Karl Philipp Schmitz
Was man von einem Haufen Linsen lernen kann
Karl Philipp Schmitz

Was man von einem Haufen Linsen lernen kann

-

Einen Haufen Linsen zu bilden, ist relativ einfach: Man lässt eine definierte Menge davon auf einen Untergrund fallen, und schon ist der Haufen entstanden. Der Versuch allerdings, jeden neuen Haufen wieder genauso hinzubekommen wie den ersten, wird voraussichtlich scheitern. Zu unberechenbar ist die Form jeder einzelnen Linse, wie sie fällt, dabei mit den anderen Linsen zusammenstößt, aufschlägt, abprallt und Teil des Haufens wird. Hingegen sind die Rahmenbedingungen recht präzise steuerbar: Wind, egal woher, die Höhe und damit die Dauer und Geschwindigkeit des Falls sowie der Untergrund, ob die Linsen auf Moos oder auf Beton aufschlagen. Die professionelle Herstellung der natürlichen Schönheit eines Linsenhaufens bedarf also einer gewissen Präzision bei Planung und Steuerung der Rahmenbedingungen, um den sicheren (Zu-)Fall der Linsen gewährleisten zu können.

Und was hat das mit der Tätigkeit eines Kulturagenten zu tun? Es ist dem ausgewogenen Verhältnis von Zufall und Präzision geschuldet, wie sich der Linsenhaufen bildet und welche Form er annimmt. Analog dazu gilt es, innerhalb unbekannter Dimensionen verlässliche Rahmenbedingungen für künstlerische Prozesse an Schulen zu definieren und diese zu kommunizieren. Dies ist die Aufgabe der Kulturagentinnen und Kulturagenten. Ihr Ziel sollte es sein, ein Minimum an Planbarkeit zu gewährleisten, sodass ein maximal unvorhersehbares intuitives Arbeiten mit den Schülerinnen und Schülern ermöglicht wird. Je präziser die Rahmenbedingungen bekannt sind, umso gezielter können Unvorhersehbarkeit und Zufall schlummernde kreative Potenziale und Prozesse entzünden.

Vor meinem Start als Kulturagent war mir bekannt, dass sich alle drei Schulen meines Netzwerkes – die Grund- und Werkrealschule Munderkingen, die Realschule Munderkingen und die Förderschule Munderkingen – auf einem gemeinsamen Campus befinden. Die ländliche schwäbische Region der mittelalterlichen Stadt Munderkingen ist unter anderem für die Pflege von Blasmusik auf einem hohen Niveau berühmt. Die Präsenz einzelner Künstlerinnen und Künstler sowie ihrer kulturellen Angebote ist im Vergleich dazu sehr gering, da sie selten über eine gemeinsame Schnittstelle vernetzt sind, meist nur über Mundpropaganda kommuniziert werden und nicht unbedingt über einen repräsentativen Internetauftritt verfügen.

