Ralf Eger
Störungen haben keine Lobby!
Ralf Eger

Störungen haben keine Lobby!

Qualitätsdiskurse in der kulturellen Bildung

Qualitätssicherung wird mittlerweile als ganz selbstverständlicher Bereich in der kulturellen Bildung betrieben. Bereits 2010 beschäftigt sich beispielsweise eine Publikation der BKJ1 ausführlich mit diesem Thema. Qualität soll entwickelt und vor allen Dingen gesichert werden und das auf allen erdenklichen Ebenen von Programmen und Projekten wie Input, Struktur, Prozess, Ergebnis und Wirkung. Auch im Kulturagentenprogramm wurde ausführlich über Qualität diskutiert. Dabei wurden diskursiv verschiedene Qualitätsbereiche für ein Instrument des Programms – das sogenannte Kunstgeld – definiert. "Das Kunstgeld dient der Förderung von künstlerischen Projekten mit Kindern und Jugendlichen, die sich durch künstlerische Qualität auszeichnen."2 Da für Kunstgeldprojekte explizit künstlerische Qualität bedeutsam sein sollte, wird das im Folgenden auch der Leitgedanke meiner Betrachtung sein.

Schon zu Beginn meiner Kulturagententätigkeit bin ich begeistert auf das Thema angesprungen und habe mich auf vielen Ebenen in den Qualitätsdiskurs eingebracht. Gute Projekte zu wollen, war selbstverständlich – also schien das Sicherstellen von Qualität irgendwie richtig und wichtig zu sein. Auch Max Fuchs schreibt: ""Qualität" gehört zunächst einmal zu den positiv besetzten Begriffen. Jeder hätte gerne eine gute Qualität, wenn er oder sie ein bestimmtes Produkt kauft."3 Warum sollte das nicht genauso für ein künstlerisches Projekt gelten?! Das war meine erste unreflektierte Annahme. Mein Unterbewusstsein hatte eine – aus meiner früheren Profession als Ingenieur rührende – naturwissenschaftlich-technische Sicht auf Qualität aktiviert: Wenn es also gelänge, alle Parameter des Systems und die Rahmenbedingungen für ein Projekt genau genug zu definieren, dann ließe sich doch schon a priori sicherstellen, dass ein Vorhaben hohe Qualität aufweist. Das hieße im Endeffekt weniger Risiko und ein Ergebnis, das sich immer wieder reproduzieren ließe, ganz im Sinne einer industriellen Warenlogik.4

Das war für mich der Moment innezuhalten: Reproduzierbarkeit, Fehlervermeidung, Risikominimierung – sollte dies alles erreichbar werden, wenn nur genügend Qualitätskriterien definiert und erfüllt wären? Das mag vielleicht in industriellen Prozessen funktionieren, aus denen die Qualitätssicherung ursprünglich stammt, aber dies als Leitbegriff für die künstlerische Qualität ansetzen? Skepsis machte sich breit, und ich fühlte mich durch einen Hinweis von Carmen Mörsch bestätigt: "Vor der Diskussion über "Qualitätskriterien" in der kulturellen Bildung müsste daher eine grundsätzliche Klärung erfolgen, ob "Qualität" als Leitbegriff nicht zwangsläufig impliziert, dass es sich bei kultureller Bildung um etwas Warenförmiges, um ein standardisierbares Produkt oder eine Dienstleistung handelt."5

Könnte es sein, dass die Fokussierung auf Qualitätskriterien und deren Erfüllung die kulturelle Bildung zu einem standardisierbaren Produkt macht? Hat dann die Irritation, die Kunst auslösen kann, in der kulturellen Bildung, nach Mörsch möglicherweise sogar als Dienstleistung verstanden, noch einen Raum?

Wer definiert, was Qualität ausmacht?

