrund einer tollen Idee?

Silke Ballath, Kulturagentin: Am Anfang wurde deutlich, dass es nicht leicht sein würde, die Lehrer_innen davon zu überzeugen, dass kulturelle Bildung einen Anlass bieten könnte, anders über Schule und Lernen nachzudenken.

Anja Scheffer, Regisseurin: Mit Sebastian Grobler und Dan Harder holten wir Profis von außen mit einem Background aus Kino/Fernsehen/Werbefilm/Musikvideo. Unsere Strategie war, alle Akteur_innen der Schule anzustecken, zu zeigen, was man so alles mit Kultur an Schule reißen kann. Einmal die Kids dieser Schule chic gemacht und stolz über den roten Teppich laufen sehen, wie auf der Berlinale, das war mein persönlicher Wunsch. Gleichzeitig wollten wir für die Schule eine Art Imagefilm machen. Und zeigen, dass diese Schüler_innen, die kein sehr hohes Ansehen genießen, durchaus etwas mitzuteilen haben. Die Umsetzung der Schulordnung – in der Schülerschaft weder wirklich bekannt, noch akzeptiert – war die einzige Möglichkeit, die Lehrerschaft für den Film zu gewinnen. Gleichzeitig war das natürlich nicht gerade der Stoff, für den die Kids brannten, dazu war er zu negativ belegt. Kritisches Befassen mit einer Schulordnung und ihrer Sprache und eine neue Form dafür finden, ansprechend und für junge Leute, das war eine große Herausforderung.

Silke Ballath, Kulturagentin: Ich erhoffte mir, dass durch den Film eine Energie, ein Gemeinschaftsgefühl, ein Wille zum Visionieren in der Schule ankommen würde. Ich wünschte mir, dass ein Ruck durch das Kollegium gehen würde, weil sie sehen würden, welche Potenziale in den Schüler_innen schlummerten, und dass die Euphorie, die mit einer Premiere in einem "echten" Kino freigesetzt werden würde, ihnen die Kraft geben würde, Schule anders oder neu zu denken.

Episode 1: Was war

Markus Schega, Schulleiter Nürtingen-Grundschule: Das Vorgängerprojekt an der Nürtingen-Grundschule: Kinder haben im Wechselspiel zwischen Klassenkonferenzen und Schülerparlament zehn Schulregeln entwickelt und dann mit Anja Scheffer verfilmt. "Fair sein!" ist zum Unterrichtsmaterial für die Gewaltprävention geworden und wird seither systematisch genutzt und von Klassen angeschaut und analysiert: Wie verändern sich die Gesichter in den Szenen und warum? Welche Alternativen gäbe es? Spielt sie vor! Welche typischen Rollenstereotype und Handlungsmuster kommen in einem Mobbingfall vor? Dieses Vorgehen ist wirksam und nachhaltig: Gewalt, Mobbing, Unfallzahlen und Regelverstöße haben deutlich abgenommen. Kann man diesen Erfolg übertragen?

Fatma Bektas, Sozialpädagogin Refik-Veseli-Schule: Das Kulturagentenprogramm wurde vorab innerhalb der Schule nicht richtig kommuniziert und entsprechend nicht wirklich von den Erwachsenen angenommen. Projekte waren für viele Lehrer nicht mehr als eine Gelegenheit, einige schwierige Schüler loszuwerden, also als Entlastung.

Oliver Tempel, ehemaliger Sozialpädagoge Refik-Veseli-Schule: Umgang mit Respektlosigkeit: Eine x-beliebige Konferenz: Kollegin X, Kollege Y beklagen sich über die aktuellen Regelverstöße der SchülerInnen, das Nichtkennen der Hausordnung, das Fehlen von Konsequenzen, kurzum, die Abwesenheit jeglichen Respekts. Ewig gleiche Litanei, sozialpädagogische Konterattacke, keine Zeit, es auszudiskutieren, Verschieben auf einen zukünftigen Tag, nächster Tagespunkt. Und der Film? Über eben diesen Respekt, über die Hausordnung, die Regeln des Zusammenlebens? Schlummert selig in einem Karton im Keller.

