Alexander Henschel
Vermittlung – Reflexion – Veränderung
Alexander Henschel

Vermittlung – Reflexion – Veränderung

Als ob – zur wechselseitigen Verkleidung dreier Begriffe

Begriffe sind nicht zu fassen. Begibt man sich auf die Suche nach der Bedeutung einzelner Begriffe, dann zeigt sich schnell, dass sie bei gleichbleibendem Wort wandelnde Bedeutungen anzunehmen vermögen. Die Wandelbarkeit von Begriffen lässt sich nicht nur entlang historischer Verläufe beobachten, sondern auch in zeitgleichen Zusammenhängen. Ihre Unbeständigkeit ist dabei für Reinhart Koselleck, einem Begründer der Begriffsgeschichte, keine störende Zutat, sondern ein zentrales Motiv.1 Sie wären demnach nicht als stabile Einheiten zu begreifen, sondern als bewegliche Brücken zwischen einem Wort und seinem jeweiligen gesellschaftlichen – und eben wandelbaren – Gebrauchszusammenhang, der sich im Begriff abbildet.

Dieser konstitutiven Unbeständigkeit steht das verbreitete Begehren gegenüber, Begriffe "klären" zu wollen, sie ein für allemal zu definieren, um Missverständnisse und Konflikte im Kommunikationskreislauf zu vermeiden. Besonders betroffen von diesem Widerspruch zwischen erhöhtem Klärungsbedarf einerseits und größtmöglicher Unklarheit andererseits scheint mir der Begriff "Vermittlung" zu sein; vor allem dann, wenn es um "Vermittlung von Kunst" geht, also um Kunstvermittlung. So sieht sich der im Diskurs kaum aufbereitete Begriff einem enormen Klärungsbedarf gegenüber, der sich etwa auf Tagungen und Konferenzen zeigt, an dessen Ende stets die Frage steht: "Was meinen wir eigentlich mit Kunstvermittlung?"

Ich will nun im Folgenden den Widerspruch zwischen Unbeständigkeit und Klärungsbedarf nicht auflösen, sondern versuchen, ihn einzulösen. Ich möchte eine kurze Klärungsskizze für etwas liefern, das nicht zu klären ist. Ich werde dabei zwei Techniken der Begriffsgeschichte verweben und anwenden. Die erste Technik zeichnet den historischen Verlauf eines Begriffs nach, um Veränderungen seiner Bedeutung herauszuarbeiten. Die zweite Technik sucht nach Gegenbegriffen, will also einen Begriff mit der Überlegung eingrenzen, was er nicht bedeutet, weil die andere Bedeutung mit einem anderen Begriff besetzt ist. Für diese zweite Technik werde ich im Folgenden die Begriffe "Reflexion" und "Veränderung" dem Begriff "Vermittlung" entgegensetzen. Damit ergibt sich ein möglicher Begriffszusammenhang, der aktuell im Diskurs der Kunstvermittlung verhandelt wird, der aber genauso gut ein anderer sein könnte.2 Die folgende Skizze ist demnach eine mögliche, keine notwendige.

Drei Begriffe

Ich habe oben angedeutet, dass Tagungen ideale Orte sind, um den Umgang mit Begriffen zu beobachten. Aber nicht nur der Widerspruch zwischen unbeständiger Verwendung und Klärungsbedarf ist ein immer wiederkehrendes Muster, sondern auch der Einsatz von Gegenbegriffen. Diese haben nicht nur die Funktion der Bedeutungseingrenzung, sondern sind meist auch ein Verweis auf die Position der Sprecherin/des Sprechers, die/der sich durch einen Gegenbegriff beziehungsweise durch den Einschluss des einen und den Ausschluss des anderen Begriffs einem bestimmten Diskurs zuordnen will und einem anderen eben nicht. So bemerkte Paul Mecheril in seinem Vortrag auf der Tagung "Kunstvermittlung in der Migrationspädagogik"3, er würde nicht gern über Kunstvermittlung sprechen, da der Begriff der Vermittlung für ihn eine paternalistische "Ich-vermittel-Dir-mal-was-Haltung" impliziere. Stattdessen zöge er den Begriff der ästhetischen Bildung vor, da dieser das Potenzial der Selbst- und Fremd-Reflexion beinhalte.4 Statt für Reflexion scheint der Begriff der Vermittlung für Mecheril also für die Vorstellung vom reibungslosen Transport fixer Informationen zu stehen. Vermittlung und Reflexion wären damit zwei sich ausschließende Begriffe, Gegenbegriffe.

