Leonie Krutzinna
Nach dem dritten Satz bitte klatschen! - Die Philharmonie Jena
Leonie Krutzinna

Nach dem dritten Satz bitte klatschen! - Die Philharmonie Jena

Wie die Jenaer Philharmonie Bewegung ins Konzertwesen bringt

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Ein dreiviertel Jahr Vorlauf hat es gebraucht, bis sich Christoph Hilpert, die Geige im Gepäck, auf den Weg in die Lobdeburgschule machen konnte. Für drei Tage verließ der Violinist das altbekannte Terrain am Carl-Zeiß-Platz in Jena. Zum Lehren ist er in die Schule gekommen – gegangen ist er selbst mit einem großen Schatz an Erfahrungen. Das vom Kulturagentenprogramm unterstützte Projekt "Till Eulenspiegel – Eine musikalische Annäherung" war nicht nur für die Kinder der Staatlichen Gemeinschaftsschule Lobdeburgschule eine willkommene Abwechslung, auch das Kammermusik-Ensemble der Philharmonie lernte während der Projekttage viel dazu.

Der Violinist Christoph Hilpert zeigt einem Schüler der Jenaer Lobdeburgschule sein Instrument
Foto: Sandra Werner

Juli 2013. Die Sommerferien stehen vor der Tür. Doch bevor die Kinder des 1. bis 3. Jahrgangs faulenzen, Eis essen und sich im Freibad vergnügen können, gilt es, noch einiges auf die Beine zu stellen. Rund 50 Schülerinnen und Schüler, mehrere Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher und nicht zuletzt die Expertinnen und Experten der Jenaer Philharmonie haben sich ein hohes Ziel gesteckt: Gemeinsam wollen sie knapp zwei Wochen lang Richard Strauß" Adaption für Quintett von "Till Eulenspiegels lustigen Streichen" erarbeiten. Es wird gesungen, getanzt, entworfen, gemalt und vor allem musiziert. Dazu unterstützen an drei von neun Projekttagen die Kammermusikerinnen und -musiker mit Violine, Kontrabass, Klarinette, Horn und Fagott das Schülerensemble. Am Ende der Projekttage begeistert das Schülerkonzert als gelungene Synthese aus Schulunterricht und musikalischer Aufführung, aus kindlicher Spontaneität und professioneller Virtuosität das Publikum.

Es fehlt nicht an Virtuosen, sondern an Vermittlerinnen und Vermittlern

Diese institutionen-, bildungs- und altersübergreifende Zusammenarbeit zielführend zu koordinieren, ist der Schlüssel zum Erfolg eines solchen Projekts. Dazu wurden 2009 die längst bestehenden musikpädagogischen Angebote der Jenaer Philharmonie um den musikpädagogischen Baustein "MusikInteraktiv" ergänzt. Christoph Hilpert erzählt von den Anfängen solcher Schülerprojekte an einer Montessori-Schule: "Damals haben wir "Bilder einer Ausstellung" gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern musikalisch vertont." Doch den Einsatz in der Schule empfand er geradezu als Sprung ins kalte Wasser. "Wir Musiker können Authentizität in ein solches Projekt tragen, aber wir sind keine ausgebildeten Vermittler. Wie man Schüler einbinden kann, wie man sie aktiviert, welche Aufgaben man ihnen stellen kann, das wissen wir nicht", erläutert er.

Hilperts Erfahrung zeigt: Der gute Wille zum Engagement an einer Schule allein reicht nicht aus. Ein Violinist ist ein Virtuose auf seinem Instrument, ein Lehrer oder Musikvermittler ist er damit noch nicht. Doch während in Museen und Theatern die Zusammenarbeit mit Kulturvermittlerinnen und -vermittlern längst etabliert ist und es eigene Abteilungen für Bildung und Kommunikation gibt, sind feste Konzertpädagogikstellen an Konzerthäusern rar.

