Mirtan Teichmüller
Zeichen setzen für Vielfalt gegen Rassismus
Mirtan Teichmüller

Zeichen setzen für Vielfalt gegen Rassismus

Kurzbeschreibung

„Zeichen setzen an der GSS“ war ein schulartübergreifendes künstlerisches Projekt für Vielfalt an der Geschwister-Scholl-Schule. Es fand mit 1.200 Schülerinnen und Schülern aus 55 Klassen im Rahmen der „Internationalen Wochen gegen Rassismus“ 2014 statt. Begleitet von zwölf Künstlerinnen und Künstlern entstand in zwei Wochen die 30 Meter lange Installation „WE HAVE A DREAM“ aus 3000 individuell gestalteten Folienstickern. Im direkten Nebeneinander von bisweilen künstlerischen, teilweise humorvoll skurrilen Icons wurde eine Symbiose von ästhetischer Raumgestaltung und humanitärer Aussage hergestellt.

Bundesland

Baden-Württemberg

Ort

Konstanz

Beteiligte Klassenstufen

5 bis 12

Thema

Auseinandersetzung mit und Positionierung gegen Rassismus

Sparten

Bildende Kunst

Format

Im Unterricht (unter anderem im Deutsch-, Ethik- oder Religionsunterricht), AG

Beteiligte Schülerinnen und Schüler

1.200

Projektdauer

2 Wochen

Durchführungsorte

In der Schule
im Theater und in kommunalen Gebäuden

Beteiligte Lehrkräfte

Jährlich ca. 25
im Theater-Spielprojekt je 7
ca. 50

Kulturagent

Mirtan Teichmüller

"Zeichen setzen" an der Geschwister-Scholl-Schule

Die Geschwister-Scholl-Schule in Konstanz wurde in den 1970er Jahren als Erprobungsfeld gegründet, um verschiedene Schulformen unter einem Dach zu vereinen. Mit der zweijährigen Orientierungsstufe, ihren drei schulartspezifischen Abteilungen, den internationalen Vorbereitungsklassen und den zahlreichen kulturellen und sportlichen Angeboten stellt sie in sich schon einen Ort der Vielfalt dar.

Die Entstehung der Projektidee

Die "Internationalen Wochen gegen Rassismus" gedenken alljährlich der Opfer des "Massakers von Sharpeville" am 21. März 1960 im Apartheidstaat Südafrika. Die Schulsozialarbeiter Hans-Peter Büttner und Susanne Wagner waren bereits 2013 auf der Suche nach einer geeigneten Aktion für das folgende Jahr. Ich schlug der Schule daher eine Gestaltungsidee für die 1.200 einheitlich gelben Spinde der Schule vor, mit denen er sich schon länger befasste, mit dieser Thematik und einem positiven Ansatz zu verbinden. Ziel war es, statt einer Aktion gegen Rassismus eine Aktion für Vielfalt zu planen. Es folgten viele Einzelgespräche mit dem Grafiker Bert Binnig1, der für die Projektleitung gewonnen werden konnte. Einst selbst Schüler der GSS, hatte er dort seit einem Jahr mit Erfolg Streetartprojekte im Rahmen des Kulturagentenprogramms geleitet, sodass er kein Unbekannter mehr war. Danach galt es, mit den Lehrkräften, der Schulleitung, den Hausmeistern, der Elternschaft und den Schülervertreterinnen und -vertretern ins Gespräch über ein schulartübergreifendes Großprojekt zu kommen. Am Ende des fast ein Jahr währenden Austauschs in allen Gremien der Schule wurden die Bedenken gegen die Durchführung des Projekts aufgelöst, Künstlerinnen und Künstler in der lokalen Streetartszene gefunden und die komplexe Organisation strukturiert. Nichts wurde dem Zufall überlassen – außer der Ergebnisoffenheit der angestrebten künstlerischen Prozesse.

Die Vorbereitung durch das Videotutorial

Bereits früh entstand die Idee, die große Zielgruppe – 150 Lehrer und 1.500 Schülerinnen und Schüler – durch das Medium Film für die Durchführung zu begeistern. Der Nachwuchsfilmer Florian Jahnel2 und der Grafiker Bert Binnig entwickelten ein Storyboard. Die vom kunstbegeisterten Techniklehrer Bernt Haupt geleitete Streetart-AG war sofort bereit, die Dreharbeiten mitzugestalten und selbst vor der Kamera zu stehen. Das Video "Zeichen setzen an der GSS" wurde rechtzeitig fertiggestellt und konnte vier Wochen vor der geplanten Aktion im Internet angeschaut werden. Es wurde über 1.000-mal aufgerufen. Als Impulsgeber für die Entwürfe der Schülerinnen und Schüler bereitete es anschaulich auf die beiden Projektwochen vor, in denen die im Unterricht oder zu Hause erstellten Skizzen auf Folien übertragen und mit Cuttern ausgeschnitten wurden. Viele der Lehrerinnen und Lehrer hatten zudem im Deutsch-, Ethik- oder Religionsunterricht auf den Kontext der "Internationalen Wochen gegen Rassismus" vorbereitet. Die beiden Schulsozialarbeiter als Mitinitiatoren des Projekts stellten dazu im Lehrerzimmer für jede Altersstufe didaktisches Material zur Verfügung. Wie und ob die Lehrkräfte das Thema einführten, lag in deren Gestaltungsspielraum.