Im Rückblick auf die Tagung "Mind the gap!"5 stellten die Leiterin Birgit Mandel und der Leiter Thomas Renz in Hinblick auf das Fernbleiben weiter Teile der Bevölkerung von sogenannten hochkulturellen Angeboten die Frage: "Müssen wir kulturelle Angebote vermitteln oder verändern?"6 Das "oder" macht den Gegenbegriff deutlich: Wenn vermitteln und verändern derart gegenübergestellt werden, dann kann das nur bedeuten, dass Vermittlung eben nicht für veränderliches Wissen und bewegte Institutionen steht, sondern – und das wäre eine Parallele zu Mecheril – für die Weitergabe fixer, also unveränderlicher Informationen.

Bleiben noch Reflexion und Veränderung – aber um diese beiden Begriffe als gegensätzliche zu beschreiben, braucht es keinen Gang auf eine Tagung. Ein Blick in die erziehungswissenschaftliche Literatur seit den 1960er Jahren genügt, um Reflexion und Veränderung als zwei diverse Konzepte herauszustellen. Eine Situation soll reflektiert und dann verändert werden; auch die Veränderung soll ihrerseits reflektiert werden und so weiter. Reflexion stünde dann für passives Beobachten und Analysieren und Veränderung für aktives Eingreifen in Wirklichkeit.

Ich habe also drei Gegenbegriffspaare gebildet: Vermittlung/Veränderung, Vermittlung/Reflexion und Reflexion/Veränderung. Jeder Begriff eines Paares schließt den anderen aus, ist selbst eindeutig durch die Negation des anderen.

Diese Eindeutigkeit will ich im Folgenden durcheinanderbringen und die Beziehungen verkomplizieren. Ich werde statt der ausschließenden "oder"- eine "als"-Verknüpfung einführen und dabei auch die angekündigte historische Dimension einfließen lassen. Veranschaulichen werde ich dies mit einer Erzählung aus meiner Lehrtätigkeit in Oldenburg. Erzählung und begriffliche Skizze werden sich im weiteren Verlauf immer wieder unterbrechen. Um die Erzählung abzusetzen, die immer nur indirekt Bezug auf die Skizze nimmt, setze ich sie im Folgenden kursiv.

Vermittlung als Veränderung

Im Rahmen meiner Lehrveranstaltung "Zwischen Führen und Aufführen" verschiebe ich den Lernort von den Räumen der Universität in die Ausstellung "B[R]YZANZ" der Performancekünstlerin Şükran Moral im Edith-Russ-Haus für Medienkunst. Die Ausstellung gibt Video- und Fotodokumentationen von Performances zu sehen sowie eine Installation. Die Konstruktion von Gender und die Thematisierung von Dominanzverhältnissen, etwa im Rahmen von Hochzeitstraditionen oder in türkischen Bädern, stehen dabei im Mittelpunkt.

Beim ersten Besuch bitte ich die Studierenden, sich zunächst selbst die Ausstellung anzusehen. Nach einer halben Stunde frage ich die Gruppe nach ihrem ersten Eindruck. Viele berichten, dass sie die Ausstellung als bedrückend empfinden. Ein Student kritisiert den Umstand, dass die Arbeiten der Künstlerin, die dezidiert in einem türkischen Kontext entstanden wären, hier in Oldenburg ohne hinreichende Informationen zum ursprünglichen Kontext gezeigt würden. Bei einem Blick in die Runde sehe ich, dass sich fast alle an einer Informationsbroschüre des Museums festhalten.

Die Sprachpraxis, nach der Vermittlung als überprüfbare Über-mittlung fixer Inhalte eines Senders an einen Empfänger begriffen wird, ist in expliziter Form erst seit den 1960er/1970er Jahren nachweisbar. Sie geht mit zweierlei Entwicklungen derselben Jahre einher:

Zum einen steht der Begriff der "Wissensvermittlung" für einen Paradigmenwechsel in den Erziehungswissenschaften. Es wurde versucht, mit naturwissenschaftlichen Mitteln überprüfbare Erkenntnisse im Wissenschaftsbetrieb sowie kontrollierbare Ergebnisse von Lernprozessen einzuführen.7 Im Anschluss daran war für eine kritisch ausgerichtete Pädagogik der Begriff der Vermittlung bald als Wissensabfüllung nach dem Modell des Nürnberger Trichters verschrien.8 So schreibt etwa Heinz von Foerster: "Aber schon mit der Idee von Wissensvermittlung will ich nichts zu tun haben. Wissen läßt sich nicht vermitteln, es läßt sich nicht als eine Art Gegenstand, eine Sache oder ein Ding begreifen, das man – wie Zucker, Zigaretten, Kaffee – von A nach B transferieren kann, um in einem Organismus eine bestimmte Wirkung zu erzeugen."9