Max Fuchs betont, dass "der Prozess der Qualitätszuschreibung ein normativer Prozess ist: Er hängt mit individuellen und sozialen Werten zusammen."6 In künstlerischen Projekten an Schule stellen die Akteure unterschiedliche, zum Teil unausgesprochene Erwartungen an ein Vorhaben, die zusätzlich zu den konkret formulierten Projektzielen bestehen. Beides setzt einen Maßstab für die Qualität, da sich der Grad des Gelingens eines Projektes daran bemisst, wie weit diese Erwartungen und Ziele erfüllt wurden. Hinter den möglichen Qualitätskriterien stecken jeweils nichtidentische professionelle Sichtweisen der Akteure. Für die Schulleitung mag das die Besprechung der Projektpräsentation in der Lokalpresse sein. Die betreuende Lehrkraft hielt das Projekt für wenig gelungen, weil ihr der Ablauf zu wenig ergebnisorientiert war, während die beteiligte Künstlerin oder der beteiligte Künstler im selben Projekt am Ende darüber klagt, dass es kaum Prozessoffenheit gab. Und eine nichtbeteiligte Lehrkraft könnte das Projekt als erfolgreich bezeichnen, weil kein Fachunterricht ihrer Klasse ausfallen musste. Jedoch wird diese Lehrkraft ihr Qualitätskriterium "Es fällt kein Fachunterricht aus" nicht automatisch in die Diskussion einbringen können. Das gilt auch für viele andere Akteure, deren Qualitätskriterien nicht im Aushandlungsprozess verhandelt werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang das Moment der Definitionsmacht, das Mörsch an dieser Stelle ergänzt. Dadurch wird deutlich, dass am Ende die verschiedenen Perspektiven eben nur zwischen den Akteuren ausgehandelt werden, die am Akt der Verhandlung teilnehmen können/dürfen, also über die entsprechende Definitionsmacht verfügen: Es ist ein politischer Akt.7 Wer nicht anwesend ist, kann nicht verhandeln.

Besonders deutlich wird das im Rahmen von Förderprogrammen wie dem Kulturagentenprogramm. Hier werden bereits durch die Festlegung von Programmzielen Eckpunkte gesetzt, die den sich anschließenden Qualitätsdiskurs mitbestimmen. Mit den Akteuren vor Ort werden diese Eckpunkte nicht ausgehandelt, sondern sind als Handlungsrahmen bereits vorgegeben. Ein Beispiel aus dem Kulturagentenprogramm ist das Ziel der Bildung von Netzwerken aus drei Schulen, die idealerweise gemeinsame Projekte durchführen. Oft jedoch befinden sich die Netzwerkschulen in direkter Konkurrenz um Schülerzahlen. Das Ziel einer individuellen Profilierung wird eine Schule also höher bewerten beziehungsweise eher anstreben, als einer anderen Schule zur Präsentation ihrer Erfolge zu verhelfen. Auch das Programmziel, Projekte zu fördern, die sich durch künstlerische Qualität auszeichnen, ist eine solche Setzung.

Ist man in der Praxis bei der Konzeption und Umsetzung von künstlerischen Projekten einem Spannungsfeld verschiedener Zielsetzungen ausgesetzt, ist auf den ersten Blick oft nicht ersichtlich, welche oder wessen Interessen hinter einer formulierten Qualität liegen. Es ist jedoch sehr hilfreich zu wissen, wer was und warum will. Denn nur so kann es meiner Ansicht nach den Vermittelnden gelingen, sich entsprechend strategisch zu positionieren, um neben allen Erwartungen an ein Projekt, den Raum für die künstlerische Qualität zu wahren. Ich werde später mit dem VEB-Modell ein systemisches Werkzeug vorstellen, das helfen soll, diese Zusammenhänge transparenter zu machen.

Qualitätskriterien versus Raum für Kunst?

Wo bleibt bei aller Reflexion über Qualität und der Erkenntnis, dass der Akt der Festlegung von Qualitätskriterien ein normativer sowie politischer ist, die Kunst? Bildet die Frage nach der Qualität von Projekten adäquate Kriterien ab, die die künstlerische Qualität fassen können? Oder sind originär künstlerische Projekte nicht gerade diejenigen, "bei denen sich ein solches [Qualitätsmanagement] im Sinne der gesetzten Ziele verbietet"8, wie Carmen Mörsch vorschlägt? Folgt man dem Anspruch, dass sich künstlerische Projekte an Schulen" – wie die Forderung des Modellprogramms lautet – durch künstlerische Qualität auszeichnen, stellt sich die Frage, ob sich die künstlerische Qualität überhaupt fassen lässt.