Kulturelle Bildung in der Schule

Die Teilnahme der Klassen und ihrer Lehrkräfte am Projekt war freiwillig. Es ging nicht um Uniformität, sondern um die Vielfalt eigener Ideen und Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen einer gemeinsamen Aussage für Diversität. Das Projekt entfaltete mit zunehmender Dauer eine immer größere Sogwirkung auf alle Beteiligten. So meldeten sich beispielsweise auch zwei Klassen für die Arbeit an der Sticker-Workstation an, deren Klassenlehrer die Teilnahme eher nicht wollten. Andere Lehrerinnen und Lehrer beziehungsweise die Schulsozialarbeiter sprangen hier helfend zur Seite.

Die Workstation – zwei Wochen lang Konzentration

Zwei Wochen lang arbeiteten schließlich je zwei Klassen gleichzeitig – meist sehr begeistert und diszipliniert – an der zentral gelegenen Workstation in der Aula. Sie wurden von je einer Künstlerin/einem Künstler, ihrer Lehrkraft und einer ehrenamtlich hinzutretenden Schulmutter begleitet. Die Mütter waren über einen Elternbrief und einen vorbereitenden künstlerischen Stickerworkshop für Eltern und Lehrkräfte gefunden worden. Die Künstlerinnen und Künstler gaben zunächst einen kurzen handwerklichen Input, man schaute sich bereits erstellte Sticker an den Spinden an und legte konzentriert los, um auf wenigen Quadratzentimetern eine eigene Aussage für Vielfalt zu gestalten. So entstanden zahlreiche Friedenssymbole, Zeichen der Liebe oder der Ökumene, frei Erfundenes wie eine Gitarre aus dem Umriss des Bodensees, auch Mahnendes wie die durch eine Sanduhr rieselnde Erde. Manche waren mit einem Sticker zufrieden, andere produzierten gleich fünf. Fertige Sticker wurden von den Schülerinnen und Schülern in die Umrandung der zwei mal zwei Meter großen Buchstaben eingefügt. So wuchs die gemeinsame Botschaft jeden Tag um einen Buchstaben an, angefüllt mit rund 300 verschiedenen Icons.

Die Installation verändert die Schule

Durch die Aula der Schule sowie zwei angrenzende Korridore zieht sich seitdem eine Installation, die – dies war Teil der künstlerischen Konzeption – von einem Punkt der Aula ganz zu überblicken ist. Aber auch das Entlanggehen am Schriftzug mit seinen unzähligen Formen ist ein Erlebnis und Genuss für die am Auge vorbeiziehenden vielfältigen Aussagen. Die beeindruckende Dimension des Kunstwerks hat die Stimmung in der Aula verändert. Es regt gleichzeitig dazu an, näherzutreten und den Blick aus der Ferne darauf zu richten. Die "begehbare Skulptur" findet schließlich ihren Abschluss in einem geklebten Graffiti nach einem Foto von Martin Luther King, dem man das Motto der Installation entlehnte. Dieser grafische Höhepunkt ist dem großen Einsatz der Streetart-AG und ihres Leiters Bernt Haupt zu verdanken. Es besteht ausschließlich aus Folienresten, die bei der Stickerherstellung anfielen, zurechtgeschnitten und zu einem fünf Quadratmeter großen, eindrucksvollen Bild auf die Spinde aufgeklebt wurden.

Das Echo in der Öffentlichkeit

Das Ereignis sprach sich herum: Zweimal kam die Konstanzer Tageszeitung, um das Projekt entsprechend zu würdigen. Mit Regio-TV und dem SWR waren zwei Fernsehsender zu Gast, die die Aktion vor Ort für ihre jeweilige Landesschau filmten.3 Überregionale Beachtung erfuhr das Projekt im Mai 2014, als es vom Deutschen Kulturrat zum Projekt der Woche gekürt wurde.4

Kunst oder keine Kunst?