Zum anderen mag die Idee von Vermittlung als verlustfreiem Wissenstransfer auch unter dem Eindruck der sich damals gerade etablierenden Kommunikationswissenschaft entstanden sein. Ein bis heute breit rezipiertes und immer wieder im Zusammenhang mit dem Begriff der Vermittlung genanntes Kommunikationsmodell ist etwa das von Claude Shannon und Warren Weaver, das sogenannte Sender-Empfänger-Modell, das einen Versuch möglichst verlustfreier Kommunikation darstellt.10 Zur breiten Rezeption des Modells gehört aber auch das Missverständnis, Shannon und Weaver hätten das Modell für soziale Interaktion entworfen. Dabei galt es, ein technisches Problem zu lösen. Dass sich das Sender-Empfänger-Modell nicht ohne Weiteres auf soziale Kommunikation übertragen lässt, darin waren sich auch schon die Kommunikationstheoretiker der 1970er Jahre einig: Zwischenmenschliche Kommunikation geht stets mit Sinnbrüchen einher statt mit fixen Inhalten.11

Noch beim ersten Besuch merke ich an, dass es mir im Rahmen der Lehrveranstaltung um einen anderen Vermittlungsbegriff gehen wird. Nicht die Frage, "Was will die Künstlerin mir damit sagen?", wäre von Interesse, sondern "Was können wir damit machen?". Um einen Anfang zu ermöglichen, der sich abseits hilfebietender Informationsbroschüren bewegt, bitte ich die Studierenden, nochmals in die Ausstellung zu gehen und sich eine Arbeit auszusuchen, die sie besonders beschäftigt hat. Mit dieser sollen sie sich 30 Minuten schweigend auseinandersetzen.

Dass dort, wo zwischen Menschen Wissen verhandelt wird, keine fixen Inhalte zu erwarten sind, war dabei keine neue These. Verdeckt zu sein scheint aber inzwischen, dass der Begriff der Vermittlung einmal genau für verhandeltes, gestörtes, bewegliches, kritisiertes Wissen stand. So brachte etwa Immanuel Kant im 18. Jahrhundert in seiner "Kritik der reinen Vernunft" einen Gegenbegriff zur Vermittlung ins Spiel, nämlich die Unmittelbarkeit. Im Vokabular Kants wäre unmittelbares statt vermitteltes Wissen ein solches, das ohne Veränderung und ohne Verlust in unseren Kopf gelangen würde.12 So etwa lautete die damalige These der Empiristen, nach der die menschliche Wahrnehmung Eindrücke der Umwelt unmittelbar erfahren würde, ohne dass diese der Vermittlung durch einen Dritten – etwa einen Lehrer oder eine Theorie – bedürften, und damit möglicherweise auch verformt wären. Kant setzte dem entgegen, dass unser je eigener Wahrnehmungsapparat immer schon vorgeprägt sei und sich niemals neutral gegenüber Sinneseindrücken verhalten könne. "Wissen ist wesentlich Vermittlung", so Manfredo A. de Oliveira über Kant, und weiter: "Keine Erkenntnis kann unmittelbar aus der Erfahrung gewonnen werden, sondern nur insofern, als sie eine Bestätigung oder Verwerfung eines Vorwissens ist."13 In diesem Begriffskonzept bildet sich auch die aufklärerische Haltung Kants ab. Wissen dürfe nicht unmittelbar behauptet, sondern müsse vermittelt, müsse als veränderliches herausgestellt werden, um es so auch kritisieren zu können.

Doch nicht nur das Wissen über einen Gegenstand wäre demnach veränderlich, sondern auch die Gegenstände unseres Wissens selbst. Vermittels unserer Wahrnehmung drücken wir dem Gegenstand immer schon unseren Stempel auf.14 Der Gegenstand ist für mich niemals derselbe wie für jemand anderen. Ich nehme den Gegenstand in leicht verschobener Weise wahr, anders als ihn andere wahrnehmen. Das heißt aber, dass der Gegenstand nicht zu jedem Zeitpunkt mit sich identisch, sondern in seiner Identität gebrochen ist. Vermittlung durch Wahrnehmung verändert den Gegenstand, bringt ihn in Bewegung. Mit aller Konsequenz: Vermittlung impliziert Veränderung, während der Begriff der Unmittelbarkeit – in der Tradition von Kant – für unveränderliche, mit sich identische Inhalte steht.