Um mich auf Grundlage der Zielstellungen1 des Modellprogramms den Schulen zu nähern, war es zunächst wichtig, die Haltungen zu den bereits vorhandenen kulturellen Angeboten der Region in den Schulen zu erkunden. Erst mit diesem Wissen konnten weitere konkrete Prozesse angeregt werden, um kulturelle Bildung in die bereits vorhandenen Strukturen einzupflegen. Neben der Schulleitung sind vor allem Sekretariate und Hausmeister zentrale Schnittstellen an Schulen, ohne die ein Großteil der Kommunikation mit außerschulischen Akteuren nicht möglich wäre. Ich entschloss mich daher, ein einwöchiges Praktikum bei diesen Schnittstellen jeder Schule zu machen. Dies ermöglichte mir in kurzer Zeit, Einblicke in die unterschiedlichen Facetten der Alltagskultur der Schulen und der unmittelbaren Region zu erhalten. Neben der alltäglichen Routine und den gewohnten Abläufen beider Arbeitsbereiche wurde deutlich, dass bereits verschiedene künstlerische Aktivitäten in den Schulen stattgefunden hatten. Beispielsweise hatten die Lehrerinnen und Lehrer selbst mit den Schülerinnen und Schülern verschiedene Theaterstücke und Musicals zur Aufführung gebracht. Viel Wert wurde auch auf die Einrichtung einer Bläserklasse gelegt, wobei die lokale Jugendmusikschule durch die Kooperation mit den Schulen die Nachwuchsförderung für die lokale Blasmusikkultur fördern wollte. Ein offenes Projekt war dabei die Aufführung eines Musicals zusammen mit dem Jugendorchester der Stadtkapelle Munderkingen. Dadurch, dass ich den Hausmeister in seiner täglichen Routine begleitete, bekam ich zudem die Haustechnik verschiedener Generationen zu Gesicht, die durch das für die jeweilige Zeit typische Industriedesign in einem beeindruckenden Zusammenspiel von Farben und Formen gekennzeichnet war. Der Zahn der Zeit hatte darüber hinaus überall eine fast romantische Patina hinzugefügt. Es lag nahe, dieses "lebendige Museum der Technik" von Schülerinnen und Schülern im Rahmen ihres Unterrichts fotografisch dokumentieren zu lassen. Diese Einblicke in die Schulkultur boten mir einen ersten Ansatzpunkt: Es entstand ein Kunstprojekt, das die Möglichkeiten der kulturellen Bildung in Schulen jenseits der Blasmusik verdeutlichen konnte. Zudem sollten die Schülerinnen und Schüler aller drei Schulen zum ersten Mal die Kapazitäten von Smartphones in ihren Unterricht einbringen können. Geführt von den Hausmeistern wurden die technischen Anlagen von der Schwimmbadtechnik von vor 50 Jahren bis zum aktuellen Blockheizkraftwerk, zu denen bis dahin ausschließlich die Hausmeister Zugang hatten, fotografisch mit den Smartphones dokumentiert und anschließend im historischen Stadtkern in Schaufenstern als digitale Fotoinstallation präsentiert. Dieses erste künstlerische Format kann nun, unabhängig von externer Finanzierung, von den Schulen jederzeit und immer wieder neu umgesetzt werden. Gleichzeitig erfolgt auf diese Weise eine Beteiligung der Hausmeister über ihre gewohnte Tätigkeit hinaus am Unterricht, was der Förderung der alltäglichen Schulkultur zugutekommt. Für die Entwicklung der Kulturagententätigkeit war damit ein erster Schritt gemacht worden, um für folgende künstlerische Projekte Aufmerksamkeit zu erhalten.

Fotografien der Schülerinnen und Schüler zusammengestellt von K.P. Schmitz

Der Einblick in die Kommunikationsstrukturen der Schulen im Rahmen der Praktika verdeutlichte mir, wie sich in jeder der drei Schulen der Kommunikationsstil an der jeweiligen Schulleitung orientierte. In der Grund- und Werkrealschule und in der Realschule hatte zudem gerade ein Schulleitungswechsel stattgefunden, sodass die Kollegien sich jeweils der neuen Kommunikationskultur anpassten. Gleichzeitig wurde von der Landesregierung Baden-Württembergs eine Schulreform durchgeführt, die Realschule und Werkrealschule in einer Gemeinschaftsschule vereinigen sollte, wodurch die langfristige Existenz der Schulen, wie sie bisher über Jahrzehnte bestand, infrage gestellt wurde. Die Schulleitung bleibt hier in der Regel der einzige Ansprechpartner, um ein Angebot passgenau in den Schulen kommunizieren zu können. Wöchentlich erhalten die Schulleitungen deshalb auch eine Vielzahl an Angeboten für alle Fachbereiche, die sie neben ihren zentralen Aufgaben kaum wahrnehmen können. Unter solchen Umständen ist die Arbeit eines Kulturagenten sehr willkommen, da dieser als Schnittstelle zwischen kulturellen Angeboten und schulischem Alltag wirken kann.

Alle drei Schulen waren sich schnell einig, dass die kulturellen Angebote im Rahmen des Modellprogramms allen Akteuren der Schulgemeinschaft zur Verfügung stehen sollen. Damit die unterschiedlichen Stundenpläne die Projekte nicht durchkreuzten, sollten Angebote nachmittags außerhalb der regulären Unterrichtszeit stattfinden. Mit diesen klaren Vorgaben waren erste gute Voraussetzungen entstanden, wie Projekte für alle entwickelt und umgesetzt werden konnten.