Fatma Bektas, Sozialpädagogin Refik-Veseli-Schule: Die Jugendlichen waren begeistert, aber die Erwachsenen haben das Projekt nicht so ernst genommen, da zu viele Projekte in der Schule stattfanden, sodass es für die Erwachsenen nicht immer einfach war, die Orientierung zu behalten. Ein Problem ist, dass die Kulturarbeit in den Klassen nicht aufgegriffen wird, entsprechend erfahren alle Beteiligten zu wenig Wertschätzung.

Oliver Tempel, ehemaliger Sozialpädagoge Refik-Veseli-Schule: Der Film ist eine Verlegenheitslösung. Auf einer erweiterten Schulleitungssitzung, auf der es um das Kulturagentenprogramm ging, wurde festgestellt, dass die Schule noch nicht wirklich in die Projektphase des aktiven Tuns gelangt ist. Neben diversen anderen Überlegungen gab es den Vorschlag, es der Nürtingen-Grundschule gleichzutun und einen Film über die Regeln des Zusammenlebens und -arbeitens an der Schule zu machen. Niemand sprach wirklich dagegen, und so entstand dieser Film.

Episode 2: Was ist

Andreas Päpke, Kulturbeauftragter: Die leuchtenden Augen der Schüler habe ich nicht vergessen, als es mit der Produktion des Films "RESPECT!" losging. Aufgeregt waren sie beim Casting, glücklich darüber, beim Film mitmachen zu dürfen und enthusiastisch beim Einbringen ihrer Ideen für die Verfilmung unserer Schulregeln. Mit echten Profis arbeiten zu dürfen, gestandene Künstler, die es in ihrer Branche schon weit gebracht haben, war für uns alle ein Gewinn und hat sehr viel Spaß gemacht.

Oliver Tempel, ehemaliger Sozialpädagoge Refik-Veseli-Schule: Großes Casting. 80 SchülerInnen stellen sich vor für ein Projekt, von dessen Wichtigkeit alle verantwortlich Beteiligten überzeugt sind. "RESPECT!", ein Film, der die Schulregeln in den Blick nimmt und diese den SchülerInnen nahebringen soll. Er tut dies auf eine jugendgerechte Weise, mit Ironie, einem Augenzwinkern, frech, manchmal respektlos, in jedem Fall sehr ambitioniert und mit beeindruckenden neu entdeckten schauspielerischen Qualitäten. Die technische Umsetzung ist gut, für Kamera, Ton, Licht und Filmmusik sind neben den Profis auch SchülerInnen verantwortlich. Am Ende dieses Projektes, bei dem den beteiligten SchülerInnen aller Jahrgangsstufen enorm viel abverlangt wurde (bei dem sie enorm viel lernten), stand ein Film in Kinoformat und -qualität. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Film in den Jahrgangsteams oder auch in der erweiterten Schulleitung und Gesamtkonferenz fehlte.

Anja Scheffer, Regisseurin: Der Film war ein spannendes Projekt. Sehr emotional dann die Premiere im Eiszeit-Kino. Ergriffenheit, strahlende und dankbare Schüler_innen auf der Bühne, die Lehrer_innen voller Stolz. Es wehte ein energetischer, frischer Wind durch die Schule, elektrisierend, euphorisierend. Man hatte das Gefühl, jetzt haben wir es geschafft. Jetzt haben alle gesehen, was so möglich ist mit einem Kulturprojekt … doch dann die Ernüchterung.

Oliver Tempel, ehemaliger Sozialpädagoge Refik-Veseli-Schule: Die Premiere hatte alles, was eine "Welturaufführung" brauchte, nämlich geladene wichtige Gäste. Presse, Fotografen, Conferenciers und ein Publikum, welches tatsächlich die exakte Zielgruppe darstellte, nämlich alle SchülerInnen der Schule. Ein guter Start für einen Film, mit dem ab jetzt gearbeitet werden sollte. Ende gut – alles gut? Mitnichten. Ein weiteres Produkt der Schule entstand, welches auf dem Müllhaufen aus Bequemlichkeit, Ignoranz und Überarbeitung landete.