Auch in der Jenaer Philharmonie fehlen bislang die Mittel für eine eigene konzertpädagogische Stelle. Als größte Kultureinrichtung der Stadt Jena ist die Philharmonie ein Teilbetrieb des Eigenbetriebs JenaKultur. Mit 3,94 Millionen Euro unterstützt die Stadt den Betrieb, weitere 1,4 Millionen Euro erhält er jährlich vom Land. Thüringens größtem Konzertorchester geht es damit besser als manch anderem Konzerthaus in Mitteldeutschland, dennoch ist das Fortbestehen der Einrichtung an eng geschnürte Finanzpläne und das Bemühen um maximale Auslastung gebunden. An eine neue Planstelle im konzertpädagogischen Bereich ist momentan nicht zu denken, trotzdem arbeitet die Philharmonie unter der Intendanz von Bruno Scharnberg daran, dass ihre Musik über die vier Wände des Konzerthauses hinaus erklingt. Zwei Schulbeauftragte wurden von Scharnberg ernannt, einer davon ist Christoph Hilpert. Neben seiner Orchestertätigkeit ist er somit verantwortlich für die Kommunikation zwischen der Philharmonie und den Schulen im Einzugsgebiet von Jena, das sich über den gesamten Saale-Holzland-Kreis erstreckt, von Kahla über Hermsdorf nach Eisenberg.

Musikerinnen und Musiker der Jenaer Philharmonie mit Schülerinnen und Schülern der Lobdeburgschule
Foto: Sandra Werner

"HörProben" und Schulbesuche

Einmal im Jahr lädt die Jenaer Philharmonie interessierte Musiklehrerinnen und Musiklehrer zu einem Treffen ein, um sie über die Musikvermittlungsangebote des Orchesters zu informieren. Dazu gehört beispielsweise das Projekt "HörProbe", eine einstündige konzertpädagogische Veranstaltung mit viel live gespielter Musik des Orchesters. Zudem gibt es für Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen die Möglichkeit, Arbeitsproben und Generalproben zu besuchen. Damit dabei weder für sie noch für die Philharmonie wesentliche finanzielle Zusatzbelastungen entstehen, engagiert sich auch der Förderverein der Jenaer Philharmonie, die Philharmonische Gesellschaft Jena. Im Rahmen des von ihr initiierten Netzwerks "MUSIKmacht schlau" bezuschusst sie nicht nur das Projekt "HörProbe" finanziell, sondern aktiviert selbst weitere Sponsoren, sodass sowohl der Besuch in der "HörProbe" als auch die Fahrt dorthin für die Schülerinnen und Schüler kostenfrei ist.

Doch Hilpert geht es nicht nur darum, ein junges Publikum an das Repertoire der Philharmonie heranzuführen. Er möchte auch seinen Beruf und seinen Arbeitsalltag für Kinder und Jugendliche transparent machen. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen bringt er deshalb die Musik in den Klassenraum. Seit 2003 gibt es die Initiative "Musiker in der Schule", in deren Kontext die Mitglieder kleiner Kammermusik-Ensembles im Schulunterricht ihren Beruf und ihre Instrumente vorstellen. Durch die Erfahrung an der Montessori-Schule wuchs jedoch der Wunsch, nicht nur rezeptive Angebote zu schaffen, sondern "die Schülerinnen und Schüler selbst kreativ tätig werden zu lassen", erläutert Hilpert.

Um diese kreative Tätigkeit bei den Kindern zu entwickeln und zu kanalisieren, wurde Hilpert für das Kulturagentenprojekt in der Lobdeburgschule "Till Eulenspiegel – Eine musikalische Annäherung" eine Konzertpädagogin zur Seite gestellt. Kathrin Bonke ist diplomierte Flötistin und Konzertpädagogin und kennt sich daher nicht nur mit Musik aus, sondern auch damit, wie man Zugänge zu ihr schafft. Vom ersten Zusammentreffen bis zum Abschlusskonzert betreute sie das Till-Eulenspiegel-Projekt gemeinsam mit den beteiligten Lehrkräften und der Kulturagentin Sandra Werner, immer das Ziel im Blick, dass am Ende der neun Tage eine Aufführung entstehen soll.

