Mona Jas
I < 3 Kunst – Experimentierräume zwischen Kunsthochschule und Schule
Mona Jas

I < 3 Kunst – Experimentierräume zwischen Kunsthochschule und Schule

Im Jahr 2012 begann die Kurt-Tucholsky-Schule in Berlin-Pankow, an der ich seit September 2011 als Kulturagentin tätig war, mit Kunsthochschulen zu kooperieren. Der folgende Text reflektiert die Potenziale der Zusammenarbeit zwischen Kunsthochschulen und Schulen. Welchen Nutzen haben die einzelnen Akteure von einer Zusammenarbeit – und welchen die verschiedenen beteiligten Systeme? Welche Experimentierräume können durch eine solche Partnerschaft entstehen? Und in welchem Verhältnis steht dies zu den aktuellen Diskussionen über die Wirkungsweisen künstlerischer Erfahrungen zu ihren Legitimationsdiskursen?1 Anhand der Erfahrung aus den Projekten "We love it golden" der weißensee kunsthochschule berlin und "Inszenierte Fotografie" der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle werden diese Fragen erörtert.

Mythen kultureller Bildung

In ihrem Beitrag "Über mögliche Zusammenhänge von Kunst (Theater) und Bildung"2wendet sich Ulrike Hentschel gegen die sogenannte Mythenbildung im Bereich der kulturellen Bildung: "Es sei an der Zeit, sich von den "Standard-Mobiliars und Klischees der Weltdeutung" […] zu verabschieden, die die Wirksamkeit von Projekten im Rahmen kultureller Bildung immer wieder untermauern sollen, aber jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren"3, zitiert sie darin die Publikation des Rates der kulturellen Bildung "Alles immer gut."4 "Mehr bringt mehr – immer etwas Neues" lautet darin die Überschrift des vierten Kapitels. Die kulturelle Bildung sei ein unübersichtliches Feld, wird darin ausgeführt – die sich daraus entwickelnde Reichhaltigkeit entbinde jedoch keinesfalls von durchdachten Konzepten. Für die Entwicklung von Qualitätsstandards müssten die Akteure vernetzt und die einzelnen Projekte und Ansätze genauer betrachtet werden. "Eine Vielzahl an separaten Einzelprojekten, die immer wieder aufs Neue erfunden werden, bei denen trägerbezogene Interessen im Vordergrund stehen, lassen keineswegs automatisch einen Mehrwert entstehen. Denn mehr bringt nicht unbedingt mehr."5

Künstlerische Prozesse sind niemals ohne Folgen?

Im Kunstkontext richten sich Intentionen – im Sinne von Wirkungsabsichten – auf die Rezipientinnen und Rezipienten der Werke. Die Kunstphilosophin Juliane Rebentisch fragt in diesem Zusammenhang nach dem Verhältnis eines ästhetischen Bereichs der Kunst zur gesellschaftlichen Realität sowie nach dem emanzipatorischen Potenzial ästhetischer Erfahrung.6 Rebentisch stellt hierzu fest, heute identifiziere man die Idee der Autonomie der Kunst häufig per se mit einer apolitischen L"art pour l"art-Position und fordere entsprechend den Einzug "des Politischen" in die am Autonomiegedanken orientierte Ästhetik.7 Sie selbst spricht sich gegen die polarisierende Gegenüberstellung von L"art pour l"art-Positionen und dem "Politischen" aus. Im Zuge der künstlerischen Entwicklungen zu offenen Werkformen seit den 1960ern seien die Grenzen zwischen Kunst und Nichtkunst, Kunst und Leben destabilisiert.8 Sie beschreibt, wie sich die ästhetische Erfahrung und die dadurch ermöglichte Reflexion individuell ereigne, " … dass Kunst ein Moment des unmittelbaren Glaubens an die von ihr eröffnete Welt ebenso fordert wie eine diesen Glauben brechende Aufmerksamkeit für ihre Vermitteltheit als Kunst. […] Das Ereignis der Kunst ist jetzt nicht mehr das Objektive des Werks, sondern das eines Prozesses zwischen Werk und BetrachterInnen."9 In Bezug auf die künstlerische Arbeit in Bildungszusammenhängen führt Ulrike Hentschel dazu an, dass sich diese Intentionen – anders als im Kunstkontext – nicht nur auf die Rezipientinnen und Rezipienten der Werke, sondern auch auf die produzierenden, nichtprofessionellen Akteure richteten. Mit der künstlerischen Arbeit in Bildungssettings seien daher selbstverständlich stets Wirkungsabsichten verbunden.