Fast täglich entwickelten sich nun lebhafte Schülergespräche vor den Stickern. Man findet nicht viele politisch ambitionierte Icons, eher kindlich geprägte oder herrlich verspielte, bisweilen auch sehr künstlerische. Ihre Vielfalt jedenfalls regt zu Diskussion auch über die so oft gestellten Fragen an: Ist das Kunst? Was hat Kunst mit Können zu tun? Natürlich gibt es Stereotypen wie etwa 100 Smilies und 200 Tier-Icons, doch selbst hier überrascht die Diversität lächelnder Gesichter und skurriler Fauna. Bei aller künstlerischen Freiheit gab es Grenzen: Gewaltverherrlichende, frauenfeindliche oder rassistische Zeichen zu schnitzen, war verboten. Worte, Zahlen, Firmenlogos oder Vereinszeichen wurden ebenfalls abgelehnt, dafür individuell gestaltete Bildbotschaften zum Thema angeregt. Die Schülerinnen und Schüler haben diese Einschränkungen fast ausnahmslos und ohne Probleme akzeptiert.

Die treibenden Kräfte

Die beteiligten Künstlerinnen und Künstler waren für die Tätigkeit an der Workstation im Rahmen eines Workshops vorbereitet worden und brachten sich mit all ihrer Kreativität und Gelassenheit ein. Es war eine enorme Herausforderung, in der großen und offenen Aula zwei Klassen gleichzeitig an künstlerische Prozesse heranzuführen. Sie betreuten die Schülerschaft partnerschaftlich und künstlerisch beratend bei der Übertragung ihrer mitgebrachten Skizzen auf die Folien und suchten mit ihnen den richtigen Platz für ihre Icons in den Buchstaben. Eine Befragung der Lehrkräfte und Schülerschaft verdeutlichte, wie sachkompetent, freundlich und reibungslos diese Begleitung empfunden wurde. Obwohl zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler das Videotutorial vorher nicht angeschaut und 30 Prozent keine inhaltliche Beschäftigung mit dem Thema Rassismus erlebt hatten, kamen dennoch 90 Prozent mit einem Stickerentwurf zur Workstation. Aber auch die weniger Vorbereiteten wurden von den Künstlerinnen und Künstlern rasch und unkompliziert in die Arbeitsschritte und Möglichkeiten eingewiesen. So wuchs die Installation täglich weiter, wurde länger, dichter, staunenswerter. Das Kunstwerk entfaltete einen Sog, wurde zu einem echten Anliegen der Schule, das den Unterrichtsbetrieb in keiner Weise beeinträchtigte, was zuvor mancher befürchtet hatte. Auch einzelne Lehrerinnen und Lehrer begannen Icons zu schneiden und auf Spinde zu kleben, was von der Schülerschaft mit Respekt wahrgenommen wurde. Nach jeweils sechs Stunden endete ein Arbeitstag, alle Utensilien für den kommenden Tag wurden auf einem Rollwagen verstaut und in das Büro der Schulsozialarbeiter gefahren. Sie und einer der drei Kulturbeauftragten betreuten auch außer der Reihe Klassen bei der Installation und waren als Kernteam immer für die Lehrerkollegen und die Künstlerschaft ansprechbar.5

Vernissage

Die Installation wurde mit einer feierlichen Vernissage mit einem abwechslungsreichen Programm aus Klezmermusik, Hip-Hop-Tanz, Poetry-Slam und der lebendigen Moderation durch die zwei Schülersprecher für die Öffentlichkeit freigegeben. Dass dieser Abend nur von 250 Zuschauerinnen und Zuschauern besucht wurde, obwohl 94 Prozent der Teilnehmenden weitere Projekte dieser Art befürwortet hatten, gehört zu den Wermutstropfen im Umgang mit dem Projekt. Bei einer Wiederholung sollte die Präsentation unbedingt in den Vormittag gelegt werden.6

Organisation und Finanzierung

Maßgeblich mitgetragen wurde das Projekt neben Bert Binnig von den drei Kulturbeauftragten der Schule, Ulli Wendland, Katharina Moch und Markus Kroetzsch, der Schulleiterin Maria Wehinger-Schwörer und Konrektor Werner Specker, den Schulsozialarbeitern Susanne Wagner und Hans-Peter Büttner sowie dem Kulturagenten Mirtan Teichmüller. Die Presse- und Fernsehorganisation übernahmen die Lehrer Peter Boos und Simon Keefer. Die Verbindung zur Schülermitverwaltung stellte der Vertrauenslehrer Andreas Widmann her. Das Programm "Kulturagenten für kreative Schulen" übernahm die Finanzierung im Rahmen eines Antrags mit dem Titel "Künstler zu Besuch – erprobte Verstetigung".

