Emily Pringle
Der Wert der Reflexion
Emily Pringle

Der Wert der Reflexion

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Die englischsprachige Originalversion des Textes können Sie hier als PDF herunterladen.

Der Mensch hat dreierlei Wege, klug zu handeln:
erstens durch Nachdenken, das ist der edelste;
zweitens durch Nachahmen, das ist der leichteste;
und drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste.

Konfuzius (551–479 v. Chr.), chinesischer Philosoph

 

In den letzten Jahren ist viel über den Wert von Reflexion im Rahmen der Kunstvermittlung diskutiert worden. Alleine die Behauptung, es würde eine "reflexive Praxis" betrieben – so wie auch gerne behauptet wird, es würde "aktives Lernen" unterstützt –, garantiert allerdings noch lange nicht, dass positive und produktive Reflexion (beziehungsweise aktives Lernen) tatsächlich stattfindet. Derartige Begriffe und Konzepte müssen gründlich analysiert und definiert werden, nicht zuletzt um zu verstehen, was sie uns abverlangen, wenn wir sie wirksam werden lassen wollen. Reflexion benötigt Zeit und Engagement. Auch wenn wir uns noch so sehr anstrengen, besteht stets die Gefahr, dass sie in unserer Alltagspraxis außen vor bleibt.

Im diesem kurzen Text möchte ich ein spezifisches Verständnis von Reflexion vorstellen und skizzieren, warum sie von Wert ist. Ich werde Verknüpfungen zwischen Reflexion, Lernen und künstlerischer Praxis herstellen, die die Herausforderungen benennen, wenn man eine reflexive Praxis in dicht gedrängte Arbeitsabläufe zu integrieren versucht, und im Anschluss daran Lösungsansätze vorschlagen, um diese Herausforderungen in Angriff nehmen zu können. Ich hoffe, dadurch zu einem Erkenntnisgewinn beizutragen und jene unterstützen zu können, die eine gute, reflexive Praxis entwickeln wollen, damit sie die Früchte ihrer Arbeit auch ernten können.

Reflexion – wenn man sie ganz einfach als die Zeitspanne versteht, in der man über gemachte Erfahrungen nachdenkt und diese auswertet – ist eine grundlegende menschliche Aktivität. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Denkerinnen und Denker, die im Bereich der Kunst und Bildung arbeiten, haben versucht, unsere Auffassung des reflexiven Prozesses tiefer gehend zu analysieren und seine Schlüsselaspekte herauszuarbeiten. John Dewey1 (1933) stellte beispielsweise fest, dass Reflexion ein Prozess der Sinnbildung sei, der es den Lernenden erlaube, ihre Erfahrungen miteinander zu verknüpfen und so zu einem tieferen Verständnis zu gelangen. Für ihn ist sie der "rote Faden, der die Kontinuität des Lernens ermöglicht".2 Nach Dewey sollte Reflexion auch kein dem Zufall überlassener Prozess sein, sondern eine systematische und disziplinierte, wenngleich flexible Art des Denkens, die idealerweise in Interaktion mit anderen stattfindet. Allerdings räumt er auch ein, dass nicht jeder Mensch von sich aus diese strukturierte Form der Reflexion praktizieren wird. Dies erfordere nämlich vom Individuum, dass es die eigene persönliche und intellektuelle Entwicklung sowie die anderer zum zentralen Thema macht, und bereit ist, sich ständig kritisch selbst zu beurteilen und sich weiterzuentwickeln.

Während Dewey uns einen Eindruck davon vermittelt, was uns ernsthafte Reflexion abverlangt, zeigt Donald Schön, ebenfalls Philosoph und Pädagoge, der auf viele Ideen von Dewey zurückgreift, dass Reflexion unterschiedlich ablaufen kann. Schön (1983) beschreibt zwei Formen der Reflexion: "Reflexion in der Aktion" ("reflection-in-action") ist der fortwährende, intuitive und kreativ-kognitive Prozess, der es uns erlaubt, unsere Handlungen im Prozess des Handelns anzupassen und zu verändern. "Reflexion über die Aktion" ("reflection-on-action") ist der Moment, in dem "wir über vollzogene Handlungen reflektieren und diese überdenken, um herauszufinden, inwiefern unser Handlungswissen ("knowing-in-action") zu einem unerwarteten Ergebnis beigetragen haben mag".3 Auf diese Weise verdeutlicht Schön die Beziehung zwischen Handeln und Denken: Wir reflektieren, um unseren Erfahrungen Sinn zu verleihen.