Für Hentschel liegen die Probleme jedoch nicht in dieser grundsätzlichen Absicht, sondern sie begännen dort, "wo sie (die Absicht) zum Ausgangspunkt der Arbeit wird, wo also theaterpädagogische Arbeit ausgehend von normativ gesetzten Wirkungen und Zielen konzipiert wird".10 Damit sei die Grundlage für die Legitimationsstrategien gelegt, die im Sinne der "Mythen kultureller Bildung"11 sehr verbreitet ist. Ulrike Hentschel kritisiert anhand der theaterpädagogischen Arbeit drei Punkte dieses Legitimationsdiskurses – das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung, die Reduktion auf einen Methodenbaukasten und die Reduktion von Bildung auf den Erwerb von Kompetenzen. Diese drei Aspekte werden nachfolgend aufgegriffen und in den Zusammenhängen von Kunstvermittlungsprojekten von Studierenden erörtert.

Gegen das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung

Mit der Prämisse, kulturelle Bildung werde als wertvoll erachtet, weil sie Ziele und Zwecke zu erreichen verspreche, die über sie hinauswiesen beziehungsweise nicht in ihr selbst lägen, über die tatsächlichen Kausalitäten wisse man nach wie vor wenig, wendet sich der Rat für kulturelle Bildung gegen "verzweckende" Legitimationsdiskurse.12 Auch wenn einerseits ein Reichtum an praktischen Ansätzen zu beobachten sei, entstünden gleichzeitig Parallelwelten, die eine produktive Diskurskritik in Form von Reflexion und verbindlichem Austausch notwendig erscheinen lasse. Die nachfolgenden Projektabläufe deuten an, in welcher Weise hier die Reflexion der eigenen Arbeitsmethoden und künstlerischen Ideenfindung zum Ausgangspunkt der gemeinsamen Arbeit genommen wurde, ohne dabei das Handeln über vorweg beschriebene Ziele in Form von Transfereffekten im Hinblick auf personell-individuelle Kompetenzen, sozial-interaktive sowie institutionelle Wirkungen oder ökonomische Resultate zu begründen.13 "Zwischen Kunst und Vermittlung. Künstlerische Kunstvermittlung als Fortsetzung der Kunst?" lautet etwa der Titel einer Hausarbeit, die dies entlang einer kritischen Reflexion des Projekts "Inszenierte Fotografie" deutlich macht. 14 "Inszenierte Fotografie" wurde im Rahmen der Projektwoche der Kurt-Tucholsky-Schule 2014 von dem Studierenden-Team der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle15 im Jugendkulturzentrum Garage Schülerinnen und Schülern aller Jahrgänge folgendermaßen zur Wahl angeboten: "Wen wolltet ihr schon immer einmal darstellen? In welche Rolle wollt ihr schlüpfen? […] Wer bin ich? Was trage ich? Wo halte ich mich auf? […] Für den kurzen Moment des Fotos entwickeln wir eine neue Welt. Eine inszenierte Fotografie." Eine Schülerin nutzte diesen Rahmen beispielsweise, um das Thema "Armsein – Reichsein" zu untersuchen und nahm Kontakt zu einem wohnungslosen Mann auf, dem sie im U-Bahngebäude Pankow begegnete. Andere konzentrierten sich auf die fotografische Erforschung des Stadtraums und gestalteten Interventionen.

