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Die Wochenwand
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Das OSZ Marcel Breuer in Berlin Weißensee ist ein Oberstufenzentrum für Holz-, Glastechnik und Design, das momentan von 2.108 Schülerinnen und Schülern besucht wird. Der Schulcampus ist in ein zentrales Hauptgebäude, in dem sich die Schulmensa befindet, in ein Laborgebäude und eine Außenstelle in der Driesener Straße im Bezirk Pankow unterteilt. Der jetzige Standort wurde 2008 bezogen. Alle drei hochmodernen Gebäudeteile werden mit der Martin-Wagner-Schule (OSZ Bautechnik II) geteilt. Die Schule beschreibt sich selbst wie folgt: "Wir verfügen über eine der modernsten Ausstattungen in den Werkstätten, Laboren und Unterrichtsräumen, die es derzeit in Berlin an Oberstufenzentren gibt. Die Architektur am Standort Gustav-Adolf-Straße ist modern und lichtdurchflutet. Außen ist sie durch rötliches Sichtmauerwerk und grüngraue Betoneinfassungen der Eichenholzfenster gekennzeichnet. Im Inneren dominieren schwarzer Gussasphalt auf dem Boden, grauer Sichtbeton und Eichenholztüren. Insgesamt wird von allen Beteiligten die Architektur des neuen Standortes als freundlich empfunden. Zu diesem Eindruck trägt wesentlich auch die großzügige Verteilung der Gebäudeteile über den gesamten Schulcampus bei. Eine große Schulkantine und ein Schüleraufenthaltsbereich mit Internetnutzung bilden zentrale Anlaufpunkte für die Schülerschaft."1
Dort in der Mensa ist die künstlerische Aktion "Wochenwand" angesiedelt. Die Mensa ist ein zentraler Ort der Kommunikation, des informellen Austauschs und für alle Besucherinnen und Besucher der Schule zugänglich.
Foto: Eva Randelzhofer
Foto: Eva Randelzhofer
Foto: Eva Randelzhofer
Die Umsetzung der Wochenwand war eingebettet in das Kunstgeldprojekt "Innenschau" des Kulturagentenprogramms. Ziel dieses Projekts war es, mit interdisziplinären künstlerischen Formaten der Kommunikation und Präsentation innerschulisch zu experimentieren und Praxiserfahrung zu sammeln, diese auszuwerten und zu reflektieren. Die Ergebnisse sind dabei in weitere Projektplanungen und in den Kulturfahrplan der Schule eingeflossen. So zum Beispiel die Erkenntnis, dass bestimmte Rahmen erforderlich sind, um Partizipation der Schulakteure überhaupt anzuregen. Auch das Scheitern eines schulinternen Ideenwettbewerbs gehörte als Lernprozess dazu: Die Teilnahme war freiwillig, alle Schulbesucher konnten teilnehmen, aber es wurden nur wenige Beiträge eingereicht. Die Konsequenz war, andere Zugänge zu schaffen. Für das darauf folgende Kunstgeldprojekt "Dreidimensional", in dem die Künstlerin Folke Köbberling ein partizipatives Bauvorhaben realisierte, wurde beispielsweise versucht, den Schülerinnen und Schülern einen breiteren Zugang zu ermöglichen. Es wurden daher ganze Schulklassen zu den Workshops eingeladen und darüber hinaus Workshops für die Lehrerschaft und Leitungsrunde angeboten. Zudem fanden in einem dialogischen Prinzip mit allen Gruppen Auswertungen statt, die dann in die Umsetzung des Bauvorhabens einflossen. So wurden über künstlerische Impulse Struktur schaffende Prozesse innerhalb der Schule angeregt.
