Eva Sturm
Die Position „Von Kunst aus“ in 9 Punkten dargelegt.
Eva Sturm

Die Position „Von Kunst aus“ in 9 Punkten dargelegt.

Rede für kunstvermittlungs-interessierte Leserinnen und Leser (Text mit Klammern). Oder: Vom Arbeiten mit Kunst. (2012)

Kunstvermittlung (was das ist, muss erst geklärt werden) geht keineswegs immer "Von Kunst aus". Meist geht sie von den eigenen – und (wissenschaftlich oder sonstige Weise) erarbeiteten – Annahmen über jene aus, mit denen/für die gearbeitet werden soll. Also davon, was diese an Vorwissen haben könnten, an Interessen, was sie verstehen könnten und so weiter. Das ergibt zum Beispiel bei Führungen einen Durchschnittstext für etwa eine Hauptschulabsolventin oder einen Hauptschulabsolventen. Oder man geht "zielgruppenspezifisch" vor und macht mit Grundschulkindern etwas anderes als mit Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern und mit Studierenden. Differenzierung und Nachdenken darüber, wer die Partnerinnen und Partner für Kunstvermittlungsaktionen sein können, ist notwendig. Unvermeidlich werden in jedem Fall Vorannahmen gemacht, Bilder erstellt. Die zugehörigen wissenschaftlichen Disziplinen heißen Pädagogik und Psychologie.

Pädagogik und Psychologie sind wichtig und unverzichtbar. Und ohne sich ein Bild von denen zu machen, mit denen man es zu tun haben wird, und davon, was angenommen wird, dass infolgedessen möglich sein könnte, ist keine Vermittlung möglich (sogenannte Grundschulkinder, Jugendliche, Menschen mit Migrationshintergrund1). Aber solche Bilder sind Fallen und sie sind keine Gelingens-Garanten. Sie sind Konstruktionen. Diejenigen, die sie entwerfen, sind darin enthalten. Statt also auf Nummer sicher gehen zu wollen, Risiken und Überraschungen vermeiden wollend, sei hier der Vorschlag unterbreitet, sich auf Unvorhersehbares einzustellen, auf Störungen, vielleicht auf "Ereignisse"2.

Die Kunst sei dafür als Bezugsdisziplin genannt, als Hintergrund und Aufenthaltsdiskurs. Die Kunst in ihrer historischen und gegenwärtig unendlichen Vielfalt und in ihren Möglichkeiten. Und schon ergibt sich ein Problem. Denn was heißt "die Kunst" und was heißt "in ihren Möglichkeiten"? Schon hat eine Unterstellung stattgefunden.

Zum Ersten – dem, was hier "Kunst" genannt wird:

(Auf das Zweite (die unterstellten Möglichkeiten) komme ich zurück.)

Wenn ein_e Kunstvermittler_in mit Menschen arbeitet, muss sie/er davon ausgehen, dass jene etwas anderes im Kopf haben, wenn sie an "Kunst" denken, als die/der Kunstvermittler_in. Denn, so lautet die Annahme, Kunstbegriffe gibt es so viele wie Menschen, die davon sprechen, darüber (mehr oder weniger) nachdenken, sie performen oder gar sie selbst machen – zum Beispiel als sogenannte Künstlerinnen und Künstler. Jede künstlerische Arbeit ist die Materialisation (oder Immaterialisation) eines bestimmten Kunstbegriffs.

1

Schlussfolgerung Nummer eins – und die Rede richtet sich jetzt an die geschätzte Leserin, den geschätzten Leser, als wollte sie/er tatsächlich Kunstvermittlung machen (und das kann man auch, wenn man jemandem das geliebte Bild über dem eigenen Schreibtisch erklärt): Wenn Sie mit Menschen – egal mit welchen – arbeiten, zeigen Sie (diesen) immer und unweigerlich etwas von Ihrem eigenen Kunstbegriff. Und das soll so sein. Sie können ja nur Ihren zeigen beziehungsweise das (ihr) Amalgam (eines Kunstbegriffs) aus Gelesenem, Gehörten, Erarbeitetem, Geschlossenem. Jede Rede von Objektivität und Neutralität ist Quatsch, mit Verlaub. Es ist sogar so, dass das Ihre Stärke sein kann ("von (Ihrem) Kunst(-begriff) aus").