Mit dem Landestheater Tübingen und dem Ulmer Museum zeigten sich zwei größere Kulturinstitutionen bereit, sich mit den Schulen auf den Weg zu machen, kulturelle Bildung gemeinsam zu gestalten. Mit den Mitteln des Theaters sollten Geschichten aus dem Alltag der Schülerinnen und Schüler für die Bühne entwickelt werden, die zusammen mit dem Blasorchester der Stadtkapelle zu einem Musical weiterentwickelt werden konnten. Die Kooperation mit dem Ulmer Museum zielte darauf ab, für Kunst im öffentlichen Raum zu begeistern, indem nach einem Studium verschiedener öffentlicher Kunstwerke, Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit einem Künstlerteam für den öffentlichen Raum in Munderkingen eine Installation entwickeln und realisieren. Bedauerlicherweise konnten beide Projekte nur mit kleiner Teilnehmerzahl starten, jedoch mit der Hoffnung, diese im Laufe der Projekte durch ansteckende Begeisterung zu vergrößern. Nachdem dies nicht eintrat, musste der vom ländlichen Raum geforderte Tribut akzeptiert werden, der Schülerinnen und Schüler nach Schulschluss an die Abfahrtzeiten der Schulbusse bindet, die teilweise bis zu eineinhalb Stunden unterwegs sind. Trotzdem wurden die Projekte fortgeführt. Niemand wollte den Eifer der Schülerinnen und Schüler einschränken, die sich jede Woche auf das künstlerische Arbeiten freuten. Am Ende erreichten aber beide Projekte ihre Ziele: Eine überdimensionierte Form eines Eisstocks als öffentliche Sitzgelegenheit, das zentrale Spielgerät des regional beliebten Wintersports des Eisstockschießens, wurde feierlich enthüllt sowie ein eigenes Stück zum Thema "Heimat" entwickelt und aufgeführt, bei dem der biografische Hintergrund der Schülerinnen und Schüler selbst zum Thema wurde.

Da die An- und Abfahrt der Busse nicht verändert werden konnten, war die Integration von Projekten in den Unterricht die nahe liegende und einzige Lösung, wie in Munderkingen möglichst viele Schülerinnen und Schüler von den Angeboten des Kulturagentenprogramms profitieren konnten. Gleichzeitig beinhaltete diese Entscheidung eine Herausforderung für das ausgeprägte traditionelle Bewusstsein der schwäbischen Region: Es galt, ein prozessorientiertes Arbeiten anstelle eines jahrzehntelang entwickelten ergebnisorientierten Notensystems der Schulen im Unterricht zuzulassen. Statt dass Lernprozesse hauptsächlich von einem lehrerzentrierten Handeln ausgehen, findet nun eine Förderung des natürlich veranlagten individuellen Lernwillens statt. Diese Kursänderungen im gewohnten Schulalltag werden optimalerweise von Schulleitungen mitgetragen, da sie entscheiden, welche langfristigen Änderungen möglich sind. Die Anregung, einen neuen Weg über die kulturelle Bildung zu beschreiten, wurde in Munderkingen zunächst mit einer Änderung der Führungskultur erreicht. Ein wichtiger Aspekt für die Schulleitung war es hier, vor allem einen Blick von außen auf den Schulalltag zu richten, also nicht im, sondern am Schulsystem zu arbeiten. Wenn der Lernraum von Schülerinnen und Schülern mit gestaltet werden soll, müssen Lehrerinnen und Lehrer ihren Lehrraum auch entsprechend gestalten können. Hierfür sind individuelle Absprachen von Ideen und Unterrichtszeit mit einzelnen Kolleginnen und Kollegen nötig, die konstruktiv von der Schulleitung unterstützt werden und denen im Schulalltag Raum gegeben wird. Ihnen wird als kompetente und kreative Menschen vertraut, die individuelle Stärken und Schwächen in unterschiedliche Bereiche einbringen zu können, anstatt auf Weisung zu handeln. Dabei ist eine Wertschätzungskultur für die gesamte Schulgemeinschaft entstanden, die ein an Stärken orientiertes Denken und Handeln fördert.

Nachdem die ersten Projekte demonstrierten, wie gemeinsam mit Kulturinstitutionen und Kunstschaffenden als externe Experten Unterrichtsinhalte fächerübergreifend auf verschiedenen Ebenen parallel thematisiert werden konnten, während gleichzeitig beeindruckende künstlerische Ergebnisse die Schule veränderten, wuchs die Neugierde der beteiligten Akteure. Mehr Lehrerinnen und Lehrer waren bereit, ihren Schülerinnen und Schülern diesen Zugang zu Lerninhalten über die Künste zu öffnen. Gemeinsam wurde für den Stundenplan des Folgejahres überlegt, wie die Termine von allen Beteiligten so abgestimmt werden könnten, dass Kooperationen mit den Kulturpartnern möglich würden. Dass die eigenen Kenntnisse über künstlerische Prozesse im Kollegium weniger ausgeprägt waren, wurde nicht mehr als Mangel wahrgenommen, da Künstlerinnen und Künstler hier das nötige Know-how mitbrachten, sodass sich Lehrerinnen und Lehrer auf ihre pädagogischen Künste konzentrieren konnten. Für die zu vermittelnden Unterrichtsinhalte entstand gleichzeitig eine größere Neugierde der Schülerinnen und Schüler. Beispielsweise wurden mathematische Problemstellungen in selbst animierten Filmen thematisiert. Dem Protagonisten Herbert aus einem der entstandenen Filme gelang es beispielsweise dank Vektorrechnung Hindernisse zu überwinden, um zu seiner scheinbaren Freundin auf der anderen Flussseite zu gelangen. Bei diesen Filmen konnten unter anderem die Fächer Mathematik, Deutsch, Kunst und Technik zusammenwirken und das gesamte Stundenkontingent dem Kooperationsprojekt mit einer Jugendkunstschule zur Verfügung gestellt werden. Die Bereitschaft, sich für die Fächerinhalte zu engagieren, wuchs mit der Begeisterung für die eigene Geschichte über den Nutzen von Mathematik.