Die Wochenwand
Ziel der Wochenwand war es, ein Dialogfenster zu entwickeln, das über den künstlerischen Ausdruck einen Raum für Kommunikation und neue Rituale und Knotenpunkte im Schulgebäude erzeugt. Die Idee der Wochenwand wurde von der Kulturagentin entwickelt. Die Umsetzung und Planung war aber nur durch die gelungene Zusammenarbeit mit der Künstlerin Ellen Nonnenmacher, der Kulturbeauftragten Rahel Böhlke und der Schulleitung möglich.
Was war der Ausgangspunkt für die Entwicklung des Kommunikationsformats "Die Wochenwand"? Wenn man das OSZ Marcel-Breuer zum ersten Mal betritt, hat man zunächst das Gefühl, dass es dort schon alles gibt. Das Innendesign der Schule wirkt sehr ausformuliert und lässt nur wenig Freiraum für Undefiniertes. Mit der Wochenwand sollte eine Rahmung, ein Fenster für Unvorhergesehenes geschaffen werden, in dem sich die Sprache der Schülerinnen und Schüler als klare Setzung gegenüber der starken Architektur behaupten kann. Die Kommunikation wird dabei als temporäre Setzung, als Zeichen in der Architektur sichtbar. Die Mensa war als Forum dafür prädestiniert. So wie die Wand dort ausgerichtet ist, gibt es einen formalen Bezug zur vorhandenen Kunst am Bau. Angepasst ist die Wochenwand in der Größe und in der parallelen Ausrichtung im Grundriss an die Wandgestaltung des Künstlerduos Dellbrügge & Demoll "Wer einen Stuhl bauen kann, kann auch eine Stadt bauen". Partizipation wird dadurch repräsentativ.
Um das Beteiligungsformat "Wochenwand" langfristig zu etablieren, entwickelte die Künstlerin Ellen Nonnenmacher zusammen mit einzelnen Klassen methodisch Wandimprovisationen.
Foto: Eva Randelzhofer
Foto: Eva Randelzhofer
Foto: Eva Randelzhofer
Foto: Eva Randelzhofer
Foto: Eva Randelzhofer
Foto: Eva Randelzhofer
Die Wochenwand wurde aus Spanplatten gebaut, die von einem Ausstellungsabriss aus dem Haus der Kulturen der Welt stammen. Die erste Aktion zeigte die noch rohe Wochenwand aus benutzten, mit Arbeitsspuren versehenen Spanplatten und setzte sich damit über herrschende Gestaltungs- und Wertevorstellungen sowie über unausgesprochene Haltungen zur ästhetischen und handwerklichen Perfektion hinweg. Das löste sowohl in der Schulleitungsrunde – ein Gremium, in dem der Schulleiter, seine Stellvertreterin, drei Abteilungsleiter und deren Koordinatoren das Schulgeschehen steuern –, in der Lehrerschaft und auch unter den Schülerinnen und Schülern kontroverse Auseinandersetzungen aus. Diese wurden über die gestalterischen Prozesse ausgetragen und sichtbar. Ebenso verkörpert die Wand in ihrem rotzigen, selbstgemachten und improvisiert wirkenden Duktus einen größtmöglichen ästhetischen Kontrast zum Schulgebäude.
Seit 2012 gestalten Schülerinnen und Schüler regelmäßig die drei Meter hohe und sechs Meter breite Wand an diesem zentralen und repräsentativen Ort. Auf der Präsentationsfläche von 18 Quadratmetern sind seither wechselnde Wandgestaltungen und Installationen zu sehen, die von Klassen, Gruppen oder auch einzelnen Schülerinnen und Schülern – analog zu Facebook – "gepostet" werden.