2

Denn These Nummer zwei lautet: Wenn Sie Kunstvermittlung machen, also Sie persönlich, in welcher Form auch immer, wenn Sie also personale Kunstvermittlung realisieren (zum Beispiel, indem Sie das Bild über Ihrem Schreibtisch jemandem zeigen beziehungsweise erklären), dann passiert vielleicht etwas, das in der strukturalen Psychoanalyse "Übertragung" genannt wird. Übertragung ist die Unterstellung eines Wissens, das die/der Sprecher_in (Vermittler_in) hat und das man selbst gerne erwerben möchte. Dabei handelt es sich aber weniger um ein Faktenwissen als vielmehr um ein Wissen, das auf irgendeine Weise eine Rolle für einen selbst spielt – als Zuhörende_r. Welche Rolle, weiß man noch nicht. Darum hört man zu, um es herauszubekommen. Und darum ist man neugierig darauf, "begehrt" es. Solch ein "Ereignis" der Übertragung, also der Prozess einer Wissensunterstellung und die Produktion von Neugier darauf, ist, wie die strukturale Psychoanalyse lehrt, die Grundlage jeder Lehre und jeder Vermittlung. Es spielt auch in jeder Verliebtheit und in jedem guten Gespräch eine Rolle. Denn dann meinen Sie, der andere hätte Ihnen etwas (Entscheidendes, Wichtiges) zu sagen. Sie hängen an ihren/seinen Lippen.

Andersherum formuliert: Jemand, der einem nichts zu sagen hat, ist langweilig, dem mag man nicht zuhören. Jemand, der einem nicht verhilft, zu einem Wissen zu kommen, das man vorher nicht hatte, ist ein schlechter Lehrer. Die Übertragung läuft nicht.

Also gleich zwei Erkenntnisse als Voraussetzungen.

  1. Sie zeigen unweigerlich Ihren Kunstbegriff, wenn Sie Kunstvermittlung machen.
  2. Momente der Übertragung müssen zustande kommen können, damit sich etwas vermittelt. Damit, anders gesagt, die/der Zuhörende/Teilnehmende zu einem Wissen kommt, das vorher noch nicht da war.

Frage: Wie kann man solche Momente wahrscheinlich machen? Also: Wie kann man dem anderen Platz machen für die Entwicklung eigener Neugier, eigener Erkenntnisse?

Das ist eine andere Frage als die danach, wie man "jemanden da abholen kann, wo er steht". Man spricht in solchen Fällen gut gemeinter Befriedigung (ich weiß, was du brauchst) mitunter von "Taxifahrerpädagogik".

Zum Kunstbegriff ist noch etwas hinzuzufügen: Erstens, Sie können natürlich Ihren eigenen oder den von einer Künstlerin oder einem Künstler in der jeweiligen künstlerischen Arbeit, unweigerlich realisierten Kunstbegriff thematisieren. Wenn Sie Kunstvermittlung machen wollen. Sie müssen das vermutlich auch. Vor allem, wenn der Kunstbegriff selbst in der Arbeit mit ein Thema ist, also zur Debatte steht. Man denke beispielsweise an Marcel Duchamp. Zwei Umwege.