Auf die bereits im ersten Programmhalbjahr von der Akademieleitung im Zusammenhang einer "Hausaufgabe" gestellte Frage "Was zeichnet in meinen Augen ein gutes künstlerisches Projekt an/mit Schulen aus?"9 nannten 87 Prozent der Kulturagentinnen und Kulturagenten Punkte zum Themenkomplex "Differenzerfahrung und Störung", 60 Prozent hielten das Thema "Partizipation und Empowerment" für wichtig, aber nur 33 Prozent benannten Punkte zu "Strukturqualität und Organisation" (beispielsweise Zeit, Ressourcen, Projektmanagement und so weiter). Es scheint also unter den Kulturagenten eine große Einigkeit darüber zu bestehen, was zentral für die Qualität von künstlerischen Projekten an Schule sei. Müsste sich dies nicht auch in dem im Kulturagentenprogramm geführten Qualitätsdiskurs widerspiegeln? Zur Beurteilung von künstlerischen Projekten für Kinder und Jugendliche, die durch das Kulturagentenprogramm gefördert wurden, entstand ein internes Arbeitspapier, in dem Qualitätsbereiche und Merkmale der Projekte zusammengetragen wurden. Die Qualitätsbereiche stellen ein Spannungsfeld von zum Teil widersprüchlichen Kriterien dar, in dem ein Projekt angesiedelt sein kann. Das Thema "Partizipation" findet sich dort als eigener Qualitätsbereich "Beteiligung" wieder. Der Qualitätsbereich "Künstlerische Visionskraft" versucht das künstlerische in Projekten beschreibbar zu machen. Aus diesem sogenannten Qualitätspapier wurden diverse Arbeitshilfen für Kulturagentinnen und Kulturagenten, Schulen und Kulturpartner entwickelt. Im Verlauf des Diskurses hat mich beschäftigt, dass über die Frage, was künstlerische Qualität ist, und über den implizit dahinter liegenden individuellen Kunstbegriff leidenschaftlich diskutiert wurde, sich das allerdings in den daraus entstandenen Arbeitshilfen – in meiner Wahrnehmung – so nicht abbildet. Ich habe die Vermutung, dass könnte mit dem Aushandlungsprozess und den individuellen Haltungen zusammenhängen.

Nach meinem Verständnis ist künstlerisches Handeln immer durch eine starke individuelle Haltung geprägt, die es vermag, Gegebenes zu hinterfragen, neue Denkräume zu eröffnen und damit vorhandene Strukturen zu stören. Die Diskussion und Festlegung von Qualitätskriterien ist jedoch in der Regel ein Aushandlungsprozess, in den die Interessen verschiedener Akteure einfließen. Dabei ist es wahrscheinlich, dass man sich auf diejenigen Punkte einigt, die eine Mehrheit der Akteure als Konsens vertreten können. Auch widersprüchliche Kriterien, bei denen es keinen Konsens gibt, fließen ein, wenn sie, so meine Vermutung, nicht im Widerspruch zur individuellen künstlerischen Haltung stehen. Vielleicht zeigt gerade der Aushandlungsprozess, dass auch Kulturagenten eine sehr individuelle Haltung zum Thema "Differenzerfahrung und Störung" haben. Könnte es sein, dass es gerade deshalb kaum möglich ist, sich auf gemeinsame Qualitätskriterien zu diesem Themenkomplex zu einigen?

Während eines der letzten Akademiemodule im Rahmen des Kulturagentenprogramms habe ich zur Stützung meiner Vermutung in einem Workshop zum Thema "Qualität" folgenden Versuch unternommen: Die teilnehmenden Programmakteure sollten zweimal die Frage beantworten, welche Qualitätskriterien sie in künstlerischen Projekten an Schule für wesentlich halten. Im ersten Durchgang wurden individuelle Antworten gesammelt. Im zweiten Durchgang sollten Kleingruppen jeweils gemeinsame Qualitätskriterien aushandeln. Die individuellen Antworten deckten sich im Wesentlichen mit der oben beschriebenen Auswertung.10 Doch schon im ersten Aushandlungsprozess rückten nichtkünstlerische Kriterien stärker in den Blickpunkt, die bei individuellen Antworten zuvor nicht genannt wurden. Das bestärkt meine Vermutung, dass das Thema "Differenzerfahrung und Störung" und die damit verbundene Frage nach künstlerischer Qualität derart von individueller Haltung geprägt sind, dass sie im fortschreitenden Aushandlungsprozess aus dem Fokus geraten.