Was aber ist der Sinn solcher Reflexion sowohl "in" der Aktion als auch "über" die Aktion? Was bringt es uns, über unsere Erfahrungen nachzudenken? Nach dem Lerntheoretiker David A. Kolb (1984)4 reflektieren wir, um zu lernen, oder anders gesagt, erst indem wir über unsere Erfahrungen reflektieren und sie analysieren, sind wir in der Lage, neue abstrakte Konzepte zu erstellen, die wir in zukünftigen Situationen anwenden. Kolb stellt dies in einem vier Stadien umfassenden "Erfahrungs-Lern-Zyklus" dar:

Kolb Experiential Learning Cycle, 1975

Reflexion als ein Teil des Prozesses "handeln – bewerten – neues Wissen entwickeln – anwenden" ist daher ein wesentlicher Bestandteil des Lernprozesses, ohne den wir in unserem Denken weder vorankommen noch unsere Verhaltensmuster verändern können.

Wenn wir eine solchermaßen verstandene Reflexion als zentral für das Lernen annehmen und sie auf den Kontext der professionellen Kunstvermittlung übertragen, wird ihre Bedeutung als aktive Handlung klar, mit der die Menschen ihre Erfahrungen aufgreifen, über sie nachdenken, sie bewerten, um dann ihre zukünftigen Aktivitäten zu planen. Reflexive Praxis wird zu einem Mittel, mit dem Lehrende und Kunstschaffende aus ihren eigenen Erfahrungen lernen und sich damit mehr oder weniger formal beruflich weiterbilden. Darüber hinaus erlaubt sie es uns, Theorie und Praxis zusammenzuführen, und stellt uns einen Raum zur Verfügung, in dem wir unser Routinedenken und unsere festgefahrenen Vorstellungen in Frage stellen und in Zweifel ziehen können. Echte reflexive Praxis, verbunden mit tief greifender und nachhaltiger Analyse, fördert Risiko- und Experimentierfreude; sie kann uns darin unterstützen, herauszufinden, was in unserer Praxis mehr und was weniger erfolgreich ist, und in den Bereichen, in denen es notwendig ist, neue Prozesse initiieren.

Dies sind einige der Gründe, warum Reflexion für Kunstschaffende und Lehrende so wichtig ist. Daneben verhilft sie uns als be- und auswertendes Nachdenken ("evaluative thinking") zu einem tieferen Verständnis unseres Handelns. Beispielsweise kann die gemeinsame Reflexion mit Kolleginnen und Kollegen über die einfache Frage: "Warum tun wir das, was wir hier tun?" eine lebhafte Auseinandersetzung mit einem Ereignis oder einem Prozess in Gang setzen und bei den Beteiligten zu unerwarteten Erkenntnissen führen. Die Frage wiederum: "Wie sind wir die Sache angegangen?" kann Unterschiede in den pädagogischen Herangehensweisen sichtbar machen oder nützliche Informationen für zukünftige Szenarien zutage fördern. Obwohl die Notwendigkeit eines solchen Prozesses auf der Hand zu liegen scheint, verwundert es, wie oft über sie hinweggesehen wird. Die Vorteile kritischer Zuspitzung, eines klareren Denkens und gemeinsam geteilter Werte, die aber die Einführung neuer Ideen nicht behindern, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. All dies trägt zu einer qualitativ besseren Praxis bei und verhilft den Kunstschaffenden, Lehrenden und Lernenden zu wertvolleren Erfahrungen.

Reflexive Praxis bietet darüber hinaus den Vorteil, dass sie den Zusammenhängen zwischen künstlerischer Praxis und Lernprozessen Aufmerksamkeit schenkt. So wie die künstlerische Praxis ermöglicht uns auch der oben beschriebene Lernprozess ein neues Verständnis dessen, was wir tun, indem wir die Auswirkungen unseres Handelns überdenken. Als Kunstschaffende "machen" wir etwas (beispielsweise zeichnen wir eine Linie, wir schneiden einen Film, rahmen eine Fotografie und vieles mehr) und überprüfen dies vor dem Hintergrund dessen, was wir vermitteln wollen. Solange das Handeln, das "Machen", unsere Ideen erfolgreich zum Ausdruck bringt, belassen wir es so, wie es ist. Sollten wir jedoch in Folge von Reflexion feststellen, dass dem nicht so ist, verändern wir es. Dieser fortwährende kreative Prozess (des Handelns – des Prüfens – der Anwendung der Erkenntnisse) ähnelt dem obigen Erfahrungs-Lern-Zyklus von Kolb. Er deutet darauf hin, dass Kunstschaffende kontinuierliche Reflexion als Bestandteil ihrer künstlerischen Praxis begreifen. Diese Sicht teilt der Künstler Ben Shahn, wenn er sagt, dass ein Maler gleichzeitig als Produzent und Kritiker agiere: Der "Kritiker" im Künstler achte darauf, dass die Entscheidungen und Handlungen des "Produzenten" dazu führen, dass die Ideen des Künstlers in Form des Bildes realisiert werden. Der Kunstschaffende ist für Shahn kein ""Medium" ohne bewusstes Denken, durch das Ideen hindurchfließen"5, sondern ein analytisches und reflektierendes Wesen, das kontinuierlich seine kreativen Entscheidungen bewertet.