Eine solche Vermittlung als Veränderung funktioniert aber nur, wenn die Rahmung es zulässt. "Solange die in einem Verhältnis zu vermittelnden Pole eine eigene, verhältnisunabhängige Substanz behaupten, kann zwischen ihnen keine Vermittlung stattfinden, aus der beide verändert hervorgehen."15 Mit anderen Worten: Wird von einem Gegenstand erwartet, fix und unmittelbar verfügbar zu sein, und/oder wird von einem Adressaten erwartet, Wissen unkritisch und unverfälscht gleich einem Gefäß aufzunehmen, dann kann auch durch jedwede Vermittlung nicht gewonnen werden, was schon vorher verloren ging: Beweglichkeit.

Im Anschluss an die schweigenden Auseinandersetzungen sprechen wir gemeinsam über das Erlebte. Drei Studentinnen hatten sich 30 Minuten die Videodokumentation "Bordello" angesehen, in der die Künstlerin, bekleidet mit einem Negligé, vor einem Bordell steht und ein Schild mit der Aufschrift "for sale" trägt. Zudem gibt die Kamera eine große Menge von Männern zu sehen, die die Szene schweigend betrachten.

Die Studentinnen gaben an, dass sich die Arbeit im Laufe des Betrachtens für sie verändert hätte. Zu Beginn hätten sie die Blicke der Männer noch auf die Künstlerin gerichtet gesehen – im weiteren Verlauf fühlten sie sich selbst den Blicken der Männer ausgesetzt. Auch Rassismus steht im Raum. Von "den türkischen Männern" ist die Rede, von "der anderen Kultur" und der Auffassung, dass "so etwas" (etwa geschlechtliche Dominanzverhältnisse) bei "uns" glücklicherweise nicht mehr so sei. Während sich also das Video veränderte, schien sich die Position der Betrachterinnen als weiße Mehrheitsdeutsche, die auf die "Anderen" blicken, zu fixieren.

Vermittlung als Reflexion

Um den Studierenden einen Weg zu öffnen, wie sie ihre je eigene Position in der Ausstellung stärker in den Blick bekommen könnten, und so Bewegung in das Spiel der Positionen zu bringen, bitte ich gemeinsam mit einem Kollegen die Studierenden, kleine Performances durchzuführen.16 Wir bitten sie, ihren Körper kurzzeitige Haltungen zu den Arbeiten einnehmen zu lassen, die sie in der vorigen Veranstaltung beschäftigt hatten. Eine der Studentinnen, die das Video "Bordello" angesehen hatten, kniet sich so in das Licht des Beamers, dass einerseits ihr Gesicht erstrahlt und andererseits ihr Profil als Schatten die Projektion zerteilt. Sie blickt zurück. Eine andere Studentin formt zur selben Arbeit mit ihren Händen ein Fernglas, mit dem sie auf die Projektion zurückschaut. Wir nehmen alle Performances auf Video auf.

An Kants Kritik der Vorstellung unmittelbaren Wissens schließt G. W. F. Hegel an und treibt den Begriff der Vermittlung nochmals weiter. Auch Hegel fasst das Verhältnis zwischen Gegenstand und rezipierendem Ich als grundsätzlich vermitteltes auf und schreibt in der "Phänomenologie des Geistes", "daß weder das eine [=rezipierendes Ich, AH] noch das andere [= zu rezipierender Gegenstand, AH] nur unmittelbar, in der sinnlichen Gewißheit ist, sondern zugleich als vermittelt; Ich habe die Gewißheit durch ein anderes, nämlich die Sache; und diese ist ebenso in der Gewißheit durch ein anderes, nämlich durch Ich."17

Es lohnt sich, diese Passage in ihre Einzelteile zu zerlegen. Der erste Satz schließt an Kant an und benennt nochmals die Unmöglichkeit unmittelbarer Erkenntnis durch Wahrnehmung bzw. durch "sinnliche Gewißheit". Der Unterschied zu Kant ist im zweiten Satz und der Frage zu finden, worüber hier Gewissheit beziehungsweise Wissen erlangt werden soll. Hegel geht es hier nämlich nicht um die Frage, wie ein Ich Wissen über einen Gegenstand, sondern wie ein Ich Wissen über sich selbst erlangen kann. Es geht hier demnach um reflexives Wissen. Und das ist mit Hegel nicht möglich, stünde ein Ich unmittelbar mit sich alleine da. Das Ich braucht Anderes, um Wissen über sich selbst zu erlangen, braucht Erfahrungen mit Gegenständen und mit anderen Menschen, um sich selbst abzugrenzen und durch Abgrenzung zu sich selbst zu finden. Oder mit dem Hegel-Interpreten Gotthard Günther: "Reflexion ist nichts anderes als sich selbst fremd gewordenes Sein."18