In dem Projekt "We love it Golden" nutzten die Studierenden der weißensee kunsthochschule berlin in Zusammenarbeit mit "COPY & PASTE – die Fälscherwerkstatt", dem zentralen Kooperationsprojekt der Kurt-Tucholsky-Schule mit der Sammlung der Neuen Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart Berlin, den Aspekt der Fälschung und gaben ihm die Überschrift: "Original und Fälschung". Die Studierenden entwickelten aus ihren jeweiligen Fachgebieten (Bildhauerei, Malerei, Mode-Design, Raumstrategien, Textil- und Flächendesign und Visuelle Kommunikation) heraus ein komplexes Konzept für fünf jeweils eintägige, aufeinander aufbauende Projekttage. Ergebnisse mit Arbeiten aus der Fälscherwerkstatt wurden gemeinsam 2014 im Rahmen der Ausstellung "I <3 Kunst" in der Kunsthalle präsentiert.16

"Fümms bö wö tää zää Uu" ertönt es aus dem Lautsprecher im Atelierraum des Jugendkulturzentrums MAXIM. Die Ursonate von Kurt Schwitters läuft fünf Minuten, Schülerinnen und Schüler sowie Studierende hören aufmerksam und gleichzeitig mit gemischten Gefühlen zu. Anschließend erklingen Tonaufnahmen des Künstlers Wolfgang Müller. Es handelt sich um Vogelgesang von Staren. Stare hatten auch Kurt Schwitters während seiner Aufenthalte in Norwegen gehört, die von ihm gesprochenen Töne der Ursonate imitiert und über viele Generationen hinweg weitergegeben. Nun kommt beides zusammen, die Ursonate und das ihr ähnelnde Zwitschern der Stare. Copy & Paste? "Sprechen statt Bilder malen – ist das Kunst?".17 Die Ursonate und das Zwitschern der Stare bildeten den Auftakt des Projektes "We love it golden": Experimente mit Schriften, Schriftbildern, Klängen und Sprachlauten. Fremdsprachige Texte in Mandarin, Maya, Russisch und Spanisch wurden gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern in Stimm- und Klangkompositionen "übersetzt". Es ging um Texte, die in ihrem jeweiligen kulturellen Kontext von zentraler Bedeutung waren, wie etwa Kopien der 800 Jahre alten Maya-Handschrift "Codex Dresdensis" der Landes- und Universitätsbibliothek Dresden oder Schriften des Lao-tse. In kleinen Gruppen wurden aus den Schriftbildern die eigenen Kompositionen entwickelt, dazu Geräusche aufgenommen, Instrumente gespielt und mit Stimmen experimentiert – mit offenem Ausgang.18

Im Gegensatz dazu werden im Feld der kulturellen Bildung Wirkungsweisen tendenziell als "selbsterfüllende Prophezeiung"19 zu sehr vorweggenommen: "Im Wettbewerb um die im Feld der kulturellen Bildung zu vergebenden öffentlichen Ressourcen springen Pädagoginnen und Pädagogen – oft wider besseren Wissens – auf den Zug des Legitimationsdiskurses auf", führt Ulrike Hentschel aus. So würden die Projekte mit dem Versprechen der zu erreichenden Kompetenzen verkauft werden, " … und nach Abschluss der Projekte belegen sie, dass sie die intendierten Ziele erreicht haben" – als Bestätigung des Legitimationsdiskurses.20 Die Arbeiten in den Studierenden-Projekten lösten im Vergleich dazu Irritationen auf allen Seiten aus, die Prozesse selbst standen im Zentrum. Die Studierenden erlebten die Rahmung künstlerischer Prozesse durch die Bildungsinstitution Schule. Eigene, teilweise durch die wirkungsmächtige Setzung des Kant"schen Geniebegriffes geprägte Vorstellungen künstlerischen Schaffens, in dem das Genie selbst nicht beschreiben kann, wie es seine Produkte hervorbringt21, wurden dadurch hinterfragt. Schülerinnen und Schüler mussten und konnten sich ebenfalls in die Offenheit der Projekte neu einfinden, die stets ohne zuvor deklarierte "Lernziele" begonnen wurden. Diese erlebten Brüche und Widerstände, Hinterfragungen und auch Zweifel bereicherten die Projekte und verhinderten das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung.