Wenn Kunstschaffende also zur Reflexion prädisponiert sind, stellt sich folgende Frage: Warum erweist es sich als so schwierig, dass sich eine reflexive Praxis dort entwickelt, wo sie als Kunstvermittler tätig sind? Nach meiner Erfahrung der langjährigen Arbeit mit Kolleginnen und Kollegen an der Integration von Reflexionspraktiken stellen folgende Punkte die größten Herausforderungen dar:

Zeit

Wichtiger als alles andere ist es, überhaupt die Zeit für intensive Reflexion zu finden. In den geschäftigen Bildungsszenarien, die im Allgemeinen ergebnisorientiert sind, lässt sich jedoch die Zeit für Reflexion oft nur schwer finden.

Das aussprechen, worüber im Allgemeinen Stillschweigen gewahrt wird

In Gesprächen mit Kunstvermittelnden und Lehrenden war ich darüber erstaunt, wie oft sie auf ihre eigene kreative und analytische Arbeitsweise hinwiesen oder ihre Praxis als eine Form von Forschung beschrieben. Sie stellten dies aber als einen persönlichen oder im Stillen stattfindenden Prozess dar, den sie nur selten mit anderen teilen. Obwohl sie also regelmäßig kritisch reflektieren, fühlen sie sich unwohl dabei oder haben wenig Übung darin, sich gemeinsam mit anderen in Reflexionsprozesse zu begeben.

Reflexion in Handlung umsetzen – sie nutzbar machen

Wie oben beschrieben, kann uns kritische Reflexion in die Lage versetzen, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden. Sie hat das Potenzial, einen Raum zu öffnen, in dem wir eingefahrene Vorstellungen hinterfragen können. Aber das ist noch nicht alles: Wie Kolbs Erfahrungs-Lern-Zyklus zeigt, kann (und sollte) Reflexion zu Veränderungen der Praxis führen. Für Kolb und andere, so auch für den kritischen Pädagogen Paulo Freire, ist Reflexion untrennbar mit der Praxis verbunden. Er spricht von "Reflexion und Re-Aktion auf die Welt, um sie zu verändern"6 (Freire 1973, Hervorhebung der Autorin). Nach meinen Erfahrungen gibt es allerdings keine Garantie dafür, dass effektive Reflexion automatisch zu Veränderungen der Praxis führt; es kann sehr mühevoll sein, Ideen in die Tat umzusetzen.

Beim Versuch, diese Herausforderung anzugehen, ist mir klar geworden, dass es für alle an der Kunstvermittlung beteiligten Akteure entscheidend ist, dass Reflexion zum zentralen Thema gemacht und ihre grundlegende Bedeutung für den Lernprozess erkannt wird. Ohne diese Einsicht ist es unwahrscheinlich, dass man für Reflexion ausreichend Zeit finden wird oder dass Versuche, die Praxis zu verändern, gelingen werden. Über diesen grundlegenden "ersten Schritt" hinaus gibt es eine Vielzahl von Strategien, mit denen permanente Reflexion gefördert werden kann:

Praxis als eine Form der Forschung gestalten

Nach meiner Beobachtung wird Kunstvermittlung meist als Dienstleistung verstanden. Mit anderen Worten: Kunstvermittlung ist gemäß dieser Auffassung das, was konkret geschieht – beispielsweise Workshops und Künstlerresidenzen – und das, was man sich als Ergebnisse von solchen Aktivitäten erwartet. Dieses Modell lässt wenig Raum für das Experimentieren oder echte Reflexion, denn sein Fokus liegt auf der Umsetzung des vorab Geplanten, um sicherzustellen, dass erwünschte Wirkungen und Ziele erreicht werden. Ein ergebnisoffeneres "Forschungs"-Modell hingegen ermöglicht einen Prozess des permanenten Fragens und der verstärkten Reflexion sowie laufende Veränderungen innerhalb der Kunstvermittlungsprogramme.