Vermittelt zu sein bedeutet für Hegel demnach, dass das Eine durch das Andere zu sich selbst kommt – und umgekehrt. "Jedes ist dem anderen die Mitte."19

Dieses Konzept einer reflexiv gedachten Vermittlung wendet Hegel aber nicht nur auf die Prägung eines menschlichen Selbstbewusstseins an, sondern grundsätzlich auf alles, worüber Wissen erlangt werden kann. Ein Jedes, über das etwas gewusst werden soll, braucht ein Anderes, zu dem es in Differenz stehen kann. "Erklären und Begreifen", so Hegel in der Enzyklopädie der Wissenschaften, "heißt hiernach, Etwas als vermittelt durch ein Anderes aufzuzeigen."20 Vermittlung als Reflexion funktioniert demnach als Spiegel. Vermittelt wird dann aber nicht ein Anderes, sondern das Andere dient der Vermittlung, die Selbstrepräsentation ist.21

Reflexion als Veränderung

In der nächsten Stunde kündige ich an, dass am Schluss alle eine Kunstvermittlungsaktion durchführen sollen. Sie sollen sich dabei einerseits auf die Performance einer Studienkollegin oder eines Studienkollegen beziehen und andererseits auf die dazugehörende Arbeit der Künstlerin. Auch die Texte aus den Informationsbroschüren können jetzt aufgegriffen werden.

Ich kündige zudem an, dass als Prüfungsleistung eine schriftliche Reflexion der Kunstvermittlungsaktion stehen soll. Aber es soll wiederum nicht die eigene Kunstvermittlungsaktion reflektiert werden, sondern abermals die einer Kommilitonin oder eines Kommilitonen. Eine Studentin merkt sofort an, dass das doch wohl nicht möglich sei: Etwas zu reflektieren, das man selbst nicht gemacht habe. Man wisse ja gar nicht, was los sei. Ich entgegne, dass es darum beim Reflektieren auch nicht ginge. Es geht nicht darum, das Wesen des Reflektierten zu erfassen, sondern mit einem spezifischen Blick das Reflektierte sich fremd und gleichzeitig zu eigen zu machen. In der Reflexion wird also weniger das "Andere" erkannt, sondern vielmehr ein Blick auf das eigene Blicken gerichtet.

Selbstvermittlung als Selbstreflexion durch Andere(s). Das klingt abstrakt und ist doch ein Konzept, das sich direkt an Paul Mecherils Migrationspädagogik anschließen lässt. In seinem Aufsatz "Die Normalität des Rassismus" zitiert Mecheril Stuart Hall, der schreibt: "Die [weißen] Engländer sind nicht deshalb rassistisch, weil sie die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne den Schwarzen nicht wissen, wer sie sind. Sie müssen wissen, wer sie nicht sind, um zu wissen, wer sie sind."22 "Die Schwarzen" dienen dann nicht nur als Spiegel, als Selbstvergewisserungsmittel durch Abgrenzung, sondern werden als Konzept in dieser Abgrenzung überhaupt erst hervorgebracht. "Die Schwarzen" wäre demnach kein Ergebnis objektiver Anschauung eines Anderen, sondern ein Ergebnis von Selbstreflexion. Oder noch weiter zugespitzt: "Die Anderen" werden durch Fremdbenennung als "die Schwarzen" zugerichtet, damit das (weiße) Selbst zu sich kommen kann.

Reflexion wäre demnach nicht als ein Vorgang zu beschreiben, der sich passiv und analytisch zur Welt verhält, sondern als ein verändernder Eingriff in Welt. Auch die Mittel der Reflexion, Denken oder das Verwenden von Begriffen, lassen die Welt nicht in ihrem So-Sein, sondern richten die Welt immer auch ein Stück weit zu, nämlich so, dass sie nach Maßgabe des reflektierenden Subjekts handhabbar wird. Wird das Veränderungspotenzial reflexiver Prozesse verdeckt, besteht die Gefahr der Naturalisierung von Wissen; es besteht die Gefahr der Annahme, etwas oder jemand sei eben natürlicherweise so und nicht anders.