Anja Scheffer, Regisseurin: Der Grundschulleiter Markus Schega schlug vor, den Film allen Kindern der 4. bis 6. Klassen seiner Schule zu zeigen. Skeptische Stimmen im Kollegium der Refik-Veseli wurden laut. Was werden die Leute denken von unserer Schule? Was werden wir als Schule für einen Eindruck machen, wenn andere diesen Film sehen? Wird das die Grundschüler_innen abschrecken? Waffen kommen vor, Zigaretten, Gewalt. Naja, … das sind eben alles Geschichten von den Schüler_innen, so wollten sie ihre Schulordnung darstellen.

Silke Ballath, Kulturagentin: Ich habe trotzdem den Eindruck, der Film war eine Art Türöffner. Dass wir danach ein Theaterprofil entwickeln konnten und es sogar ins Schulprogramm aufgenommen ist … – wow, das ist ein Erfolg, finde ich! Gleichzeitig frage ich mich natürlich auch: "Aber warum arbeiten sie denn nicht mit dem Filmmaterial?"

Markus Schega, Schulleiter Nürtingen-Grundschule: Kann man den Erfolg von "Fair Sein!" auf die Refik-Veseli-Schule übertragen? "RESPECT!" ist sehr gelungen. Es ist eindeutig, dass der Film in der Schule gedreht wurde, teilweise wird eine spielerische Distanz durch moderative Figuren erzeugt (Moderator, Interviews). Die Ernsthaftigkeit der gewählten Regelverstöße wird auch hier lustvoll gebrochen.

A.B., Lehrerin Refik-Veseli-Schule: Die Schüler/innen der Klasse haben sich amüsiert, weil sie die Schauspieler/innen kannten und waren eher damit beschäftigt, als sich inhaltlich zu konzentrieren und so haben sie kaum etwas wiedergeben können.

Karl-Heinz Reus, Lehrer Nürtingen-Grundschule sowie zukünftig Refik-Veseli-Schule: Für mich ist der Film ein gutes Unterrichtsmaterial. Er ist realitätsnah und motivierend, die Jugendlichen sind mit den besprochenen Sachverhalten vertraut und der Film regt zum Gespräch und zur Auseinandersetzung an. Er ist sehr konkret und bezieht sich auf wesentliche Punkte des Zusammenlebens an der Schule. Er bildet auch den Versuch ab, das Zusammenleben und das gemeinsame Arbeiten von Menschen auf dem Wege von Regulierung und Verordnung zu regeln.

Sebastian Grobler, Regisseur: Man sollte doch beachten, dass die Figuren und Geschichten von den Schülern selbst stammen. So sehen sie ihren Schulalltag. Was leider wohl nicht genug auffällt: die starken moralischen Statements in den Interviews und dass die Schüler die Geschichten gut ausgehen lassen. Lösungen können also gefunden werden!

A.B., Lehrerin Refik-Veseli-Schule: Die Szene mit den Waffen wurde im Kollegenkreis kritisiert, denn so etwas gäbe es nicht und man würde die Schüler/innen ermuntern, solche mitzubringen.

Episode 3: Was sein könnte

Markus Schega, Schulleiter Nürtingen-Grundschule: Die Szenen sind sehr geeignet, um die Themen Mobbing, Vandalismus, Diebstahl und Gewalt zu bearbeiten. Die schauspielerische Leistung der Schüler ist gut, der Film bekam bei öffentlichen Vorführungen viel Applaus. Die Schauspieler könnten Mitschüler-innen als Botschafter der Fairness ihren Film zeigen und Handlungsalternativen spielerisch entwickeln.

Fatma Bektas, Sozialpädagogin Refik-Veseli-Schule: Man kann im Alltag ganz viel auf den Film zurückgreifen. Er kann sehr gut bei der Einübung der Schulregeln angewendet werden. Man kann in Klassenratsstunden ein Schuljahr lang mit kurzen Sequenzen aus dem Film arbeiten, sodass die Regeln von allen Schülerinnen und Schüler angenommen werden. Aus meiner Erfahrung lernen die Schülerinnen und Schülern am besten durch Prozesse und Wiederholungen. Es fehlt das Prozessdenken der Erwachsenen.

Karl-Heinz Reus, Lehrer Nürtingen-Grundschule sowie zukünftig an der Refik-Veseli-Schule: Meine Zielvorstellung wäre es, Prinzipien wie Übernahme von Verantwortung, Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Persönlichkeitsentwicklung, Selbstverantwortung, Empowerment, Identifikation in den Vordergrund zu stellen, um diese langfristig und nachhaltig zu entwickeln.