Abb. Flaschentrockner:

Marcel Duchamp (1887–1968): Flaschentrockner, 1914

Erst 1916, als er einige Zeit an dem […] "Großen Glas" gearbeitet hatte, überdachte Duchamp Rad und Flaschentrockner und schrieb seiner Schwester Suzanne nach Paris: "Hier in New York habe ich Objekte […] gekauft und sie "ready-made" genannt. […] Ich signiere sie und gebe ihnen eine Inschrift in Englisch. Ich gebe dir ein paar Beispiele: So habe ich eine große Schneeschaufel, auf welche ich unten geschrieben habe: Dem gebrochenen Arm voraus […]. Diese ganze Vorrede, um dir zu sagen: Nimm für dich diesen Flaschentrockner. Ich mache aus ihm ein Ready-made aus der Entfernung. Du wirst ihn unten […] beschriften, in kleinen Buchstaben mit einem Pinsel […] signiere wie folgt: Marcel Duchamp."3

Was geschieht hier mit dem Kunstbegriff, was mit dem sogenannten Publikum? Kunst wird zum Deklarations-, zum Hervorhebungsakt, zur Behauptung. Das Publikum bekommt eine tragende Rolle – Duchamp spricht davon, dass er zur Hälfte die Kunst mache, die andere Hälfte würden die Zuseher machen.4

Oder hier: Die unverschämte Umdeutung einer Kunstikone. Kunst wird zum Konzept.

Abb. Mona Lisa:

Marcel Duchamp (1887–1968): "L.H.O.O.Q.", 1941–1942

Sie können die Buchstaben auf diesem Bild englisch oder französisch lesen. Eine französische Lektüreweise ergibt auf Deutsch übersetzt den Satz: >ihr ist heiß im Arsch<. Duchamp sagte dazu: "Die Mona Lisa war so universell bekannt und bewundert, daß es eine große Versuchung war, sie für einen Skandal zu benutzen. Ich versuchte, diesen Schnurrbart sehr kunstvoll anzubringen. Auch entdeckte ich, daß das arme Mädchen mit einem Spitz- oder Schnurrbart sehr maskulin wurde – was sehr gut paßte zu Leonardos Homosexualität."5

1962 entstand dann die Arbeit "L.H.O.O.Q. rasiert" – eine Postkarte von der Mona Lisa – ohne Bart.

3

Ich komme an dieser Stelle zu einer dritten Beobachtung, wenn Kunstvermittlung sozusagen in Betrieb ist:

Es werden in diesem Prozess verschiedene Formen von Wissen relevant und realisiert. Das kann man selbst beobachten, wenn man Kunst (zum Beispiel einer Mona Lisa mit Schnurrbart) gegenübertritt. Es gibt Dinge, die man erzählt bekommen muss. Und es gibt Dinge, die entwickelt man in der Konfrontation – selbst und unvorhersehbar.

a) Hinrich Lühmann nennt das Erstere "Unterweisungswissen",

b) das Zweitere "Rede- oder Körperwissen".

Das Erstere ist (mehr oder weniger) zu haben. Lühmann: "Eine Generation will die nachfolgende auf das verpflichten, was sie für wissenswert hält. Das funktioniert am besten mit dem Benennbaren, dem Bekannten, dem Katalogisierbaren."6 Zum Beispiel "1962 entstand dann die Arbeit ,L.H.O.O.Q. rasiert" – eine Postkarte von der Mona Lisa – ohne Bart."

Das Zweiteres aber ist nur zu erringen. Man kann es nur selbst hervorbringen, denn es hat mit Erkenntnis zu tun – und die ist je spezifisch zu haben. Man kann nicht sagen, ob es auftaucht, ob, anders gesagt, eine Mona Lisa mit Bart "Sinn" macht. Dieses zweite Wissen hat also mit dem zu tun, was vorher nicht da, nicht deutlich war. Hinrich Lühmann hat den Körper in dem Wort mitgenannt, weil dieser dabei eine Rolle spielt. Und die Sprache. Man kann bei Heinrich von Kleist nachlesen, wie man zum Beispiel zu solchem Wissen kommen kann – in seinem Text "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden".7

Also: Sie haben es als Kunstvermittler_in mit Menschen zu tun. Und mit sich selbst natürlich. Und zwar ein bisschen unverfügbar in jeder Hinsicht und in jeder Richtung. Denn Sie wissen weder, was den Leuten durch den Kopf geistert, noch, was Ihnen im nächsten Moment einfallen wird. Wenn Sie aufmerksam sind und ein Auge und ein Ohr dafür haben, können Sie vielleicht wahrnehmen, was Sie einerseits alles tun (inklusive Versprechern, Stottern und Leidenschaften) und bewirken.8

4

Es kann auch sein, dass Sie gar nichts auslösen. Beziehungsweise dass die Kunst, mit der Sie und Ihre "Zielgruppe" es zu tun haben, gar nichts auslöst, keine Wirkungen zeigt. Mona Lisa mit Schnurrbart?