Auch Hegel hat Reflexion als Veränderung begriffen und von dort aus sein Konzept doppelter Reflexion entwickelt, das sich, ganz grob, folgendermaßen beschreiben lässt: Ein Ich glaubt zunächst, es würde unmittelbar Wissen aus seiner Umwelt aufnehmen (irreflexiv); durch die Beschäftigung mit seiner Umwelt lernt dieses Ich zunehmend mehr über sich selbst (reflexiv); durch einen Blick auf seine Umwelt einerseits und einen Blick auf sein eigenes Reflektieren lernt dieses Ich, wie es durch Reflexion seine Umwelt verändert (doppelt reflexiv).23 Es geht beim Reflektieren der eigenen Reflexion demnach darum, zu sehen, wie die Beschäftigung mit sich selbst Andere(s) verändert; wie beispielsweise der Wunsch nach der eigenen nationalen Identität die Anderen erst zu Fremden macht.

Wieder lässt sich hier an Mecheril anschließen. Wenn er von "pädagogischer Reflexivität" spricht, dann meint er nicht jene Reflexion, die Bourdieu eine narzisstische genannt hat, die also auf reine Selbstrepräsentation ausgerichtet ist,24 sondern jene, die das Feld der pädagogischen Wissenschaft auf seine Reflexionsregeln und -mechanismen hin befragt. Es geht also um eine Reflexion die danach fragt, wie das Feld seinen beobachteten Gegenstand zurichtet beziehungsweise erst hervorbringt.25

Als ob

In der letzten Stunde werden die Kunstvermittlungsaktionen aufgeführt. Ein Student nimmt in seiner Aktion Bezug auf das Video "Bordello" sowie auf die Performance der Mitstudentin, die mit einem fiktiven Fernglas auf dasselbe Video geblickt hatte. Der Student verkleidet sich, zieht ein Negligé an, trägt ein Schild "for sale" und lädt uns in den Ausstellungsraum ein. Dort sehen wir, dass der Student die Beamerprojektion umgestellt hat. Statt des Videos der Künstlerin blickt nun die Mitstudentin mit dem Fernglas auf uns herab. Es ist derselbe Student, der anfangs das Fehlen von Informationen über den türkischen Kontext kritisiert hatte, der nun förmlich aus dem Video springt, verkleidet als die Künstlerin, und der so den Kontext "der Türkei" mitten in den Ausstellungsraum bringt, in dem wir uns befinden. Das Blicken "der türkischen Männer" wird zu einem komplexen Gewebe aus Blicken, Zurückblicken, Blicken ausgesetzt sein und Blicke manipulieren, zu einem Durcheinander von Geschlechterkonstruktionen. Nach der Aktion merkt eine Studentin an, dass sie nun einen Knoten im Kopf hätte. Obwohl sie dieselbe Arbeit nun so oft gesehen hätte, würde mit jedem Gespräch, jeder Performance und jeder Aktion etwas Unerwartetes geschehen, von dem aus alles immer wieder neu gedacht werden müsse.

Vermittlung als Veränderung, Vermittlung als Reflexion, Reflexion als Veränderung – was soll das? Es könnte der Eindruck entstehen, dass nach meiner begriffshistorischen Skizze alle drei Begriffe unterschiedslos übereinanderliegen, miteinander identisch sind. Darum geht es mir aber nicht. Die "als"-Operation hat für mich eher den Zweck einer Maskerade: Der eine Begriff verkleidet sich kurzzeitig mit dem anderen, und es fällt auf, dass der eine viel mit dem anderen zu tun hat, ohne dass beide dieselben wären. Der eine birgt Momente des anderen.

Die "als"-Operation ist für mich also eine der Vermittlung: Sie bringt Bewegung in starre Verhältnisse. Die "als"-Operation ermöglicht es, sich nicht zufrieden zu geben, wenn Begriffe als eindeutige daherkommen, wenn zu viele "oder"-Operationen und totale Begriffsausschlüsse im Spiel sind. Die "als"-Operation soll nichts festlegen oder klären, sondern kurzeitig etwas sichtbar machen. Sie hätte sich, begriffshistorisch begründet, auch mit vielen anderen Komponenten durchführen lassen: Vermittlung als Kritik, Vermittlung als Polizei, Vermittlung als Unmittelbarkeit, Vermittlung als Spiel und so weiter.26 Es wäre jeweils etwas anderes ans Licht gekommen, ohne dass die Unbestimmtheit des Vermittlungsbegriffs aufgelöst worden wäre.