1. Die Legitimationsfalle

Im Kulturagentenprogramm wurde versucht, Qualitätsbereiche und -kriterien für ein Instrument des Programms – das sogenannte Kunstgeld – zu definieren, also für Projekte mit Kindern und Jugendlichen, die sich durch künstlerische Qualität auszeichnen. Gleichzeitig spielt jedoch in sehr vielen Qualitätskriterien das spezifisch Künstlerische in einem Projekt keine Rolle. Hingegen finden sich Kriterien zur strukturellen Verankerung, zur schulischen Anbindung, zu langfristigen Kooperationen oder geeignetem Projektmanagement. Das sind alles nachvollziehbare Ziele der Projektarbeit, die sicher helfen können, Projekte kultureller Bildung an Schule zu legitimieren. Die Gefahr besteht allerdings, dass gerade im System Schule bei der Vielzahl an möglichen Zielen, die durch Projektarbeit erreicht werden sollen, das Künstlerische aus dem Blick gerät. Ein entsprechendes Vorhaben könnte also bereits als gelungen angesehen werden, weil es eine Vielzahl von (nichtkünstlerischen) Zielen voran gebracht hat. Die folgende Aussage eines Kulturagenten spitzt das beschriebene Problem zu: "Ein gutes Projekt zeichnet sich [...] wohl dadurch aus, dass es die unterschiedlichen Ziele unter einen Hut bringt und möglichst viele Leute zufriedenstellt, das Programm passend repräsentiert und in diesem Sinne nachhaltig wirkt."11

Um die damit verbundene Problematik zu verdeutlichen, schlage ich folgendes Gedankenexperiment vor. Man ersetze in den definierten Projektzielen beziehungsweise in den zu betrachtenden Qualitätskriterien die Begriffe "künstlerisches Projekt" durch "Sportprojekt", "Kulturinstitution" durch "Sportverein", und "Künstler" durch "Sportprofi". Es ist überraschend, wie viele Ziele nach Austausch der Begriffe die gleiche Gültigkeit haben:

  • Die künstlerischen Sport-Projekte berücksichtigen die Vernetzung mit anderen (Netzwerk-)Schulen, mit Kulturinstitutionen Sportvereinen sowie Akteuren innerhalb des Stadtteils/der Stadt/der Region.
  • Die Kooperation befördert die im Kulturfahrplan Entwicklungskonzept Sport formulierte kulturelle sportliche Schwerpunktsetzung der Schule.

Das zeigt ein großes Dilemma. Wenn man versucht, Projekte die sich durch künstlerische Qualität auszeichnen darüber zu legitimieren, dass diese vielen "nützlichen" Zielen dienen, landet man mit obigem Gedankenexperiment leicht in einer Legitimationsfalle. So wichtig zum Beispiel gutes Projektmanagement oder Nachhaltigkeit auch sind, es muss immer wieder deutlich gemacht werden, was gerade die Kunst in Projekten an Schule auszulösen vermag. Andernfalls ist es ein Leichtes, sie durch andere nichtkünstlerische Projekte zu ersetzen.

2. Vereinnahmung durch das System Schule

Der Kontakt des Systems Kunst mit dem System Schule irritiert und stört – das haben die Kulturagentinnen und Kulturagenten als wichtige Forderung an künstlerische Projekte hervorgehoben. Diese Forderung jedoch in adäquate Qualitätskriterien zu überführen, hat sich so jedoch nicht eingelöst. Die Erfahrung zeigt, dass das System Schule alles tut, um Störung zu vermeiden. Ohne eine externe Begleitung, die beständig den Fokus auf die künstlerische Qualität in Projekten legt, ist es wahrscheinlich, dass das System Schule sich auf diejenigen Qualitätskriterien fokussiert, die Störungen möglichst ausschließen und Sicherheit erzeugen, wie beispielsweise reibungslose Abläufe, Wiederholbarkeit oder die Behandlung von Themen des Lehrplans. Das könnte im Verlauf dazu führen, dass die Qualitätskriterien im Zweifel zu einem Werkzeug mutieren, das systematisch Wagnis und Risiko verhindert und diejenigen Vorhaben an Schule fördert, die fehlerfrei und sicher funktionieren. Das System befolgt dann genau die Qualitäten, mit denen es sich selbst bestätigt und reproduziert.