Anstatt zu Beginn eines Programms festzulegen, welche Aktivitäten durchzuführen sind, um bestimmte Ergebnisse zu erzielen, werden im "Forschungs"-Modell spezifische, aber offene Fragestellungen entwickelt (beispielsweise: "Was passiert, wenn Kinder auf Kunstschaffende und deren Arbeitsprozesse treffen?"). Hier werden Ereignisse und Aktivitäten möglich, die sich aus der Untersuchung dieser Frage mit den Beteiligten (in diesem Falle Kunstschaffende und Kinder) ergeben. Während sich die eigentlichen Aktivitäten durchaus an gewohnten Formaten (wie Workshops unter der Leitung von Kunstschaffenden) orientieren können, verspricht man sich von einem solchen Vorgehen, dass die Beteiligten das Programm kritisch prüfen, darüber reflektieren, es neu definieren und umgestalten, während es weiter voranschreitet. Man kann sagen, dass diese Methodik in gewisser Hinsicht jener der Aktionsforschung ähnelt und mit dieser auf einer Linie liegt. Man erwartet sich nämlich von ihr, dass ein Programm formal und inhaltlich für permanente Neubewertung und womöglich für wesentliche Veränderungen offen ist.

Relevante Forschungsfragen finden

Es ist von grundlegender Bedeutung, eine zentrale "Forschungs"-Frage zu formulieren, um die herum sich ein Forschungsprozess entwickeln lässt. Es ist lohnenswert, sich für diese Frage Zeit zu nehmen und darüber intensiv nachzudenken, bevor man mit der Arbeit am Programm beginnt. Ein paar einfache Fragen helfen dabei, Grundsätzliches festzulegen:

  • Was beabsichtigen Sie zu tun?
  • Warum machen Sie es?
  • Woran sind Sie wirklich interessiert?

 

Auch bei Projekten mit klar umrissenen Zielen und Absichten kann es hilfreich sein, diese in eine Frage umzuformulieren. Beispielsweise könnte man ein von Kunstschaffenden geleitetes Projekt zur Reintegration von Jugendlichen, die der Schule verwiesen wurden, mit folgender Frage unter die Lupe nehmen: "Welchen kreativen Kontexten gelingt es, dass junge Menschen mit Engagement lernen und sich bilden?"

Reflexion nach Möglichkeit in bestehende Strukturen und Systeme integrieren

Es ist wichtig zu erkennen, dass eine ernsthafte und engagierte reflexive Praxis, die wir hier vertreten, nicht ohne bewusste Anstrengung erreicht werden kann. Dieser Prozess lässt sich einfacher gestalten, wenn er, wann und wo immer dies möglich ist, in bestehende Strukturen und Systeme integriert wird, anstatt sich Neues auszudenken. Beispielsweise wären regelmäßige Teamsitzungen ein Forum, auf dem einfache, aber äußerst wichtige Fragen – wie die oben erwähnten – diskutiert werden könnten. Sollten solche Foren aber nicht existieren, ist es unabdingbar, Strukturen zu schaffen, die Reflexion ermöglichen. Je regelmäßiger Reflexionsrunden stattfinden, desto effektiver werden sie sein, denn Reflexion will, so wie die meisten Dinge im Leben, geübt sein.

Reflexion explizit machen

Im Dialog mit anderen in einen Reflexionsprozess einzutreten, hat viele Vorteile: Man tauscht Ideen aus, erprobt Theorien und hört sich die Ansichten anderer an, auch wenn sie nicht unbedingt den eigenen entsprechen. All das trägt zum Lernen bei. Wenn wir auf die Expertise von Kolleginnen und Kollegen zurückgreifen, um zu formulieren, wie wir unsere Reflexionen über die gemachten Erfahrungen in künftiges Handeln umsetzen wollen, kommt dies außerdem der Praxis zu Gute. Gleichzeitig ist die kontinuierliche Dokumentation der eigenen Denk- und Ideenfindungsprozesse in einem reflexiven Tagebuch von hohem Wert. Beides – die Eigenverpflichtung zu regelmäßigen reflexiven Gesprächen oder zur Führung eines Tagebuchs – führt dazu, dass ein zeitlicher Freiraum für reflexive Prozesse geschaffen wird und diese Prozesse gleichzeitig explizit gemacht werden.