Für das Feld der Kunstvermittlung heißt das, dass die beliebte Tagungsfrage "Was meinen wir mit Kunstvermittlung?" nicht beantwortet werden darf und dennoch gestellt werden muss. Es darf keine Antworten geben, weil jede Antwort den Begriff der Vermittlung in seiner Beweglichkeit eingrenzen und seiner Möglichkeiten berauben würde, ja, überhaupt seines Begriffseins. Die Frage muss dennoch gestellt werden, weil trotz der Uneinlösbarkeit permanent am Begriff gearbeitet werden muss. Denn Begriffe sind Reflexionsmittel, und durch Reflexion lässt sich Praxis denken, beobachten und verändern. Am Begriff arbeiten heißt, an der Praxis zu arbeiten.

1 Vgl. Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten, Frankfurt/M. 2006.

2 Veränderung verwende ich hier im Sinne von Transformation, ein Begriff, den Carmen Mörsch in den Diskurs der Kunstvermittlung eingebracht hat. Vgl. Mörsch, Carmen: "Am Kreuzungspunkt von vier Diskursen: Die documenta 12 Vermittlung zwischen Affirmation, Reproduktion, Dekonstruktion und Transformation", in: Dies. et al. (Hg.): Kunstvermittlung 2. Zwischen kritischer Praxis und Dienstleistung auf der documenta 12. Ergebnisse eines Forschungsprojekts, Zürich/Berlin 2009, S. 9–33. Für den Begriff der Reflexion im Zusammenhang der Kunstvermittlung vgl. etwa Mecheril, Paul: "Ästhetische Bildung. Migrationspädagogische Anmerkungen", in: Institut für Auslandsbeziehungen/Institute for Art Education/Institut für Kunst im Kontext (Hg.): Kunstvermittlung in der Migrationsgesellschaft. Reflexionen einer Arbeitstagung, Berlin/Stuttgart 2012, S. 26–36, online: http://www.ifa.de/fileadmin/pdf/edition/kunstvermittlung_migrationsgesellschaft.pdf [14.3.2014].

3 Die Tagung fand im Mai 2011 in Berlin statt.

4 Zitiert nach meiner Mitschrift. Vgl. auch Mecheril, Paul: "Ästhetische Bildung", a.a.O.

5 Die Tagung fand im Januar 2014 in Berlin statt.

6 Mandel, Birgit/Renz, Thomas: "Ein Rückblick auf eine konfliktträchtige Tagung über niedrigschwellige Kulturvermittlung", online: http://www.kulturvermittlung-online.de/pdf/tagungsrueckblick_mind_the_gap.pdf [30.1.2014].

7 Vgl. etwa Brezinka, Wolfgang: Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft, Weinheim/Berlin/Basel 1971.

8 Unter dem "Nürnberger Trichter" wird umgangssprachlich ein didaktisches Konzept verstanden, nachdem es ohne Anstrengung der Schülerin/des Schülers möglich wäre, Wissen in deren Köpfe zu transferieren.

9 So von Foerster in einem Interview mit Bernhard Pörksen. Von Foerster, Heinz/Pörksen, Bernhard: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, Heidelberg 2004, S. 70.

10 Für ein Beispiel für die Rezeption des Modells im Kontext von Kunstvermittlung vgl. etwa die Argumentation auf der Internetplattform Kunstdialoge zur Frage "Warum nennen wir unsere Arbeit und diese Internetseite ,Kunstdialoge" und nicht ,Kunstvermittlung"?". Dazu ist zu lesen: "Vermittlung und Übermittlung. Begriffe, deren Bedeutung im deutschen Sprachgebrauch meiner Meinung nach immer noch sehr stark von dem längst überholten Sender-Empfänger-Kommunikationsmodell nach Shannon und Weaver von 1948 geprägt sind. […] In diesem Sinne ist das Ver-mitteln ein Akt, der von einer bestimmten Person ausgetragen wird und ein Gegenüber als Empfänger_in der ,Message" (des Inhalts) impliziert." Ohm, Iver: "Kunstdialoge oder Kunstvermittlung?", online: http://www.kunstdialoge.at/?=1669#more-1669 [6.6.2013].

11 Vgl. etwa Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, bes. S. 193–201, zu Shannon und Weaver bes. S. 195, Fußnote 5.