Oliver Tempel, ehemaliger Sozialpädagoge Refik-Veseli-Schule: Dass mit dem Film gearbeitet werden sollte, geriet schnell in Vergessenheit. Das Projekt schien zu Ende, die LehrerInnen froh, mal wieder ungestört Unterricht machen zu können. Um den Prozess am Laufen zu halten, gab es eine Vorführung für das Kollegium mit Diskussion über den Umgang damit, die jedoch nur einen Teil der Lehrerschaft erreichte. Dem Film wurde eher ein geringer Stellenwert zugemessen, man ging zur Tagesordnung über. Die Film-DVDs, die auch zum Verkauf angeboten wurden, wanderten in den Keller.

Silke Ballath, Kulturagentin: Als wir den Lehrerworkshop zum Film gemacht haben, sind wirklich tolle Ideen entstanden, aber der Grundtenor war: "Woher die Zeit nehmen?"

Markus Schega, Schulleiter Nürtingen-Grundschule: Einige Lehrer_innen fürchteten um den Ruf der Schule.

Episode 4: Warum Schublade? Mutmaßungen

A.B., Lehrerin Refik-Veseli-Schule: Ich denke, dass viele Lehrer Angst haben vor der Wahrheit, und die Rektoren wollen ihre Schule im besten Licht sehen und haben auch Schiss vor der Realität.

Sebastian Grobler, Regisseur: Der Film ist vielleicht deshalb in der Schublade gelandet, weil er zu wenig unseren Denk-Schubladen entspricht: Mit großer Lust werden Grenzübertritte und Gewalt gezeigt. Offenbar gehören diese Sachen nicht nur zum Schulalltag, sondern sie üben auch einen großen Reiz aus. Das entspricht natürlich so gar nicht dem Idealbild einer Schule. Muss man denn all diese schlimmen Dinge zeigen? Ja, denn es soll ja erklärt werden, was die Probleme des Zusammenlebens sind und warum es dafür Regeln bedarf. Außerdem gibt es die Probleme ja in der Realität auch.

Taha und Mehmet, Schüler: Die Lehrer wissen nichts anzufangen mit dem Film. Sie wollen nicht damit arbeiten, weil sie nicht mit Schülern arbeiten wollen, die generell keine Lust auf Arbeiten haben. Sie würden sowieso sagen, es bringt nichts bei den Schülern. Außerdem mögen manche Lehrer das Projekt nicht, weil es unbequem ist, zum Beispiel der Dreh in der Turnhalle, wo sie doch selber in die Räume wollen. Oder wenn Schüler fehlen und sie eine Arbeit schreiben möchten. Ich finde, die härteste Szene im Film ist "Konflikte". Wo der Junge aus dem Fenster springen will, aber sie ist nicht zu hart. Da kann man lernen, was passieren kann bei Mobbing. Die Lehrer bringen uns die Schulordnung bei, indem sie schreien. Nur die jungen nicht, die sind konsequent. Was haben wir gelernt? Dass man zum Beispiel sieht, was bei Mobbing passieren kann oder wie man in bestimmten Situationen handeln muss. Und es hat allen Spaß gemacht. Auch im Kino, da waren auch viele Gäste von außen.

Oliver Tempel, ehemaliger Sozialpädagoge Refik-Veseli-Schule: Man kann trefflich spekulieren, warum einem "coolen" Projektergebnis keine Chance eingeräumt wird, vor allem, wo sich doch fast jede KollegIn auf das Bitterste über die im Film angesprochenen Regelverstöße beklagt oder ärgert. Hier einige meiner Mutmaßungen: Tausend und eine Veränderung in der Schule, tausend und ein Projekt lassen keinen Raum mehr für anderes. Neue Schulleitung, also: erstmal abwarten, was deren Werte und Regeln so sind. Respektloses Verhalten und Regelverstöße der KollegInnen selbst. Kein Interesse an einer Auseinandersetzung mit den SchülerInnen. Der Film gefällt nicht. Es wird nicht mehr pädagogisch gearbeitet, und die soziale Prävention hat an Stellenwert verloren.