Mehr als ein Methodenbaukasten

"Theaterpädagogische Arbeitsformen werden auf eine Reihe von Methoden reduziert, die unabhängig vom jeweiligen Projekt und losgelöst von künstlerischen Absichten eingesetzt werden", kritisiert Ulrike Hentschel die Verkürzung des Blicks auf Inhalte, die lediglich als Mittel dienen, um anvisierte Ziele zu erreichen.22 In Übertragung auf die Arbeit der Studierendenprojekte kann beobachtet werden, dass auch hier zunächst mit einer Reihe von verschiedenen Methoden begonnen wurde. Gleichzeitig vermittelte dies den Teilnehmenden jedoch nicht die gewohnte Sicherheit, da die Art und Weise des Methodeneinsatzes als offen und unvorhersehbar empfunden wurde. "Mein Eindruck: Nachdem ich mir selber kaum vorstellen konnte, wie das Projekt aufgebaut ist und was da passieren wird, war ich doch sehr zum Positiven überrascht, dass das Projekt nicht nur nach Anweisungen der Studentinnen ablief, sondern dass man selber Ideen mit einbringen konnte, dass die Studentinnen uns vertraut haben, dass wir selbstständig alleine arbeiten konnten und dass wir trotz der Verschiedenheit der eigenen Projekte Toleranz gezeigt haben, sodass es jedem Spaß gemacht hat", fasst eine Schülerin ihre Erfahrung in dem Projekt "Inszenierte Fotografie" in Worte.23 Sie offenbart hier durchaus die anfängliche Verunsicherung, zunächst nicht zu wissen, was genau passieren sollte. Den weiteren Verlauf hat sie als heterogen und selbstbestimmt wahrgenommen. Ein Schülerteam erkundete beispielsweise Geschäfte rund um den Alexanderplatz und präsentierte als ein Ergebnis die Fotografien von den Gebäuden und Läden. Das Innenleben eines Hutregals in einem Jägergeschäft bildete dabei ein Motiv, das seitdem in vielen Variationen für Flyer und Plakate der Schule genutzt wird.24 Ferner wurde im Rahmen dieses Projekts eine Leseecke mit einem Kaffeetisch an einer Bushaltestelle aufgebaut. Ein Schüler saß dort den Vormittag über, unterhielt sich mit Passantinnen und Passanten und lud die Busfahrerinnen und -fahrer zum Essen und Trinken ein. Das Projekt war zunächst methodisch an der visuellen Forschung im Medium der Fotografie orientiert. Durch die Gruppendynamik, die Teamarbeit und die offenen Arbeitsweisen im Dialog konnten sich aus diesem Setting unter anderem auch die oben beschriebenen Interventionen im öffentlichen Raum entwickeln, die in ihrer Prägnanz und Aussagekraft über die Projektarbeit hinaus im Schulganzen fortwirk(t)en. So ist die Fotografie, die den Schüler Kaffee trinkend an der Bushaltestelle zeigt, nun als Titelbild der Schulbroschüre gewählt worden. Ferner brachten Schülerinnen und Schüler des Projekts die Zusammenarbeit mit marginalisierten Gruppen in andere Unterrichtszusammenhänge ein. Dies zeigt, in welcher Weise durch flexible, im laufenden Prozess veränderbare Methoden Studierende und Schülerinnen und Schüler künstlerische Formen rezipierten, um neue Inhalte zu generieren. In Projekten der kulturellen Bildung, die die Möglichkeit haben, in einem ähnlichen Setting zu arbeiten, besteht folglich weniger die Gefahr, Inhalte lediglich als Mittel anvisierter Ziele zu nutzen und so eine Art "Methodenbaukasten" zu generieren. Dies gilt auch für die Reduktion auf Methodenwissen, wie es Ulrike Hentschel in einem der drei für sie kritikwürdig erscheinenden Punkte des Legitimationsdiskurses beschreibt. 25

Bildung als Entfaltung von Differenz26 statt Reduktion von Bildung auf den Erwerb von Kompetenzen

In Kohärenz mit den eingangs zitierten Darlegungen Juliane Rebentischs zum Ereignis der Kunst als Prozess ihrer Vermitteltheit stellt Ulrike Hentschel fest: "Erst unter der Bedingung, dass im Spiel eine eigenständige theatrale Wirklichkeit erzeugt wird, wird die Erfahrung des "Zwischen", wird eine Differenzerfahrung möglich, die als entscheidende Voraussetzung ästhetischer Bildung gelten kann."27 Eine Ableitung normativer, inhaltlicher Bestimmungen von Zielen ästhetischer Bildung sei daraus jedoch genau so wenig festlegbar wie eine didaktisch und methodisch zuverlässige Ansteuerung ästhetischer Erfahrung.28