Schülerinnen und Schüler der Lobdeburgschule beim gemeinsamen Abschlusskonzert mit den Musikerinnen und Musikern der Jenaer Philharmonie
Foto: Sandra Werner

Improvisation statt Beethoven

Die Arbeit mit den jungen Klangforscherinnen und Klangforschern empfand auch Kathrin Bonke als sehr bereichernd. Dennoch muss gerade bei einer solch ergebnisorientierten Projektarbeit die Methodik stimmen: "Wie auch in der Theaterpädagogik arbeiten wir in der Konzertpädagogik sehr stark mit Bildern", erläutert sie. "Wir schaffen Situationen und Spielregeln, setzen Impulse und schauen, was dabei herauskommt. Das ist dann eher keine Beethoven-Sinfonie, aber im improvisatorischen Bereich entstehen tolle Ergebnisse." Musikalische Vorbildung, Kompetenzen wie Notenlesen, Rhythmus- und Harmonieverständnis sind zunächst also nicht vonnöten. Aber Bonke betont: "Natürlich gibt es auch Absprachen: Wer spielt mit wem zusammen, wer spielt wie laut? Und so weiter. Es geht ganz viel ums Hören und darum, sich gegenseitig zuzuhören und wertzuschätzen, was von den anderen kommt. Und das Singen spielt eine große Rolle, weil dazu keine Technik erlernt werden muss wie bei einem Instrument."

Ohne die Lehrkräfte, so versichert die Flötistin, könne ein solches Projekt nie gelingen: "Sie sind Expertinnen und Experten für die Kinder, sie können super mit ihnen umgehen und wissen genau, in welcher Geschwindigkeit wir arbeiten können." Gerade die Kombination aus Wissen und Erfahrung aus dem Schulalltag und der Authentizität der Musikerinnen und Musiker lässt ein Spannungsfeld entstehen, das die Kinder zum Lernen motiviert. "Uns wurden Löcher in den Bauch gefragt", lacht Hilpert: "Was kostet eine Geige, wie hoch kann die spielen, was spielt ihr am liebsten?" Und Kathrin Bonke fügt hinzu: "Wir haben diesen Besonderheitsstatus, weil wir nur kurzzeitig dazukommen. Außerdem benoten wir nicht und können den Schülerinnen und Schülern auf einer anderen Ebene begegnen."

Entstanden ist durch das Till-Eulenspiegel-Projekt eine äußerst konstruktive Lernatmosphäre, in der die Kinder häufig erstmals praktisch mit Musik in Berührung kommen konnten. Hilpert begrüßt, dass auf diese Weise "Kinder Musik machen können, deren Eltern es sich nicht leisten können, die Kinder in der Musikschule anzumelden. Es ist ja schon so viel erreicht, wenn sich Kinder für klassische Musik interessieren." Kathrin Bonke geht es darüber hinaus auch um "die positiven Emotionen und das Gemeinschaftserlebnis".

Ein junges Publikum für ein junges Orchester

Was braucht es aber, um aus der einmaligen Erfahrung eine Leidenschaft zu entwickeln? "Ein Intensivprojekt bleibt leider ein Tropfen auf dem heißen Stein", meint Bonke und fügt fast resigniert hinzu: "Es gibt noch keinen weiterführenden Plan, was mit den vielen gesäten Pflänzchen passieren soll." Auch Christoph Hilpert wirkt nachdenklich, wenn er über die Möglichkeiten der Verstetigung spricht. "Wenn ich Kindern meine Musik nahebringe, geht es in erster Linie um den Augenblick und darum, dass die Kinder Spaß haben und etwas für sich mitnehmen. Aber ich wünsche mir, dass die klassische Musik wieder mehr in der Mitte der Gesellschaft ankommt und mehr junge Leute ein Konzert besuchen, gerade weil auch unser Orchester ziemlich jung ist."

Nun ist jugendliche Dynamik nicht unbedingt ein Attribut, das landläufig mit der klassischen Musik in Verbindung gebracht wird. Sowohl Bonke als auch Hilpert wissen darum, dass ihr Metier gerade unter jüngeren Menschen als antiquiert gilt. "Nach 1945 lag der Altersdurchschnitt im Konzert bei 38 Jahren, inzwischen liegt er meist deutlich höher", meint der Violinist.