Sebastian Grobler, Regisseur: Durch Spiel wird radikales Verhalten ausgelebt. Das ist aber schon der erste Schritt der Veränderung. "Der Gangster, das bin nicht ich, ich spiele doch nur eine Rolle", sagte einer der Schüler, die im Film mitgespielt haben, bei einer Vorführung. Ob er das vor dem Film schon so gesagt hätte? Die Authentizität, den Mut, die Power, die Coolness, das Selbstbewusstsein der Schüler im Film finde ich nach wie vor sehr beeindruckend und sympathisch. Kann es sein, dass Schüler den Film mehr mögen als Lehrer?

Andreas Päpke, Kulturbeauftragter: Warum der Film letztlich in der Schublade gelandet ist und heute nicht oder nur selten gezeigt wird … schwierige Frage. Ich denke, dass er die Sichtweisen und Ideen der Schüler zum Thema Schulregeln aufgenommen hat, die der Lehrer, der mit ihnen "arbeiten sollten", allerdings außen vor lässt. Es wurde zwar eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die Material erstellen und uns Lehrern den Einsatz im Unterricht erleichtern sollte. Meines Wissens hat sie aber nichts fertig gestellt. Schade. Einige Szenen sehe ich mir auch heute noch gerne an.

Dr. Ulrike Becker, Schulleiterin: Ich bin seit Sommer 2013 an der Schule tätig und habe den Film mit Begeisterung angeschaut. Ich finde ihn sehr gelungen und er liefert viele Möglichkeiten, in im Unterricht und in der Sozialarbeit einzusetzen. Ich war am Entstehungs- und Verbreitungsprozess nicht beteiligt und weiß daher auch nicht, weshalb er weder im Unterricht noch in der Sozialarbeit eingesetzt wurde und wird. Nachfragen habe ich entnommen, dass der Film für viele als wichtiges Projekt wahrgenommen wurde, dass die Filmpremiere im Eiszeitkino, ähnlich wie eine Theaterpremiere, der Abschluss war.

Epilog

Sebastian Grobler, Regisseur: Es gehört zum Wesen von Filmen, dass sie für eine kurze Zeitspanne ein großes Erlebnis und Tagesgespräch sind, irgendwann aber komplett verschwinden. Auch in Schubladen. Wenn der Film ein "Klassiker" ist, wird er zu besonderen Gelegenheiten von einigen wenigen Verehrern herausgeholt und mit Liebe betrachtet.

Markus Schega, Schulleiter Nürtingen-Grundschule: Verdient er nicht mehr Respekt, indem er gezeigt und öffentlich diskutiert wird?

Karl-Heinz Reus, Lehrer Nürtingen-Grundschule sowie zukünftig an der Refik-Veseli-Schule: Warum werde ich im nächsten Jahr damit arbeiten?
Wir werden über den Film ins Gespräch kommen.

Wir werden unsere Sicht auf den Umgang mit Regeln entwickeln und darstellen.
Wir werden uns mit dem Sinn und Unsinn von Regeln befassen.
Wir werden Wünsche und Vorstellungen formulieren.
Wir werden überlegen, ob wir Regeln brauchen und welche.
Wir werden überlegen, welche Regeln bislang an der Schule für wichtig gehalten werden, ob alle gebraucht werden und ob sie gut formuliert sind.
Wir werden überlegen, wie die Regelungen zustande gekommen sind und auf welchem Wege Regeln geändert werden könnten.
Wir werden uns überlegen, welche Regeln eine "Traumschule" braucht.

Oliver Tempel, ehemaliger Sozialpädagoge Refik-Veseli-Schule: Das Charakteristikum einer Schublade ist, dass die Dinge, die dort aufbewahrt werden, gut aufgehoben sind. Geschützt vor Staub und fremden Blicken kann so ein Aufenthalt schon mal Jahre dauern. Aber die Schublade wird irgendwann mal wieder geöffnet, die staubige DVD vom Prinzen geküsst, und dann erinnert man sich an diesen tollen Film und fragt sich irritiert, warum man damals nicht …

Sebastian Grobler, Regisseur: Man sollte den Film doch wieder aus der Schublade holen. Und darüber sprechen, wie Schule ist und wie sie sein könnte.