Dann ist kein Wissen entstanden, und es gibt Gähnen und Langeweile aufseiten Ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer beziehungsweise Mitmacher oder eben Nicht-Mitmacherinnen und Mitmachern. Oder Ärger. Langeweile taucht auf, wenn man keine Frage hat, wenn nichts aufregt, nichts offen ist. Wenn man beim Zuhören oder Dabei-Sein keinen Platz findet, um mitmachen zu wollen. Ärger hat etwas damit zu tun, wenn keine eigene Neugier entwickelt werden kann, wenn – mit der strukturalen Psychoanalyse gesprochen – das eigene Fragen weggemacht, negiert wird.

Was folgt daraus? Für jemanden müsste, damit es für sie oder ihn relevant wird (siehe Übertragung), eine Situation geschaffen werden, in der jemand auftauchen, Kontur erweisen, sich selbst überraschen kann. Dort ist der Arbeitsplatz von Kunstvermittler_innen. Ein Platz, der Fingerspitzengefühl braucht, der die Fähigkeit verlangt, zu schweigen und zuzuhören, Situationen zu drehen, zwischen den Worten wahrzunehmen, Sprache(n) und Körper nicht außer acht zu lassen, sich selbst/die eigenen Worte zu relativieren – Schwerarbeit (en mit Kunst).

Nun ist alles, was bisher gesagt wurde, nicht nur in der Kunstvermittlung so, sondern allgemein von Relevanz, wenn es ums Lehren, Vermitteln, Bilden geht. Es heißt zum Beispiel, dass Bildungseffekte nicht vorhersehbar und nicht verfügbar sind, also nicht gewollt werden können.9 Das ist auch so, wenn Sie Mathematik vermitteln oder Geschichte. Auch dann zeigen Sie Ihr Verständnis von Mathematik und Geschichte. Auch dann muss Übertragung stattfinden, sonst passiert nichts. Auch dann müssen verschiedene Wissensformationen stattfinden, und auch dann tritt Langeweile auf, wenn man keine eigene Frage entwickeln kann.

Was also ist das Besondere, wenn man mit Kunst zu tun hat. Was wird ihr hier an "Möglichkeiten" unterstellt?

5

Ich setze noch einmal beim Wissen an. Von Unterweisungswissen und von Rede- oder Körperwissen war die Rede. Es gibt noch eine dritte Form von Wissen, die in der Kunst zentral ist – es wurde mit Marcel Duchamp schon angedeutet. Das ist – und dies ist nun mein 5. Punkt: das

c) Reflexionswissen.10

Dieses schließt an den Gedanken an, dass Kunst sehr lange schon mitthematisiert, wie sie selbst entsteht, wann sie zu einer solchen wird, welche Rolle das "Publikum" spielt, wie es zu Teilhabenden wird. Kunst thematisiert sich mitunter (denn das ist nicht in jedem Fall so) selbst als Kunst. Readymades machen, einen Schnurrbart zufügen – wo und wann ist die Kunst? Kunst kann in solchen Anteilen selbst dekonstruktive Züge11 entwickeln. Sie untersucht sich selbst, unterläuft herkömmliche Denkmechanismen und -traditionen, untersucht darin, wie sie auf der Welt ist, wie Welt funktioniert (für uns).

Ein anderes Beispiel, älter als Marcel Duchamp, in dem solch ein Funktionieren von Welt als Zusammenhang thematisch wird. Michel Foucault hat es in seiner "Ordnung der Dinge" analysiert.12 Und noch einmal ein Stück Kunstvermittlung mit Unterweisungswissen, hier mit Wikipedia.