12 So schreibt Kant etwa über die damals übliche Unterscheidung zwischen logischem Schluss und sinnlicher Erkenntnis: "Man macht einen Unterschied zwischen dem, was unmittelbar erkannt, und dem, was nur geschlossen wird. […] Weil wir des Schließens beständig bedürfen und es dadurch endlich ganz gewohnt werden, so bemerken wir zuletzt diesen Unterschied nicht mehr, und halten oft, wie bei dem sogenannten Betrug der Sinne, etwas für unmittelbar wahrgenommen, was wir doch nur geschlossen haben. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1787], Hamburg 1993, S. 341 (B 359).

13 De Oliveira, Manfredo Araújo: Subjektivität und Vermittlung. Studien zur Entwicklung des transzendentalen Denkens bei I. Kant, E. Husserl und H. Wagner, München 1973, S. 44.

14 Konkret fordert Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der "Kritik der reinen Vernunft" ein, dass sich unsere Erkenntnis nicht nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände nach unserer Erkenntnis zu richten haben. Vgl. hierzu Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1787], Hamburg 1993, S. 19f. (B XVI).

15 Köpf, David: "Mit dem Weltgeist rechnen. Über Gotthard Günther", in: Baecker, Dirk (Hg.): Schlüsselwerke der Systemtheorie, Wiesbaden 2005, S. 225–242, hier: S. 230.

16 Diese Teilübung habe ich gemeinsam mit dem Theaterpädagogen Jörg Kowollik durchgeführt.

17 Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes [1807], Gesammelte Werke (GW) Bd. 9, hg. von Felix Meiner, Hamburg 1980, S. 64, Herv. im Orig.

18 Günther, Gotthard: Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik [1959], Hamburg 1978, S. 320.

19 Hegel, G. W. F.: Phänomenologie des Geistes (1807), a.a.O., S. 110.

20 Hegel, G. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830], GW Bd. 20, hg. von Wolfgang Bonsiepen und Hans-Christian Lucas, Hamburg 1992, S. 101, Herv. im Orig.

21 Arndt, Andreas: Unmittelbarkeit, Bielefeld 2004, S. 29.

22 Hall, Stuart: "Ethnizität: Identität und Differenz", in: Engelmann, Jan (Hg.): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-Reader, Frankfurt/M./New York 1999, S. 83–98, hier: S. 93. Vgl. auch Mecheril, Paul: "Die Normalität des Rassismus", in: Ders. et al. (Hg.): Tagungsdokumentation des Fachgesprächs zur "Normalität und Alltäglichkeit des Rassismus", o.V. 2007, S. 3–16, hier: S. 6, online: www.ida-nrw.de/cms/upload/PDF_tagungsberichte/Tagungsdoku_Alltagsrassismus.pdf [27.3.2014].

23 Vgl. hierzu etwa Hegels Abschnitt "Das Wesen als Reflexion in ihm Selbst" in: Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die Objektive Logik [1812/1813], GW Bd. 11, hg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke , Hamburg 1978, S. 244–290. Zur Übersetzung des Hegel"schen Reflexionsbegriffs in die Bestimmungen "irreflexiv", "reflexiv" und "doppelt-reflexiv" vgl. Günther, Gotthard: "Die aristotelische Logik des Seins und die nicht-aristotelische Logik der Reflexion" [1958], in: Ders.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 1., Hamburg 1976, S. 141–188, bes. S. 167–169.

24 Bourdieu, Pierre: "Narzißtische Reflexivität und wissenschaftliche Reflexivität", in: Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt/M. 1993, S. 365–374.

25 Vgl. Mecheril, Paul et al.: Migrationspädagogik, hg. von Sabine Andresen, Weinheim/Basel 2010, S. 171.

26 Zu Vermittlung als Kritik vgl. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966. Zu Vermittlung als Polizei vgl. Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts [1821], GW Bd. 14, hg. von Klaus Grotsch und Elisabeth Weisser-Lohmann, Hamburg 2009, S. 189–200. Zu Vermittlung als Unmittelbarkeit vgl. Hegel, G.W.F.: Wissenschaft der Logik. Erster Teil. Die objektive Logik, Erster Band, Die Lehre vom Sein [1832], GW Bd. 21, hg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Hamburg 1985, S. 54. Zu Vermittlung als Spiel vgl. Günther, Gotthard: "Cognition and Volition – Erkennen und Wollen. Ein Beitrag zu einer kybernetischen Theorie der Subjektivität", in: Ders: Das Bewusstsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik, hg. von Eberhard von Goldhammer und Joachim Paul, Baden-Baden 2002, S. 229–285.