Abspann

mit

Anja Scheffer, Schauspielerin/Regisseurin

Silke Ballath, Kulturagentin

Sebastian Grobler, Regisseur

Fatma Bektas, Sozialpädagogin der Refik-Veseli-Schule

Oliver Tempel, ehemaliger Sozialpädagoge der Refik-Veseli-Schule

Taha und Mehmet, Schüler der Refik-Veseli-Schule

Markus Schega, Schulleiter der Nürtingen-Grundschule

A.B., Lehrerin der Refik-Veseli-Schule

Karl-Heinz Reus, Lehrer der Nürtingen-Grundschule zukünftig Refik-Veseli-Schule

1 Eine Anmerkung zur Schreibweise in diesem Artikel: Es bestehen viele Möglichkeiten der Indikation von Geschlechtervielfalt in der Schriftsprache. Die Autor_innen des vorliegenden Textes bevorzugen die Verwendung des Unterstrichs, der gerade durch die Unterbrechung von Substantiven performative Hinweise auf real existierende Geschlechtervarianz jenseits von Männlichkeiten und Weiblichkeiten produziert. Die "Erschwerung" der Lektüre durch diese Unterbrechung ist insofern intendiert. Dennoch tauchen in diesem Artikel unterschiedliche Schreibweisen aller existierenden Geschlechtervarianten auf; dies ist erwünscht, da jede Interviewte ihre Form nutzt und an diesem Beispiel die Vielperspektivität, Varianz, aber auch die Haltung der Sprechenden in Bezug auf existierende Diskurse sichtbar wird. Wir möchten darauf aufmerksam machen, dass sie ein Indikator dafür sind, dass Aushandlungen Teil dieser Prozesse im Bereich kultureller Bildung sind und Vorannahmen miteinander diskutiert werden müssen um diese Präkonzepte MITEINANDER zu hinterfragen und nicht als gegeben zu betrachten.

2 FAIR SEIN! –10 Regeln von Kindern für Kinder, 2012.

3 Die Hausordnung wurde mit dem Schulleiter_innenwechsel Beginn 2014 überarbeitet.

4 Eine Zusammenkunft aller Schüler_innen, Lehrer_innen und Sozialarbeiter_innen und anderen jeden Mittwochmorgen in der Aula zu einem Thema beispielsweise Film mit Schüler_innenmoderation.

5 Im Schuljahr 2013/14 hatte gerade ein Schulleiter_innenwechsel stattgefunden, die Schule orientierte sich gemeinsam neu. Im Kollegium wurden Aufgaben neu verteilt, das Schulprogramm wurde umgeschrieben, unter anderem fiel die AG RESPECT! in diese Neustrukturierung. Um ein Patenprogramm zu etablieren, wäre es notwendig gewesen, einen Rückhalt sowie eine Identifikation mit diesem Projekt beispielsweise in Form von Ansprechpartner_innen, Fürsprecher_innen, Verantwortlichen aus dem Kollegium für die AG zu haben. Die AG wurde als Experiment toleriert, die Schulleitung hatte jedoch keine Ressourcen, sich weiterführend für die AG einzusetzen.

6 Auszüge aus der ehemaligen Schulordnung der Refik-Veseli-Schule

7 Szenenbeschreibungen aus dem Filmprojekt "RESPECT!", die von uns ausgewählt wurden, weil sie ausschlaggebend dafür sind, warum im Kollegium der Refik-Veseli-Schule Befürchtungen entstanden (negatives Image der Schule wird reproduziert, gewaltfreie vs. gewaltverherrlichende Schule und andere) den Film öffentlich zu zeigen. Sie sind gegebenenfalls auch ausschlaggebend dafür, warum der Film in der Schublade liegt. Gleichzeitig wurde er öffentlich in der Nürtingen Grundschule gezeigt, wo Schüler_innen der Refik-Veseli-Schule die Präsentation moderierten, das Image der Schule wurde nicht, wie befürchtet, ins Negative gezogen, der reflektierte Umgang der Schüler_innen der Refik-Veseli-Schule mit dem Filmmaterial verhalf dazu eine interessante Diskussion über Gewalt, Drogen und anderes zu führen.