Die Marcel-Breuer-Schule pflegt innerhalb der einzelnen Bildungsgänge eine nach außen gut vernetzte Projektkultur vor allem in der Sparte der angewandten Kunst. Das besondere Schulprofil bot daher für die Wochenwand bereits eine Vielzahl von gestalterischen Praxisprojekten im regulären Unterricht auf hohem Niveau. In der Zusammenarbeit mit den schon vorhandenen Kooperationspartnern werden eher klassische Gestaltungsfragen bearbeitet, die aus dem Kontext der Kulturinstitution kommen. Themen, die von einzelnen Schülerinnen und Schülern selbst gesetzt werden, kommen aus deren Lebenswelt. Einzelne haben auch für sie wichtige politische Statements hinterlassen. Die architektonische Intervention und die Vielfalt der wechselnden Gestaltungen eröffneten in der Schule einen lebendigen Dialog. Dadurch wurde eine Bühne geschaffen, die einen Raum für Kommunikation und Beteiligung zulässt.
Foto: Eva Randelzhofer
Die Künstlerin Ellen Nonnenmacher2 erklärte dazu: "Ein partizipatives Format an einer Ausbildungsstätte für Design stellt besondere Herausforderungen: Design bedeutet, eine ,ganze", also in sich stimmige und damit notwendigerweise geschlossene, Form zu finden. Ziel ist es, ein Produkt zu schaffen, das in Details und Gesamteindruck durchdacht und kohärent wirkt. Damit einher geht der Anspruch der Perfektionierung von Form und Funktionalität. Schritt für Schritt wird ein Regelwerk definiert, das die Form bestimmt und dabei alle anderen möglichen Formen verwirft und ausschließt. Im Laufe dieses Prozesses nimmt die Möglichkeit zur Partizipation mehr und mehr ab. Die Ansprüche an Design werden weitgehend von einem ,Außen" bestimmt: Historische Bezüge, gestalterische Grundlagen, Materialgerechtigkeit und in gewissem Umfang auch Trendsetzungen werden als gesetzt aufgefasst und müssen in der Ausbildung nachvollzogen werden. Eigene Kreationen sollen diesen Bedingungen entsprechen. Am Ende, wenn das Produkt präsentiert wird, bleibt den Betrachterinnen und Betrachtern nur zu beurteilen, inwieweit das Produkt diesen Ansprüchen genügt oder nicht.
Partizipation jedoch erfordert Anknüpfungspunkte oder noch besser offene Angriffsflächen für die Teilhabenden. Teilhabe an einem fertigen Produkt erschöpft sich im ,Facebook-Like-It" – einem Urteil. Wirkliche Mitwirkung ist nicht möglich. Teilhabe erfordert etwas noch-nicht-Fertiges, nicht Ausformuliertes, etwas, bei dem man eben tatsächlich mitmachen kann. Teilhabe heißt auch, dass das Ziel nicht vorgegeben ist, sondern – wenn es denn eines geben muss – von allen Teilhabenden formuliert wird.
Praktizierte Partizipation stört zunächst den zielorientierten Designprozess, schlimmstenfalls gibt es kein Produkt, nur in Teilen stimmige, sich widersprechende Produkte oder schlicht ein hässliches Produkt. So gesehen, wäre partizipatives Design die Quadratur des Kreises, ein Widerspruch, der als solcher künstlerisches Interesse weckt."
Foto: Eva Randelzhofer
Wir haben Schülerinnen und Schüler der Schülerfirma "ickeDESIGN" und Autoren der Wochenwand "Freiheit kennt keine Grenzen" zu ihrer Wochenwandgestaltung befragt.
Schüler 1: "Es bestand die Möglichkeit, dass wir das machen können. Dann haben wir Vorschläge zusammengetragen."
Eva Randelzhofer: "Habt ihr das demokratisch entschieden?"
Schüler 1: "Ja, als Klasse."
Eva Randelzhofer: "Wer hat dann den Entwurf auf die Wand gebracht?"
Schüler 1: "Da haben sich Freiwillige gefunden."
Eva Randelzhofer: "Ist das ein besonderer Kick, drei mal sechs Meter zu gestalten? Das ist doch eine Herausforderung, oder? Wie findet ihr das Format?"
Schüler 1: "Gut auf jeden Fall, weil es nochmals eine Fläche für eine Meinung bietet. Die Schule ist an sich sehr anonym im Gebäude, und so gibt es hier ein bisschen Würze. Irgendetwas, wo man sich verändert, wo Dynamik darin ist."