Die Projekte der Studierenden stellten Versuchsanordnungen dar, in denen unter gemeinsam abgestimmten Regeln künstlerische Abläufe entwickelt wurden. Diese konnten individuell durch eigene Anliegen und Neigungen umgewandelt und neu gestaltet werden. Ein Beispiel ist die oben geschilderte Transformation eines visuellen Schriftbildes in eine Klangkomposition aus dem Projekt "We love it golden" oder auch die Nachformung eines Bildes als "Stille Post" und die verschiedenen Abformungen der eigenen Nasen aus dem gleichen Projekt. In der "Stillen Post" bekamen alle zunächst Vorlagen, die Abbildungen von unterschiedlichsten Skulpturen und Plastiken zeigten. Die Aufgabe war es nun, eine der Abbildungen nach eigenen Möglichkeiten nachzuformen und anschließend an die Nachbarn weiterzugeben, die daraufhin diese Plastik wiederum kopierten. Ausgehend von der Profilansicht sollte in dem "Nasenteil" die vollplastische Nase eines zuvor gewählten Partners geformt werden. Danach wurden Abdrücke der eigenen Nasen in Ton genommen, diese mit Gips ausgegossen und die drei Versionen der Nasen verglichen: die echte Nase, die vollplastisch modellierte Nase und die durch Abdruck produzierte Nase. Bei den Handlungssequenzen ging es nicht um das Erreichen vorher festgelegter Kompetenzen. Die künstlerische Erfahrung stand im Zentrum, und das Hauptanliegen war es, gemeinsam zu erforschen, welche Transformationen sich aus dem Kopieren ergeben könnten. Dies erschien zunächst unsinnig und erhielt Sinn durch die zahlreichen Entdeckungen von Möglichkeiten an Gestaltung und Ausdruck. Bei den "Nasen" war dies beispielsweise die neue Wahrnehmung eines Gesichtsteils und Sinnesorgans durch dessen verschiedene Abformungen in "Multiples" sowie der Präsentation derselben. Auch wenn Befähigungen im Sinne von Kompetenzen vermittelt wurden, waren diese nicht im Voraus kalkuliert – ihre Vermittlung war nicht das Ziel. Es ging darum, sich und das eigene Umfeld mit der Versuchsanordnung des Projekts neu wahrzunehmen und durch eigene Handlung selbst zu gestalten. Hierbei entstanden unvorhersehbare Prozesse, die das von Ulrike Hentschel beschriebene "Zwischen" ermöglichten und Bildung und Lernen gerade dadurch Raum gaben. Im Rahmen der oben beschriebenen Intervention an der Bushaltestelle betrachtete ein Schüler sitzend einen Kunstband von Cindy Sherman. Da ihm die Arbeiten der Künstlerin nicht gefielen, drehte er den Band kopfüber um und ließ sich fotografieren.29 Er konnte so mit einer performativen Handlung die Kunst in ihrer Vermitteltheit darstellen und gleichzeitig einen künstlerischen Ausdruck für seine individuelle Wahrnehmung bilden. Ein vielschichtiger Vorgang wie dieser lässt sich nicht über eine vorweg beschriebene Kompetenz regulieren. Ulrike Hentschel erörtert, kulturelle Bildung erscheine im Kontext des Legitimationsdiskurses häufig als eine Summe aus verschiedenen Kompetenzen. Dabei bliebe unberücksichtigt, dass Kompetenzen als funktional für einen bestimmten festgelegten Anforderungskontext definiert seien. Sie hält demgegenüber an einem Bildungsbegriff fest, der sich dieser Funktionalität verweigert und Bildungsprozesse als risikoreich, ergebnisoffen, nicht vollständig didaktisierbar und womöglich disfunktional gegenüber einem gegebenen Kontext charakterisierten.30