Die Kunst, trotz aller Interessen und Zielvorgaben Kunst zu ermöglichen

Es wurde bereits angesprochen, dass die Festlegung von Qualitätskriterien für ein Projekt weniger objektiven Betrachtungen entspringt, als dass sie vielmehr durch spezifische Interessen geleitet ist. Für einen reflektierten Umgang mit diesen Anforderungen an ein Vorhaben ist es hilfreich zu erkennen, woher diese kommen. Im Idealfall werden die dahinterliegenden Interessen transparent und verhandelbar. Diese Transparenz erlaubt einer Kulturagentin/einem Kulturagenten oder Vermittelnden eine bewusste, unter Umständen auch eine konträre Positionierung.

Zur Klärung der Frage "Wer will was warum?" hilft ein systemischer Blick auf die Akteure, der im Folgenden anhand des VEB-Modells12 verdeutlicht werden soll. Beispielhaft werden zwei Kriterien aus dem bereits genannten internen Arbeitspapier "Qualitätsbereiche Kunstgeld-Projekte" dargestellt:

Die künstlerischen Projekte berücksichtigen die Vernetzung mit anderen (Netzwerk-)Schulen, mit Kulturinstitutionen sowie Akteuren innerhalb des Stadtteils/der Stadt/der Region (blaue Pfeile). Die Kooperation befördert die im Kulturfahrplan formulierte kulturelle Schwerpunktsetzung der Schule (grüne Pfeile).

Systemische Analyse von Qualitätskriterien mit Hilfe des VEB-Modells
Grafik: Ralf Eger

Sehr gut kann man an dem Modell erkennen, wie die einzelnen Interessen an ein Projekt herangetragen werden. Manche Ziele werden von den Beteiligten direkt vom Vorhaben gefordert, andere werden indirekt über eine Schnittstelle an das Projekt gestellt, die dort entsprechend gefiltert und priorisiert werden. Die Schnittstelle ist zentral im Aushandlungsprozess, denn sie hat großen Einfluss darauf, wie und ob Anforderungen und Ziele an das Projekt weitergereicht werden. Neben der Schulleitung als Vertreter der Schule nach außen ist auch die Kulturagentin/der Kulturagent eine wesentliche Schnittstelle.

Störungen brauchen eine Lobby!

Es wurde bereits erwähnt, dass die Mehrzahl der Kulturagentinnen und Kulturagenten den Bereich "Differenzerfahrung und Störung" als zentrale Projektqualität beschreibt. Schauen wir uns deshalb folgende Aussage an: "Schule und Künstler gehen gemeinsam ein Wagnis ein, etwas Neues zu versuchen. Scheitern ist dabei explizit erlaubt."13

Versucht man das obige Merkmal im Modell abzubilden, stellt man fest, dass es keine Institution gibt, die ein wirkliches Interesse daran hat. Natürlich gibt es immer wieder einzelne Kunstschaffende, Lehrende, Vermittlerinnen und Vermittler oder auch Kulturinstitutionen, die dieses Merkmal neben den Kulturagenten vertreten. Während "Wagnis" noch häufiger individuelle Unterstützung findet, wird es beim "Scheitern" schon schwieriger. Das System Schule neigt zu einer ergebnisorientierten Sichtweise. Aus dieser Sicht wird ein Projekt allzu leicht als gescheitert angesehen, wenn beispielsweise die antizipierte Präsentation nicht das erwartete Ergebnis zeigt, obwohl der Prozessverlauf aus künstlerischer Sicht für die beteiligten Schülerinnen und Schüler sehr wertvoll war. Doch eine Künstlerin/ein Künstler als Dienstleister für Projekte an Schule wird diese Möglichkeit des "Scheiterns" kaum in Betracht ziehen, wenn sie/er auf Folgeaufträge der Schule hofft. Könnte es also sein, dass Differenzerfahrung und Störung sehr wohl als wichtiger, wenn nicht sogar entscheidender Faktor angesehen wird, sich dies aber in der Beschreibung von Qualität nicht wiederfindet, weil es in den beschriebenen Strukturen keine institutionelle Lobby mit ausreichend Definitionsmacht für diesen Bereich gibt? Und gilt vielleicht auch umgekehrt, dass all das, was im Kern das Künstlerische ausmacht, sich im VEB-Modell nicht klar abbilden kann, weil es sich gerade nicht institutionalisieren lässt? Oder ist die Unabhängigkeit des Kulturagenten von den Systemen Schule und Kunst der Schlüssel, um diese fehlende Lobby zu bilden?