Kathrin Bonke hat ihre Vision des Konzertwesens bereits entworfen: Sich während eines Konzerts frei im Saal bewegen zu können – ­so etwa stellt sie sich die Zukunft der klassischen Musik vor. Doch so neu ist dieser Gedanke gar nicht. "Das war vor 150 Jahren schon so", räumt sie ein. "Man meint immer, früher habe man der Musik andächtig und konzentriert gelauscht, das stimmt nicht ganz." Während ein Besuch in der Oper oder Philharmonie heute in erster Linie der individuelle Genuss eines hochkulturellen Ereignisses ist, stand historisch betrachtet vielmehr das soziale Event im Mittelpunkt.

Gemeinsam zuhören

Kathrin Bonke wünscht sich diese soziale Dimension im Konzertwesen zurück. So wie ein Orchester als kollektives Zusammenspiel funktioniert, ist ihrer Meinung nach auch das Zuhören ein gemeinschaftlicher Prozess, über den man sich austauschen und ins Gespräch kommen muss. Ein Konzerthaus empfindet sie heute jedoch selten als Ort der Kommunikation und des Erfahrungsaustauschs. Die Musik werde konsumiert, jedoch kaum reflektiert und weitergedacht. "Ich merke es beim Spielen", sagt sie, "wenn die Gedanken kreisen, wenn man im Publikum vielleicht eher über die Arbeitswoche nachdenkt. Angebote wie ein Hörleitfaden oder HörProben auch für Erwachsene würden dazu beitragen, dass der Konzertbesuch für viele Besucher ein intensiveres Erlebnis wird."

Foto: Sandra Werner

Wie ernst muss E-Musik sein?

Wie schafft man es also, dass das Publikum im klassischen Konzert die Musik an sich heranlässt, sich mit ihr auseinandersetzt und Dialogbereitschaft entwickelt? Christoph Hilpert plädiert zunächst einmal dafür, so manche traditionellen Gepflogenheiten, etwa bezüglich der angemessenen Abendgarderobe, zu verabschieden. Auch gegen Zwischenapplaus hat er nichts: "Ich finde es nicht richtig, dass in Tschaikowskys Sinfonie Nr. 6 "Pathétique" in h-Moll erst nach dem vierten Satz geklatscht werden darf. Der dritte Satz ist so impulsiv, es ist doch schön, wenn das Publikum davon mitgerissen wird." Und er fügt an: "Danach darf es ja trotzdem wieder ernst werden."

Wie ernst, so muss man sich im Hinblick auf die Zukunft der klassischen Musik fragen, ist die E-Musik heute noch? Wie ernst muss sie sein? Die klassische Musik hat ihre Crux zu tragen: an ihrer langen Tradition, an ihrer künstlerischen Komplexität und an ihrem bildungsbürgerlichen und theoretischen Überbau. Klassische Musik, so zeigt sich, geht weit über einen bloßen Hörgenuss hinaus. Sie ist nicht nur emotional genießbar, sondern auch logisch-intellektuell begreifbar. Gerade das schreckt viele Hörerinnen und Hörer ab und verschafft der klassischen Musik den Ruf, dass sie sich nur mit akademischem Abschluss adäquat rezipieren lässt.

Unprätentiös, aber respektvoll

Vor allem im abendländischen Europa tut man sich besonders schwer mit der klassischen Musik. Das wird umso deutlicher, wenn man aus sicherem Abstand auf Europa blickt, etwa aus den USA. In seinem jüngst erschienenen Buch "Erwarten Sie Wunder!" erklärt der US-amerikanische Stardirigent Kent Nagano, wie sich sein Umgang mit der klassischen Musik in einem 2000-Einwohner-Dorf in den USA völlig unprätentiös entwickelt hat. In seiner Kindheit in den 1950er und 60er Jahren ging es um die Musik um ihrer selbst willen, wie Nagano beschreibt, nicht etwa um Begabtenförderung, um musikalische Karriereabsichten oder virtuose Perfektion. Musik ist Zeitvertreib, Freizeitbeschäftigung – und zugleich ein probates Mittel zur Verständigung in einer multiethnischen und multikulturellen Dorfgemeinschaft.

Hierzulande sieht das noch anders aus. Doch Initiativen wie das Kulturagentenprojekt an der Lobdeburgschule zeigen, dass Experimentierfreude und Ehrfurcht gegenüber einer komplexen Kunstform einander nicht ausschließen.

Literatur

Kent Nagano: Erwarten Sie Wunder! Expect the Unexpected, Berlin 2014.