Aspekte der künstlerischen Arbeit in "We love it golden" waren Fragen von Übersetzungen und Transformationen; Wiederholbares und Nicht-Wiederholbares ebenso auch Fragen des Er- und Verlernens.31 Die Teilnehmenden mussten ihr herkömmliches Verständnis von Sinn und Bedeutung von Texten, Objekten, Bildern zunächst verlernen und sich darauf einlassen, sinnfrei mit den jeweiligen Bezügen zu jonglieren. In den Feedback-Gesprächen, die im Anschluss an jeden Workshoptag durchgeführt wurden, äußerten einige Verunsicherung darüber. 32 Eine besondere Herausforderung lag darin begründet, dass Schule in der Regel Wissen und stets zielgerichtetes Handeln vermittele. Die Alltagserfahrung der Schülerinnen und Schülern war also nicht durch eine Differenzerfahrung als etwas Positives geprägt, sondern durch die Vereinheitlichung oder auch Homogenisierung mittels quantifizierender Kompetenzabfragen. Sich aus diesem Kontext zu lösen und Handlungen zu vollziehen, die sich dem herkömmlichen Sinn entzogen, war daher eine neue Erfahrung für die Schülerinnen und Schüler.

Übertragen auf die kunstvermittelnde Praxis, zeigen die oben geschilderten Prozesse der Projektbeispiele Perspektiven auf, die in ihrem Ansatz einen – ähnlich dem von Ulrike Hentschel beschriebenen – Blick auf einen Bildungsbegriff freigeben, der sich Funktionalität verweigert, ohne dabei jedoch folgenlos zu bleiben. Als Konsequenz ergibt sich daraus, dass es nicht darum geht, ausgewiesene Methoden zu entwickeln, "sondern darum, Bedingungen zu schaffen, unter denen ästhetisch bildende Prozesse möglich werden. Ihr tatsächliches Zustandekommen entzieht sich jeder gezielten pädagogischen Einflussnahme, so wie auch die Mehrzahl derjenigen Faktoren, die für das mögliche Scheitern dieser Bildungsprozesse verantwortlich sind."33

Was haben die Beteiligten davon?

Ein experimenteller Raum des "Dazwischen" kann in der Zusammenarbeit von Kunsthochschule, Schule und Kulturinstitution – innerhalb der oben beschriebenen Bedingungen und auch Rahmungen – entstehen.

In der Schule konnten Veränderungen beobachtet werden. Durch die Impulse der Studierendenprojekte haben sich die Zugänge zu den in der Schule verhandelten Themen ebenso verschoben wie die Repräsentationsstrategien. Zunächst zögerlich, im Laufe der Schuljahre dann immer nachdrücklicher wurde mit den in den Projekten produzierten Motiven als "Aushängeschilder" gearbeitet. Nicht nur findet sich die Zusammenarbeit, wie oben erwähnt, im Titelbild der aktuellen Schulbroschüre wieder, sondern auch in den Motiven der Schulplakate und Flyer für aktuelle Ausstellungen und Präsentationen. Die Nachfrage des Kollegiums und der Schülerinnen und Schüler nach weiteren Projekten mit Studierenden beider Hochschulen macht deutlich, dass etwas Neues entdeckt und ein Bedürfnis geweckt wurde: das Bedürfnis nach neuen Impulsen aus einer zeitgenössischen künstlerisch-gestalterischen Tätigkeit, nach Kontakt mit experimentellen Herangehensweisen und nach Kennenlernen innovativer Methoden verbunden mit handwerklichem Wissen.

In der Hochschule ermöglicht die Projektarbeit eine Verbindung von Praxiserfahrung mit Theoriearbeit und auch Theoriebildung. Hier eröffnet das Netzwerk, das im Rahmen des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen" aufgebaut werden konnte, zahlreiche neue Erfahrungsmöglichkeiten. Hochschulinterne Themen zur Inklusion und des Service Learning konnten im Rahmen der Projekte vertieft und fachgebietsübergreifend bearbeitet und die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch Studierende befördert werden. Unter dem Begriff des Service Learning ("Lernen durch Engagement"), der gerade an Hochschulen intensiv als Neuerung etabliert wird, ist eine Lehr- und Lernform zu verstehen, bei der Theorie vermittelnde Seminaranteile (Learning) mit sozialem Engagement (Service) Studierender kombiniert werden. Einige Hochschulen haben bereits Erfahrungen damit gesammelt, jedoch sind diese Ansätze noch vergleichsweise wenig bekannt und werden bislang nicht umfassend in der Hochschuldidaktik und der strategischen Profilbildung der Hochschulen berücksichtigt. Die Projektarbeit im Rahmen der kulturellen Bildung konnte daher hier einen praktisch-theoretisch beispielhaften Beitrag leisten. Die Seminararbeit rund um die Projekte bot einen Austausch der Fachexpertisen.