Störungslobbyisten an die Schule!

Die Kulturagenteninnen und Kulturagenten sind die entscheidenden Akteure, um in der Begegnung von Schule und Kunst genügend Räume zu schaffen, in der die künstlerische Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern ihr Potenzial entfalten kann. Ihnen kommt dabei die Rolle von Strategen und subversiven Ermöglichern zu. Durch ihre Unabhängigkeit vom System Schule können sie die Interessenlage hinter jeweils definierten Zielen und Qualitäten leichter erkennen. Dadurch ist ein reflektierter Umgang mit den zum Teil widersprüchlichen Anforderungen erst möglich. Es kann durchaus sein, dass zu Anfang für eine Schule ein Projekt sinnvoll ist, das strukturelle Ziele und ein sicheres Gelingen in den Vordergrund stellt, jedoch Wagnis, Irritation oder gar die Möglichkeit des Scheiterns kontraproduktiv für zukünftige Vorhaben wäre. Auch wenn es sich formal um ein künstlerisches Projekt handelt, geht es im Kern um andere Ziele, und es soll Vertrauen geschaffen werden, damit es zukünftig Raum für künstlerische Experimente gibt.

In jedem künstlerischen Projekt an Schule immer hohe Innovationskraft, Wagnis oder Irritation durch die Kunst zu fordern, wäre daher vermessen und auch kontraproduktiv, denn das kann eine strategische Entwicklung langfristig verhindern. Es sollte immer das Ziel sein, Projekte zu ermöglichen, die den "Kern der Magie" treffen, wie es Matthias Vogel in seinem Text fordert.14 Dabei ist manchmal ein subversives Vorgehen einer Kulturagentin/eines Kulturagenten gefragt. Vorhaben mit hohem Risiko und großem Störpotenzial in der Wahrnehmung der Beteiligten könnten dann ermöglicht werden, wenn für die relevanten Entscheider, wie beispielsweise Schulleitung oder Kommunalverwaltungen, der Fokus auf andere Projektziele gelenkt wird, die mit dem künstlerischen Geschehen im Projekt nichts zu tun haben.

Bei diesem subversiven Vorgehen, erweist es sich sogar als Glücksfall, dass es eine solch große Bandbreite an Qualitätskriterien gibt, die sich nicht auf das Künstlerische in Projekten beziehen. Das, was in den Kapiteln zuvor als problematisch beschrieben wurde, lässt sich in einen unschätzbaren Vorteil verwandeln. Für die Anwendung dieses Vorgehens erweist sich eine genaue Kenntnis über die Interessenslage "Wer will was warum?" als sehr hilfreich. In dieser Rolle agieren die Kulturagenten im wahrsten Sinne des Wortes als "Agenten", da sie so quasi unbemerkt das Störpotenzial der Kunst im System Schule wirksam werden lassen können.

Neben strategischem und subversivem Vorgehen sind Kulturagentinnen und Kulturagenten auch offene Lobbyisten für die Kunst in der Schule, welche in der Konzeption und Reflexion von Projekten beständig den Fokus auf die Bereiche legen, den nur künstlerische Prozesse zu berühren vermögen. Dafür müssen sie sich zum einen ausreichende Definitionsmacht erarbeiten (durch Expertise, durch Vertrauen oder qua Amt als Vertreter des Programms). Zum anderen haben sie in der Gemengelage der unterschiedlichen Interessen eine wichtige Pufferfunktion, um die Räume für künstlerische Prozesse zu bewahren. Die Positionierung der Kulturagentinnen und Kulturagenten ist dabei abhängig von der jeweiligen Situation. Die Aussage einer Kulturagentin aus Berlin macht das schön deutlich: "Wenn ein Projekt inhaltlich zu stark curricular ausgerichtet ist, dann verliert es alles, was im künstlerischen Sinne sexy ist. Also kämpfe ich für die Kunst."