Abb. Velasquez: "Las Meninas"

Diego Velasquez (1599–1669): "Las Meninas o la familia de Felipe IV", 1656

Mit Publikum und Kunstvermittlerin im Vordergrund

"Las Meninas zeigt einen großen Raum des Alcázar von Madrid, der Hauptresidenz von König Philipp IV. von Spanien. Zu sehen sind mehrere, überwiegend eindeutig identifizierbare Personen des spanischen Hofes. Im Mittelpunkt befindet sich die fünfjährige Königstochter Margarita umgeben von Hoffräulein, einem Wächter, zwei so genannten Hofzwergen und einem Hund. Links von ihnen steht Velázquez, der gerade an einer großen Leinwand arbeitet und seinen Blick zum Betrachter richtet. […] Ein Spiegel hängt im Hintergrund und reflektiert die Oberkörper von König und Königin. Das königliche Paar scheint außerhalb des abgebildeten Raums zu stehen und ähnlich wie der Betrachter des Gemäldes zu den abgebildeten Personen zu blicken. Nach Ansicht einiger Kunsthistoriker reflektiert der Spiegel jedoch lediglich das Gemälde, an dem Velázquez gerade arbeitet.

Las Meninas ist eines der meistdiskutierten Gemälde der Kunstgeschichte. Der Barockmaler Luca Giordano behauptete von dem Gemälde, dass es die ,Theologie des Malens" darstelle. Der Maler Thomas Lawrence nannte es im 19. Jahrhundert ein Werk über die ,Philosophie der Kunst". Bis heute wird es immer wieder als das bedeutendste Gemälde von Velázquez beschrieben und gilt als eine selbstbewusste, durchdachte Reflexion darüber, was ein Gemälde darstellen kann."13

6

Vermutlich bekommen Sie es auf solche oder andere Weise – es wurde schon angedeutet – in der Kunstvermittlung mit etwas zu tun, das zunächst möglicherweise aussieht, als wäre der Sinn nicht da, sondern weg. Oder als wäre es überhaupt unsinnig, mein 6. Punkt. Aber wenn Sie sich damit beschäftigen, nachdenkend, sprechend, schreibend (Rede- oder Körper-)Wissen produzieren, zu einer Erkenntnis sich vortasten, bekommt der Unsinn Sinn. Die These lautet also: Kunst (und hier zeige ich schon wieder meinen Kunstbegriff) sieht oft aus wie Unsinn, aber dieser Unsinn kann produktiv werden, wenn er in Sinn umschlägt. Sinn ist außersprachlich, er ist ein Effekt. Es ist nicht klar, wann er auftaucht. In der Kunst ist er, wie Pazzini vermutet, wahrscheinlich.14 Er lauert zwischen den Teilen und Elementen, aus denen eine künstlerische Arbeit besteht. Eine Schneeschaufel, Begriffe; das Bild eines berühmten Malers, Pinselstriche; einzelne Komponenten auf einem Bild, die miteinander und mit dem Publikum zu tun haben, aber wie genau, bleibt rätselhaft. Und nur um hier und jetzt zu zeigen, was z.B. produktiver Unsinn (nicht Quatsch) ist, zitiere ich einen Text von Lewis Carroll, in dem der Unsinn sich erstens zeigt und, indem er auftaucht, zeigt er eine ganze Reihe von Sachen, wirbelt sie durcheinander. Das ist auch bei anderen künstlerischen Arbeiten so, zumindest kann das so sein, und es kann unterschiedlich komplex sein (hier lauert meiner Meinung nach eine Qualitätsdiskussion).