Insgesamt haben die Schülerinnen und Schüler mit vielen Aktionen, Interventionen und Performances gemeinsam mit den Studierenden Arbeiten auf den Weg gebracht, die ihr unmittelbares Umfeld durch die künstlerische Qualität der Ergebnisse beeindruckten. Dies vermittelte ihnen Selbstbewusstsein und das Gefühl, durch ein künstlerisches Handeln Spuren zu hinterlassen. Im weiteren Verlauf konnte beobachtet werden, wie eine Schülerin das in diesem Projekt für sich erarbeitete Thema der Armut in verschiedene Bereiche der Schule einbrachte und diskutierte. Der Impuls zu den jetzigen Aktivitäten der Schülerin wie auch ihr Ursprung können dem Projekt "Inszenierte Fotografie" zugeschrieben werden.

Seit diesen ersten Projekten der weißensee kunsthochschule Anfang 2013 haben sich mittlerweile zahlreiche weitere Studierende und Alumni verschiedener Fachgebiete durch die intensive Unterstützung des Rektorats und der Hochschulverwaltung sowohl in Projekten der Schule mit Kulturinstitutionen als auch in den Unterricht eingebracht.34 Diese Erfahrung trug dazu bei, als Kulturschaffende bewusstere Entscheidungen für oder gegen verschiedene Handlungsfelder zu treffen und auch "das Museum" als wichtigen Ort künstlerischer Arbeit zu entdecken. Die Untersuchung von Fragen, wie die nach dem Wert eines Originals, öffnete den Studierenden der Kunsthochschule neue Aspekte. Zum einen entwickelten sie zahlreiche Handlungsanweisungen sowie neue Methoden und gewannen damit sofort das Interesse und die aktive Teilnahme der Schülerinnen und Schüler. Zum anderen untersuchten sie so gleichzeitig auch das Selbstverständnis der Kunsthochschule, das in der Regel aus der künstlerischen Produktion von Originalen erwächst. Die Projektpraxis und die Erfahrung der Schülerinnen und Schüler regten die Studierenden zur Selbstreflexion und zur Analyse der Produktionszwänge an, denen das eigene Schaffen und Lernen subkutan unterlag. In den Workshops mit den Schülerinnen und Schülern konnten die Studierenden Zusammenhänge aus neuen Perspektiven wahrnehmen und die Erfahrungen mit anderen so in die eigene künstlerisch-gestalterische Arbeit rücküberführen. Inhaltlich griffen die Projekte tief in komplexe künstlerische Auseinandersetzungen und künstlerische Strukturen ein.

In welchem Verhältnis stehen nun die oben beschriebenen Experimentierräume zwischen Kunsthochschulen und Schulen zu den aktuellen Diskussionen über die Wirkungsweisen künstlerischer Erfahrungen zu ihren Legitimationsdiskursen? Durch ihre Positionierung in einem relativ geschützten Zwischenraum und gestützt von beiden Systemen (Hochschule und Schule) ermöglichen Projekte dieser Art eine prozessorientierte Zusammenarbeit jenseits von Legitimationsdiskursen. Da die Projekte auch als Teil der Ausbildung der Studierenden verstanden werden und so ein Teil ihres eigenen Lern- und Bildungsprozesses sind, entsteht eine Arbeit auf Augenhöhe, die auch das Scheitern impliziert und durch systematische Auswertungen produktiv ist.

In diesem Sinne bildet diese Zusammenarbeit jenseits von Legitimationsstrategien eine schützenswerte Perspektive im Feld der kulturellen Bildung, um die Verbindung von künstlerischer Qualität, Partizipation und Innovation zu entfalten.