Im VEB-Modell ließe sich das folgendermaßen veranschaulichen.

Positionierung einer Kulturagentin/eines Kulturagenten als Pufferzone, um künstlerischen Freiraum gegenüber schulischen Ansprüchen zu erhalten
Grafik: Ralf Eger

Aber auch der Fall, dass die Angebote einer Kulturinstitution nicht zur Schule passen oder keinen kreativen Freiraum für die beteiligten Schülerinnen und Schüler lassen, erfordert die im Bild dargestellte Positionierung einer Kulturagentin/eines Kulturagenten.

Positionierung einer Kulturagentin/eines Kulturagenten als Pufferzone, damit die künstlerischen Vorhaben auch zur Schule passen
Grafik: Ralf Eger

Abschließend lässt sich feststellen, dass ein reflektierter Umgang mit Qualität und Qualitätssicherung bei Projekten an Schule wichtig ist. Die Ausrichtung von Projekten an Qualitätskriterien kann helfen, Projektvorhaben und Kooperation erfolgreich durchzuführen und die dafür notwendigen Strukturen in den Blick zu nehmen und zu etablieren. Sie sind aber kein Garant für die künstlerische Qualität eines Projektes. Diese muss immer wieder neu entstehen und stattfinden können. Dazu braucht es Störungslobbyisten, die den Raum für Kunst an Schule ermöglichen.

1 Liebald, Christiane; Münter, Ulrike (Hg.): Qualitätssicherung in der kulturellen Bildung, Remscheid: BKJ Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung 2010.

2 So lautet die Definition von Kunstgeld-Projekten in den Förderkriterien und Förderrichtlinien des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen".

3 Fuchs, Max: "Qualitätsdiskurse in der kulturellen Bildung", in: Liebald, C.; Münter, U., a. a. O.

4 Das Beispiel soll deutlich machen, dass außerhalb des Diskurses in der kulturellen Bildung, die Qualitätssicherung durchaus anders wahrgenommen wird, mit streng statistisch beschreibbaren Input-Output-Beziehungen und klar definierten Kontrollmöglichkeiten. Das kann bei Außenstehenden oder Entscheidern durchaus unerfüllbare Erwartungen erzeugen.

5 Mörsch, Carmen: ""Störungen haben Vorrang." Metareflexivität als Arbeitsprinzip für die künstlerisch-edukative Arbeit in Schulen", in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015.

6 Max Fuchs zitiert nach ebd.

7 Ebd.

8 Ebd.

9 Unveröffentlichte Notizen zur Frage "Was zeichnet in meinen Augen ein gutes künstlerisches Projekt an/mit Schulen aus?" im Rahmen einer Akademie im Kulturagentenprogramm. Es lagen 30 anonyme Antworten zur Auswertung vor.

10 Im Rahmen eines Workshops zum Thema "Qualität" während der Akademie im Kulturagentenprogramm im November 2014 wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmern gefragt: "Welches Qualitätskriterium halten Sie in künstlerischen Projekten an Schule für wesentlich?". Auch hier fiel die Mehrzahl der individuellen Antworten in den Bereich "Differenz/Störung".

11 Siehe Anm. 9.

12 Im Rahmen eines Workshops der Akademie im Kulturagentenprogramm von Matthias Vogel, Ralf Eger und Silke Ballath entwickeltes Modell zur systemischen Analyse von Qualitätskriterien.

13 Eine Antwort aus einem Workshop zum Thema Qualität während der Akademie im Kulturagentenprogramm im November 2014 auf die Frage: "Welches Qualitätskriterium halten Sie in künstlerischen Projekten an Schule für wesentlich?"

14 Vogel, Matthias: "Kern der Magie", in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015.