Fazit der Beteiligten

Die teilnehmenden Lehrinnen und Lehrer wurden nach Projektende zu ihrer Einschätzung befragt. Sie waren überwiegend der Meinung, dass das Projekt tatsächlich ein Zeichen gesetzt habe, weil Schritt für Schritt gemeinsam an einem Ziel gearbeitet wurde und jeder seine Individualität zum Ausdruck bringen konnte. Auch wenn es die ein oder andere kritische Stimme zum Ergebnis, zur Organisation oder den Inhalten gab, habe man ein tolles Kunstwerk geschaffen und landesweite Aufmerksamkeit erhalten. Auch seien die Schülerinnen und Schüler für ein wichtiges Thema sensibilisiert worden. Sie plädierten außerdem dafür, dass es schön wäre, wenn das Werk deutlich sichtbar in der Schule bliebe. Tatsächlich war vor dem Projekt vereinbart worden, die Installation am Ende des Schuljahres zu entfernen. Davon war nach der Vernissage erfreulicherweise keine Rede mehr.

Auch die Schülerinnen und Schüler gaben in Fragebögen ihr Feedback ab und bewerteten das Projekt zu 90 Prozent positiv, weil es eine Botschaft gegen Rassismus sei, die Gemeinschaft fördere, Spaß gemacht und etwas Neues, Kreatives eröffnet habe. Es gab zahlreiche Verbesserungsvorschläge und ein paar Beschwerden, beispielsweise weil ein Anarchiezeichen nicht zugelassen worden war oder weil die Cutter nicht richtig funktioniert hätten. Auch wurde bemängelt, dass manche Lehrerin/mancher Lehrer ihre/seine Klassen nicht ausreichend auf die Hintergründe des Projekts vorbereitet hätten.

In einem rückblickenden Interview stellten sich die Schülersprecher Jan Schwarz und Leonie Wingberg den Fragen von Viola Hilbing vom baden-württembergischen Landesbüro des Kulturagentenprogramms.

Viola Hilbing: "Was war in diesem Projekt der schönste Moment für euch?"

Leonie: "… als sich freiwillig Leute gemeldet haben und als Eigeninitiative und das Bedürfnis aufkamen: Wir wollen die Gemeinschaft an unserer Schule stärken, wir wollen dabei sein!" Dann bekamen plötzlich alle richtig Lust, mitzumachen, und das hat man auch in der Schule gespürt, oder?"

Jan: "Ja, stimmt. Am ersten Tag, als der erste Buchstabe da war, haben sich alle die ganze Sache angeschaut und überlegt, was sie selbst machen könnten. Dann ist das langsam gewachsen."

Viola Hilbing: "Waren eure Mitschülerinnen und Mitschüler auch so begeistert wie ihr?"

Jan: "Das Feedback war hauptsächlich positiv. Alle fanden, dass es eine Bereicherung für die Schule sei: Es sieht gut aus und es spiegelt das wieder, wofür die Schule steht. Fast alle Schülerinnen und Schüler fanden es cool, haben gern mitgemacht und coole Sticker gemacht."

Leonie: "Ja, und auch der Grundgedanke der Geschwister-Scholl-Schule, die breite Vielfalt zu tolerieren und zu leben, wurde durch das Projekt noch einmal deutlich. Vielen Schülerinnen und Schülern ist der Leitgedanke, glaube ich, gar nicht so ganz klar, wenn sie an die Schule kommen. ,We have a dream" steht auch für Toleranz und Vielfalt, und das wurde durch das Projekt, glaube ich, vielen Schülerinnen und Schülern klarer."

Jan: "Auch weil es eine Gesamtschule ist, passt das Projekt so gut. Alle Schichten und Kulturen sind an unserer Schule vertreten. […] Das ist jetzt das erste Projekt, an dem die gesamte Schule teilnimmt."

Leonie: "Ich denke, ,Zeichen setzen" stärkt den Gemeinschaftssinn der kompletten Schule."

 

 

1Siehe www.design-homebase.de/index.php?id=24 [22.11.2014].

2Siehe umbelichtet.de/ [22.11.2014].

3Siehe www.regio-tv.de/video/310582.html [22.11.2014].

4Siehe kultur-bildet.de/artikel/19-zeichen-setzen-fuer-vielfalt-gegen-rassismus [22.11.2014].

5Den am Projekt beteiligten Künstlerinnen und Künstlern, allesamt aus Konstanz, gebührt an dieser Stelle für ihr enormes Engagement großer Dank: Bert Binnig und Emin Hasirci, Elisa Scheichl und Andreas Sauer, Johannes und Giulia Heitzer, Andrea Kiss und Jarina Binnig, Michi John und Roland Germar, Gio Proietto und Daniel Gorgels.

6Siehe www.suedkurier.de/region/kreis-konstanz/konstanz/Zeichen-gegen-Rassismus;art372448,6863028?utm_source=feedburner&utm_medium=feed&utm_campaign=Feed%3A+suedkurier-konstanz+%28suedkurier.de+-+Konstanz%29 [22.11.2014].