Also Lewis Carroll, ein Stück Literatur:

Brief von Lewis Carroll an Magdalen Millard:

"Ich muß Dir erklären, warum ich gestern nicht gekommen bin. […] Ich habe den Leuten auf der Straße zu erklären versucht, daß ich auf dem Weg zu Dir wäre, aber sie hörten einfach nicht zu; sie sagten, sie hätten"s eilig, und das war ungezogen. Schließlich traf ich einen Schubkarren, von dem ich dachte, er würde mir zuhören, aber ich konnte nicht herausbringen, was in ihm steckte. Zuerst sah ich ein paar Falten, dann blickte ich durch ein Teleskop und sah, daß es eine Miene war; dann blickte ich durch ein Mikroskop und fand, daß es ein Gesicht war! Ich glaubte, es sähe mir ziemlich ähnlich, also holte ich einen großen Spiegel um sicherzugehen, und dann fand ich zu meiner großen Freude, daß ich es selbst war. Wir schüttelten uns die Hand und wollten uns gerade unterhalten, da kam mein Ich herbei und gesellte sich zu uns, und wir unterhielten uns recht angenehm miteinander. Ich sagte, "Erinnert ihr euch, wie wir uns alle in Sandown getroffen haben?", und mein Ich sagte, "Es war dort sehr lustig: wir kannten ein Mädchen, das hieß Magdalen", und mein Selbst sagte, "Ich hatte sie eigentlich ein bißchen gern; nicht sehr, wißt ihr – nur ein bißchen". Dann war es Zeit für uns, zum Zug zu gehen, und wer, glaubst Du hat uns zum Bahnhof gebracht? Du würdest doch nie draufkommen, deshalb will ich"s Dir sagen. Es waren zwei sehr liebe Freunde von mir, die zufällig auch jetzt gerade bei mir sind und darum bitten, diesen Brief herzlichst als Deine Freunde unterzeichnen zu dürfen. --- Lewis Carroll und C. L. Dodgson"15

So geht es also (ich schließe stammelnd) in dem Brief um Identität als Konstruktion, als Rätsel. Und es geht darum, dass man niemals nur einer ist, sondern so viele, dass man mitunter gar nicht durchblickt. Solche Konstruktionen werden zum Beispiel thematisch in künstlerischen Arbeiten – ob als Bild, als Wort, als Text oder Raumgefüge.

7

Und thematisch wird damit auch – Punkt 7: Die Welt ist wie ein Buch, alles kann als Text gelesen werden. Und wenn nicht dauernd sortiert und strukturiert werden würde, dann wäre alles ein Durcheinander. Das schließt auch die Bilder ein. Bilder müssen gelesen werden, damit man über sie kommunizieren kann. Es sei denn, man singt über Bilder – mit oder ohne Worte –, auch das gibt es in der Vermittlung. Oder man malt weitere Bilder. Zum Beispiel wie Picasso in seinem Zyklus zu "Las Meninas". Es muss ständig übersetzt werden. Dabei bleiben Reste. Die halten den Prozess in Gang.

Ich komme an dieser Stelle darauf zurück, was Kunst angeblich vermag, denn auch wenn hier scheinbar ständig von denen gesprochen wird, die sie lesen, vermitteln, von ihr gedanklich oder sonst wie in Betrieb gesetzt werden, so wird in Wahrheit stets von Kunst gesprochen. Denn – so lautet eine These von Karl-Josef Pazzini – Kunst existiert (überhaupt) nicht, es sei denn, sie wird in irgendeiner Weise "angewandt"16, also fortgesetzt, gelesen, gelebt, immer wieder übersetzt. Kunst spielt keine Rolle ohne jene, die sie rezipieren, wie auch Marcel Duchamp feststellte.

Der französische Philosoph Gilles Deleuze unterstellt Kunst ein Vermögen, das diesem Angewendet-werden-Müssen entspricht. Er geht davon aus, dass alles "eigentlich" unsortiert existiert und dass wir Menschen in Kultur und Alltag ununterbrochen ordnen. Aber Kunst macht Schlitze in diese Ordnung, und durch diese Schlitze dringt etwas ein von einem windigen Chaos, in dem nicht alles geordnet ist. Kunst vermag so für Momente Sachen umzusortieren, die fix zu sein scheinen. Kunst wirbelt durcheinander. Sie zeigt darauf, dass es auch anders sein könnte, indem sie darauf verweist, wie es daherkommt. Sie mischt sich ein und macht eine Verschiebung, eine Veränderung. Ein Schnurrbart an der falschen Stelle, eine verwirrende Deklaration ("Das ist Kunst") und damit eine Verschiebung. Der König und die Königin im Raum und doch nicht anwesend.