Die Komplexität von Reflexionsprozessen anerkennen

Kürzlich reflektierten ein Kollege und ich in einem Gespräch über die reflexive Praxis, an deren Einführung wir an der Tate Gallery arbeiteten. Wir stellten fest, dass sich dieser Prozess einfacher und zugleich komplizierter gestaltete, als wir es uns zunächst vorgestellt hatten; einfacher, weil er sich offensichtlich positiv auf die Qualität unserer pädagogischen Praxis auswirkte, förderte er doch die berufliche Weiterbildung des Lernteams und verhalf unseren Besucherinnen und Besuchern zu bereichernden Lernerfahrungen. Als komplizierter erwies sich dieser Prozess, weil seine Etablierung viel länger dauerte, als wir es uns gedacht hatten, und er sich kaum eingrenzen ließ. Letzteres dürfte vielleicht nicht überraschen: Reflexive Praxis kann zwar einen Beitrag im Rahmen von Evaluationsprozessen leisten, doch unterscheidet sie sich sowohl von Evaluation als auch Überzeugungsarbeit insofern, als sie ein Prozess ist, der in erster Linie von den und für die Beteiligten durchgeführt wird, weshalb er notwendigerweise strikt ergebnisoffen bleiben muss.

Reflexive Prozesse laden die Einzelnen dazu ein, potenziell widersprüchliche Vorstellungen gleichzeitig bei sich zuzulassen und mit verschiedenen Möglichkeiten zu experimentieren, wobei mehr Wert auf Veränderung als auf Beständigkeit gelegt wird. Die Akteure sind aufgefordert, auf Vergangenes zurückzublicken, um mögliche Zukunftsszenarien zu entwerfen, die weder vereinfachend noch allumfassend sind oder zu einem nahe liegendem Ergebnis führen. Mein Kollege und ich sind uns darin einig, dass es produktiver ist, diese Komplexität anzunehmen und den Wert dieses kreativen Lernprozesses anzuerkennen, anstatt an dieser Komplexität zu verzweifeln und diesen Prozess vereinfacht beziehungsweise eindimensional zu gestalten. Nur in freien Räumen, wie sie durch eine reflexive Praxis eröffnet werden, kann echtes Lernen stattfinden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es hilfreich, kreative und authentische Ansätze zu entwickeln, mit denen dieser Prozess dokumentiert werden kann, wobei anzuerkennen ist,

  • dass jede Dokumentation dieses Prozesses stets lückenhaft bleiben wird,
  • dass der Wert im Prozess selbst und nicht nur in seiner Dokumentation und in seiner Bilanz liegt,
  • dass sich die "Ergebnisse" dieses Prozesses in der Praxis ebenso wie in jeder Form der Dokumentation zeigen.

 

Der amerikanische Künstler und Wissenschaftler Graeme Sullivan7 macht auf den Wert von künstlerischer Praxis als Kommunikationsform und Mittel zur Konstruktion von Bedeutung aufmerksam, wenn er sagt: "Künstlerische Prozesse sind äußerst wichtige Formen des menschlichen Austausches. Sie haben das Potenzial, unsere Denkweise bezüglich der Frage zu verändern, wie wir dazu kommen, zu wissen, was wir tun."

Sullivan beschreibt, wie uns künstlerische Prozesse nicht nur dabei unterstützen zu verstehen, was wir wissen, sondern auch, wie wir dazu kommen, es zu wissen. Das weist darauf hin, dass künstlerische Prozesse und damit auch Kunstschaffende selbst, die Expertinnen und Experten darin sind, solche Prozesse auszuhandeln, die Art und Weise, in der wir lernen, beleuchten und eventuell verändern können. Mit diesem Beitrag will ich hervorheben, dass Reflexion, verstanden als zentraler Bestandteil der künstlerischen Praxis und der Entwicklung von neuem Wissen und Verständnis, eine entscheidende Rolle in Lernprozessen spielen kann. Auch wenn die Umsetzung einer systematischen und gründlichen Reflexionspraxis eine große Herausforderung darstellt, führt sie dennoch zu einem tief greifenden und positiven Wandel: Erst durch Reflexion sind wir in der Lage zu verstehen, was das, was wir tun, eigentlich ist, und wie wir es zum Besseren wenden können.

 

1 Dewey, John: How We Think, Boston 1933.

2 Dewey, zitiert nach Rodgers, Carol: "Defining reflection: Another look at John Dewey and reflective thinking", Teachers College Record. Vol. 4, (2002) Number 4, S. 842–866.

3 Schön, Donald: The Reflective Practitioner: How Professionals think in Action, London 1983, S. 26.

4 Kolb, David A.; Fry, Ron [1975]: "Toward an applied theory of experiential learning", in: Cooper, C. (Hg.): Theories of Group Process, London 1984.

5 Shahn, Ben [1957]: The Shape of Content, Cambridge MA 1957, S. 19.

6 Freire, Paulo [1970]: Pedagogy of The Oppressed, London 1993.

7 Sullivan, Graeme: Art Practice as Research: Inquiry in the Visual Arts, London 2005.