Schüler 2: "Die Wände davor waren eher bunte und positive Bilder. Dann haben wir uns gedacht, wir machen etwas Ernstes. Auf der ganzen Welt gibt es Probleme mit Freiheit. Wir wollten, dass die Leute mal raffen, wie gut es uns hier mit unserer eingeschränkten Freiheit geht."
Foto: Eva Randelzhofer
Foto: Eva Randelzhofer
Die Frage, welche Struktur schaffenden Impulse durch die Wochenwand für die Schulentwicklung gegeben wurden, beantwortet die Kulturbeauftragte und Lehrerin Rahel Boehlke: "Nach mehreren Anläufen hat sich jetzt endlich ein Team "Kultur" an unserer Schule zusammengefunden. Mitglieder sind Lehrerinnen und Lehrer aus allen Abteilungen, ein motivierter bunter Haufen. Die Zusammenarbeit macht wirklich Spaß. Man hat den Eindruck, einige haben darauf gewartet, dass sich das Team findet. Ins Leben gerufen hat das Team der Schulleiter Holger Sonntag. Derzeit nehmen zwölf Lehrerinnen und Lehrer an den Teamtreffen teil. Das Team hat in der zweiten Sitzung einen Infobrief für das gesamte Kollegium herausgegeben. Mit diesem Infobrief wird nun monatlich über die aktuellen kulturellen Projekte informiert."
Dem Wunsch der Schulleitung, Prozesse der Partizipation unter den Schülerinnen und Schülern anzuregen und sichtbar zu machen, ist man durch die Wochenwand nähergekommen. Die Schülerschaft ist durch die verschiedenen Ausbildungsgänge sehr heterogen. Je nach Ausbildungsgang sind einzelne Klassen nur wochenweise oder tageweise am Hauptstandort. Die Wochenwand schafft nun ein Forum, an dem sich die Schülerinnen und Schüler regelmäßig begegnen können.
Foto: Eva Randelzhofer
Foto: Eva Randelzhofer
Holger Sonntag, Schulleiter: "Wir konnten in den vergangenen Monaten die Steigerung einer gewünschten transparenten gesamtschulischen Auseinandersetzung mit Toleranz und einer Vielfalt bewegender Themen und Ausdrucksformen erkennen. So regte beispielsweise ein künstlerischer Beitrag zu ,sexueller Vielfalt" eine lebhafte und sehr fruchtbare Diskussion auf vielen Ebenen des Schullebens zum Aushalten von Andersartigkeit (als Kern von Toleranz) an. Bei keinem Thema haben wir dabei Zerstörungen an den Installationen der Wochenwand feststellen müssen. Im Gegenteil: Es lässt sich die gesteigerte Bereitschaft zur Nutzung dieser besonderen Kommunikationsplattform erkennen."
Foto: Eva Randelzhofer
Seit 2013 bewältigen Schülerinnen und Schüler sowie Besuchergruppen in Eigeninitiative die Herausforderung der Gestaltung der 18 Quadratmeter großen Wochenwand. Das Format wird von verschiedenen Schülergruppen, Klassen und auch einzelnen Akteuren selbstverwaltet bespielt. Die Aktion Wochenwand hat sich in den Schulalltag etabliert. Sie wird auch nach Ablauf des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen" von der Schüler- und Lehrerschaft bespielt werden.
1 http://marcel-breuer.be.schule.de/ueber-uns/service-1/Schulprogramm%20marcel-breuer-schule.pdf [13.01.2015].
2 Ellen Nonnenmacher studierte Kunst an der HfBK Hamburg, arbeitet als Künstlerin und Grafikerin und seit 2009 auch in Kunstprojekten an Schulen. 2012–13 besuchte sie die Fortbildung "KontextSchule" des Fördervereins Kunst im Kontext der UDK Berlin.