Dazu gäbe es zahlreiche Beispiele aufzuzählen.

Und sie müssen alle fortgesetzt, übersetzt werden – in unterschiedliche Sprachen, auf unterschiedliche symbolische Ebenen, die wieder übersetzt werden. Oder aus der Sprache hinaus verweisen, an ihre Grenzen gehen, dahin, wo etwas eigentlich nicht sagbar ist.

Auch hier ist der Ort der Kunstvermittlung. Wo es nicht mehr klar zu zeigen, zu sagen, zu erklären ist. Was macht sie dann? Bekommt sie es – angesichts solcher Schlitze im Schirm – mit der Angst zu tun und redet alles zu, verschließt alle Undeutlichkeiten mit Worten, mit Erklärungen, Unterweisungen, selbst produziertem Rede- oder Körperwissen? Oder lässt sich auch löchrig arbeiten – mit Kunst?

8

Roland Barthes spricht – mein Punkt 8 – von zweierlei Arten, wie man sich mit einem Foto beschäftigen kann. Ich übertrage seine Rede auf andere künstlerische Arbeiten, zum Beispiel auf Bilder oder oder oder …

a) punctum

b) studium17

Das punctum ist entscheidend. Es taucht plötzlich auf, wie ein Blitz durchbricht es bisherige Zusammenhänge. Es lauert wieder eher auf der Seite der Neugier und des Nicht-Sagbaren.

Bernhard Waldenfels beschreibt dieses Auftauchen und Durchbrechen als Grundmuster für Erfahrung überhaupt. Erfahrung bestünde im Wesentlichen aus zwei Polen, so Waldenfels, die durch eine Bruchlinie verbunden sind. Den einen Pol nennt er "Widerfahrnis" oder "Getroffensein", den anderen "Response" oder "Antwort". Ein Handyklingeln lässt vielleicht zusammenzucken, wenn unerwartet. Mit der Einordnung des Geräusches in den eigenen Sinnhorizont wird bereits geantwortet.

Waldenfels schreibt: Im Widerfahrnis "taucht etwas auf, bevor es als etwas aufgefasst, verstanden und abgewehrt wird. Die Störerfahrung ist aber nicht zu verwechseln mit der nachträglichen Deutung als Störung und entsprechenen Abwehrmaßnahmen, mit denen wir unsere Fassung zurück gewinnen."18 Die Kunstpädagogin Andrea Sabisch verweist darauf, dass bei Waldenfels die Art und Weise, wie die Erfahrung artikuliert wird, offen ist. Es kann sprachlich sein, aber auch situativ oder leiblich.19 In ästhetischen Erfahrungen wird dieser Charakter der Erfahrung sichtbar und bearbeitbar.

Etwas gerät buchstäblich ein wenig aus den Fugen.

Und dann wird eine Antwort auf dieses Aus-den-Fugen-Geraten gemacht. Die kann ästhetisch sein. Chance der Vermittlung, der Lehre!

9

Von Kunst geht etwas aus, das fortgesetzt werden kann. Je spezifisch, je singulär, als Antwort, als Denken, die/das für jede und jeden anders aussehen müsste, sich anders anhören könnte, zwangsweise. Weil jede und jeder andere Bilder im Kopf hat, andere Texte von Welt. Aber es gäbe auch ähnliche Gedanken, Erfahrungen, Worte – Überschneidungen, Übereinstimmungen, Widerhall – sonst wäre Kunst nur immer für eine Person relevant. In ihrem Wirken findet man sich, so etwas wie Gemeinschaft (im Sinne von Jean Luc Nancy20) kann sich herstellen. Kommunikation ereignet sich. In allen erdenklichen Formen und Unformen. In Mündern und Körpern und Spurenhaftem, Hinterlassenem …

Noch einmal Gilles Deleuze: Der spricht von Fluchtlinien der Kunst. Wenn die sich fortsetzen, dann lebt Kunst weiter – von Kunst aus.