 

1 Vgl. "Über mögliche Zusammenhänge von Kunst (Theater) und Bildung. Constanze Eckert im Gespräch mit Ulrike Hentschel", in: Mission Kulturagenten  Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015; siehe auch grundsätzlich aus der Perspektive der Vermittlung, in: Hamer, Gunhild (Hg.): Wechselwirkungen. Kulturvermittlung und ihre Effekte, München 2014; aus der Perspektive der Künste: Laleg, Dominique: "Das Potenzial des Ästhetischen. Drei Fragen an Juliane Rebentisch zum Verhältnis von Ästhetik und Politik", in: ALL-OVER, Nr. 3, Oktober 2012, S. 26–35, online: allover-magazin.com/?p=1072 [31.05.2015].

2 Hentschel, U., a. a. O.

3 Ebd.

4 Rat der kulturellen Bildung: Alles immer gut, Essen 2013, S. 32ff.

5 Ebd.

6 Rebentisch, J., a. a. O., S. 26.

7 Ebd.

8 Ebd., S. 28f.

9 Ebd., S. 32f.

10 Hentschel, U., a. a. O.

11 Ebd.

12 Rat der kulturellen Bildung, a. a. O., S. 22.

13 Dezidierte Beschreibung dieser fünf Wirkungsbereiche in: Ebd. S. 23ff.

14 Bruns, Lea: Zwischen Kunst und Vermittlung. Künstlerische Kunstvermittlung als Fortsetzung der Kunst? Hausarbeit an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, WS 13/14.

15 Diese Kooperation entwickelte sich auf der Basis der Lehrtätigkeit der Autorin an der Hochschule.

16 Siehe Publikation "I <3 Kunst", weißensee kunsthochschule berlin (Hg.) Berlin 2014

17 Gregor Kasper, Konzept für Klang-Block 2013, Archiv Mona Jas

18 Beispielkomposition von Schülerinnen und Schülern, zu hören online: www.kulturagenten-programm.de/assets/Uploads/Downloads/EmmilieAntonia05x.wav [21.03.2015].

19 Der Begriff wurde erstmals 1911 vom Ökonomen Otto Neurath erwähnt.

20 Hentschel, U., a. a. O.

21 Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (1791), §5, B 182, zitiert nach: Ullrich, Wolfgang: "Kunst als Arbeit?", in: Ullrich, Wolfgang: Tiefer hängen. Über den Umgang mit Kunst, Berlin 2003, S. 130.

22 Hentschel, U., a. a. O.

23 Vgl. Degener, Franziska, Schülerin, Projektbeschreibung "Inszenierte Fotografie", 2014

24 Siehe: Flyer: SchülerInnen der KTO zeigen Fotoarbeiten, MAXIM, 04.09.2014

25 Hentschel, U. a. a. O.

26 Vgl. Maset, Pierangelo: Ästhetische Bildung der Differenz: Wiederholung 2012 (mit den zentralen Themen der Unvergleichbarkeit der Subjekte, der Perspektiven der Wahrnehmung und der Entfaltung des Anderen)

27 Hentschel, Ulrike: Theaterspielen als ästhetische Bildung – Zur bildenden Wirkung des Theaterspielens, Vortrag bei der Fachtagung des tps in Bern, 20. November 2011, online: www.assitej.ch/fileadmin/images/Fachveranstaltungen/Hentschel_Theaterspielen_als_%C3%A4sthetische_Bildung_Referat_Fachtagung_111120.pdf [15.05.2015].

28 Ebd.

29 Siehe: Broschüre der KTO: Kulturelle Bildung an der Kurt-Tucholsky-Schule 2015. Sie hat diese Fotografie als Titelbild.

30 Hentschel, U., a. a. O.

31 Zum Begriff des Verlernens siehe zum Beispiel: Sternfeld, Nora: "Verlernen vermitteln", in: Kunstpädagogische Positionen Band 30, Hamburg 2014.

32 Vgl. Kasper, Gregor: Audioaufzeichnung Feed-Back Gespräche, 2013; Jas, Mona: Teilnehmende Beobachtung, 2013.

33 Hentschel, U. a. a. O.

34 Die Projektarbeit mit der Kurt-Tucholsky-Schule wird regelmäßig fortgesetzt, dazu konnten durch "Kunstklasse" der Ravensburg Stiftung geförderte Projekte umgesetzt werden. Siehe unter: www.burg-halle.de/kunst/kunstpaedagogik-erziehung/ke-kp/aktuelles/details/a/drei-projekte-von-stiftung-ravensburger-verlag-gefoerdert.html [06.03.2015].