Bei den Kunstprojekten sorgte immer wieder für Überraschung, dass Schülerinnen und Schüler durch die Beschäftigung mit künstlerischen Techniken Eigenschaften und Talente zeigten, die vorher nicht wahrgenommen wurden. Im letzten Schuljahr des Modellprogramms waren so jede Woche bis zu zehn Künstlerinnen und Künstler in den Unterricht der drei Schulen integriert. Ein prozessorientiertes Vorgehen stand dem ergebnisorientierten Notensystem jetzt nicht mehr gegenüber, sondern wurde als Unterstützung wahrgenommen, wodurch sich sogar Notendurchschnitte verbessert haben.

Prinzipiell sind damit Rahmenbedingungen gegeben, um passgenaue kulturelle Bildungsprojekte als Teil des Schulalltags zu etablieren. Schulleitungen und Kollegien wissen, wofür es sich lohnt, in Absprache mit engagierten Kulturpartnern entsprechend Zeit und Raum zu gestalten. Durch den Kulturagenten ist eine Kommunikationsschnittstelle für alle Fragestellungen nach innen und außen vor Ort besetzt, die gleichzeitig die finanzielle Förderung durch das Modellprogramm beinhaltet. Zudem führt die Zusammenarbeit zwischen den Schulen und den Kulturpartnern immer wieder zu der begeisterten Teilnahme der Schülerinnen und Schüler. Dies äußerte sich zum einen darin, dass von ihnen inzwischen selbst künstlerische Projekte im Unterricht gefordert werden. Zum anderen in der von Lehrerinnen und Lehrern beobachtete Zunahme von sozialen Kompetenzen wie beispielsweise Selbstverantwortung, Ausdauer, Kompromiss- und Kritikfähigkeit.

Trotzdem bleibt bei einigen Lehrerinnen und Lehrern die Skepsis im Hinblick auf die Frage, wie nach Ablauf des Programms die bisher erreichte Qualität der Angebote kultureller Bildung im schulischen Alltag sowie die Zusammenarbeit mit externen Kulturpartnern weiter umgesetzt werden können. Dass die Kulturbeauftragten der Schulen beispielsweise die Aufgaben des Kulturagenten übernehmen könnten, erscheint selbst angesichts der Größe minimaler Schulvisionen in keinem realistischen Verhältnis zu den verfügbaren Lehrerarbeitsstunden zu stehen. Diese Skepsis ist nachvollziehbar, doch weicht sie immer mehr der Erkenntnis, dass Kunst im Unterricht die Chancen von jungen Menschen zur Teilhabe an gesellschaftlicher Kultur verbessert. Diese Chancen äußern sich vor allem in dem genannten Kompetenzzuwachs und der dadurch geförderten Ausbildungsreife, die von allen Ausbildungsbetrieben und Institutionen bei Schulabgängern angemahnt wird. Die in den künstlerischen Projekten geforderte eigene Motivation sowie das selbstständige Arbeiten zur Umsetzung selbst formulierter Ideen ermöglichen es den Schülerinnen und Schülern, unterschiedliche Perspektiven von Problemstellungen nachzuvollziehen und ihr Handeln danach auszurichten. Ausbildungsreife durch kulturelle Bildung zu fördern, kommt den Interessen der Schulausbildung zugute, in die auch im Hinblick auf den teilweise fehlenden Fachkräftenachwuchs investiert werden muss.

Die während der Laufzeit des Kulturagentenprogramms in Munderkingen gesammelten Erfahrungen können dazu genutzt werden, die Akteure der kulturellen Bildung in der Region noch stärker zu vernetzen. In einem Netzwerk aus Schule, Ausbildung und Kulturpartner können Angebote wie das des Kulturagentenprogramms erarbeitet werden, die allen Schülerinnen und Schülern langfristig zu Verfügung stehen. Innerhalb von vier Jahren "Kulturagenten für kreative Schulen" in Munderkingen ist aus dem ständigen Zusammenspiel von Zufall und Präzision beim freien Fall der Linsen im Schulalltag eine Menge gelernt worden, sodass weiterhin prächtige Haufen entstehen, solange Schnittstellen die entsprechende Rahmenbedingungen schaffen können.