Dieser Text ist erschienen in: Olbrich, Veronika (Hg.): Ortsgespräch – ein Kunstvermittlungsprojekt der Städtischen Galerie Nordhorn, Städtische Galerie Nordhorn, Nordhorn 2012, S. 14–25.

Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

1 Der Migrationspädagoge spricht von MMMs und MOMs, Menschen mit und Menschen ohne Migrationshintergrund, um darauf zu verweisen, dass es sich um sprachliche Konstruktionen handelt. Vgl. auch Mecheril, Paul u. a.: Migrationspädagogik, Weinheim, Basel 2010.

2 Derrida, Jacques: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003.

3 Duchamp zitiert nach Mink, Janis: Marcel Duchamp. 1887–1968. Kunst als Gegenkunst, Köln 1994, S. 57f.

4 Vgl. dazu Dimke, Ana: Duchamps Künstler Theorie, Münden 2001.

5 Duchamp zit. nach ebd., S. 121. Von hier aus lassen sich Verbindungen herstellen zu Freuds Leonardo-Deutungen. Siehe ebd., S. 121f.

6 Lühmann, Hinrich: "Der Knabe Eros geht zur Schule. Übertragungsliebe in öffentlicher Anstalt", in: Brief der Psychoanalytischen Assoziation. Zeit zum Begreifen. Berlin. Brief Nr. 13 vom 14.7.1994, S. 5f .

7 Kleist, Heinrich von: "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" (1806), in: Ders.: Über das Marionettentheater (1810), Reinbek 1964, S. 5f.

8 Vgl. Sturm, Eva: Im Engpass der Worte. Sprechen über moderne und zeitgenössische Kunst, Berlin 1996.

9 Vgl. Wimmer, Michael: "Die Gabe der Bildung. Überlegungen zum Verhältnis von Singularität und Gerechtigkeit im Bildungsgedanken", in: Masschelein, Jan; Wimmer, Michael: Alterität, Pluralität, Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik, St. Augustin/Leuven 1996, S. 127–162, hier: S. 127f.

10 Der Begriff stammt von Karl-Josef Pazzini. Vgl. Sturm, E., a. a. O.

11 Vgl. z. B. Sturm, Eva: "Kunstvermittlung als Dekonstruktion", in: Neue Gesellschaft Bildende Künste (NGBK) (Hg.): KunstCoop, Berlin 2003, S. 27f; vgl. Mörsch, Carmen: "Am Kreuzungspunkt von vier Diskursen: Die documenta 12 Vermittlung zwischen Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion und Transformation", in: Dies. (Hg.): Kunstvermittlung II. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts. Zürich/Berlin 2009, S. 9f.

12 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1974.

13 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Las_Meninas [01.03.2012]

14 Vgl. Pazzini, Karl-Josef: "Über die Produktivität von Unsinn", in: Warzecha, Birgit (Hg.): Hamburger Vorlesungen über Psychoanalyse und Erziehung, Hamburg 1999, S. 137f, online: http://mms.uni-hamburg.de/blogs/pazzini/wp-content/uploads/2008/03/unsinn.pdf [6.3.2012].

15 Carroll, Lewis: Briefe an kleine Mädchen, hg. von K. Reichert, Frankfurt/M., Leipzig 1994, S: 77f.

16 Pazzini, Karl-Josef: "Kunst existiert nicht. Es sei denn als angewandte", in: Thesis. Tatort Kunsterziehung. Tagungsband des Symposiums vom Herbst 1999 in Weimar. Bauhaus-Universität-Weimar 2, Heft 2000 46. Jg., S. 9f.

17 Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/M. 1989.

18 Vgl. Sabisch, Andrea: Aufzeichnung und ästhetische Erfahrung, in: Pazzini, Karl-Josef u. a. (Hg.): Kunstpädagogische Positionen 20, Hamburg 2009, S. 9.

19 Vgl. Sabisch, A., a. a. O., S. 10.

20 Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988.