Kristin Bäßler
Freiraum Theater - Die Schaubühne am Lehniner Platz
Kristin Bäßler

Freiraum Theater - Die Schaubühne am Lehniner Platz

Ein Gespräch mit Wiebke Nonne, Theaterpädagogin der Schaubühne am Lehniner Platz

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Seit 2011 kooperieren die Schaubühne am Lehniner Platz und das Berliner Thomas-Mann-Gymnasium aus dem Märkischen Viertel. Inhaltlicher Schwerpunkt des Kooperationsprojekts zwischen der Schule und dem Theater ist die "Neue Dramatik" als produktionsorientierter Deutschunterricht in der Oberstufe. Der Mehrwert der Kooperation zwischen Schule und Theater liegt sowohl in der Auseinandersetzung mit Texten und Stücken zeitgenössischer Autoren als auch in der experimentellen Arbeit zu konkreten Produktionen. Die auf Nachhaltigkeit angelegte Kooperation möchte daher nicht nur den Rahmenplan des Deutschunterrichts anreichern, sondern den Fokus auf die Besonderheiten des Kulturpartners setzen: Das "Abenteuer Theater" soll in seinen verschiedenen Facetten und Eigenheiten den Schülerinnen und Schülern näher gebracht werden.

Workshop mit Schülerinnen und Schülern des Thomas-Mann-Gymnasiums in der Schaubühne
Foto: Forum K&B

Kristin Bäßler: Wie hat die theaterpädagogische Vermittlungsarbeit der Schaubühne in den 1990er Jahren begonnen?

Wiebke Nonne: Die konkrete theaterpädagogische Arbeit fing mit Thomas Ostermeier an, der 1999 die künstlerische Leitung der Schaubühne zusammen mit Sasha Waltz, Jens Hillje und Jochen Sandig übernahm. Er hat damals Uta Plate als Theaterpädagogin dazu geholt, die die Abteilung hier aufgebaut hat.

Welche Ziele hat Ostermeier damals mit der Initiierung und dem Aufbau des theaterpädagogischen Bereichs verfolgt?

Der Bereich der Theaterpädagogik als Bestandteil eines Theaterbetriebs ist ja noch relativ jung und hat sich erst in den letzten Jahrzehnten als feste Instanz an den größeren Theaterhäusern herausgebildet. Er hat sicherlich auch mit dazu beigetragen, das Publikum ernst zu nehmen und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass man insbesondere junge Menschen umfassender an das Theater heranführen kann als nur über den klassischen Stückbesuch oder ein Abo. Es war und ist ein Thema der Schaubühne, sich mit aktuellen Fragen der Gesellschaft auseinanderzusetzen. Und das bedeutet auch, ein breites Spektrum von Menschen anzusprechen. Auch jene, die vielleicht sonst nicht ins Theater gehen. Dafür ist eine Vermittlungsabteilung ganz wichtig, um Kontakte herzustellen, Zugangsbarrieren abzubauen, sich gemeinsam mit Stoffen auseinanderzusetzen und bei der Aneignung zu begleiten.

Im Rahmen des Kulturagentenprogramms haben Sie eine enge Kooperation mit dem Thomas-Mann-Gymnasium aufgebaut. Sie haben eine Reihe von Projekten mit Schülerinnen und Schülern durchgeführt, künstlerische Workshops für Lehrerinnen und Lehrer angeboten und am Ende die Zusammenarbeit in einer eigenen Broschüre1 dokumentiert. Wie hat sich diese sehr komplexe Kooperation entwickelt?

Der Startschuss unserer Kooperation im Rahmen des Kulturagentenprogramms war zunächst ein Projekt mit drei Schulen aus dem Märkischen Viertel. Die Kulturagentin Anja Edelmann und Uta Plate hatten die Idee, zu Beginn der Kooperation mit einer großen Auftaktveranstaltung ein deutliches Zeichen zu setzen, dass die Schaubühne jetzt vor Ort im Märkischen Viertel ist. So ist die Tanz-Theaterinszenierung "MV – Alles fliegt" entstanden. 60 Schülerinnen und Schüler zwischen sechs und 20 Jahren aus drei Schulen im Märkischen Viertel haben gemeinsam auf der Bühne gestanden. In verschiedenen Workshops und Proben haben ein Tänzer und mehrere Theaterpädagoginnen zusammen mit einem Soundkünstler und den Kindern ihr Viertel erforscht und daraus gemeinsam das Tanz-Theaterstück erarbeitet. Dafür haben sie alltägliche Szenen und besondere Eindrücke in Tanz und Theatersprache übersetzt und dies auf der großen Bühne im Fontanehaus im Märkischen Viertel präsentiert.

Wie hat sich die weitere Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Gymnasium ausgestaltet?

Unser Wunsch war es, wirklich alle Schülerinnen und Schüler einer Schule zu erreichen, sodass alle das Theater kennenlernen. Thomas Ostermeier war es wichtig, dass sie sich nicht nur mit den Klassikern, Shakespeare und anderen auseinandersetzen, sondern er wollte wissen, was die Neue Dramatik mit der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler zu tun hat. So entstand die Idee, mit den Schülerrinnen und Schülern Inszenierungen von Stücken Neuer Dramatik an der Schaubühne anzuschauen und dazu Workshops zu machen. Es sollten zwei Stücke mit jeweils einem Workshop im Laufe eines Jahres besucht werden.

Ist es bei der Kooperation gelungen, die Zusammenarbeit mit der Schaubühne in den Schulalltag zu implementieren?

Ja, ich denke schon. Aber es ist auch eine konstante Herausforderung, beide Institutionen zusammenzubringen. Es gilt immer wieder in diesen beiden großen Systemen Theater und Schule, Nischen und Räume für die Anforderungen einer Kulturinstitution zu finden. Eine wichtige Frage bei der Kooperation mit Schulen ist immer: Wie schafft man es, die Kooperationen in den Schulablauf zu implementieren und Verknüpfungen so herzustellen, dass diese für die Lehrerinnen und Lehrer kein Extraaufwand sein muss? So ist die Idee entstanden, die Kooperationen in den Deutschunterricht einzubetten, denn Neue Dramatik ist dort im Lehrplan vorgesehen. Daraufhin haben wir gesagt: Dann sollen verbindlich alle Deutschkurse zu uns in die Schaubühne kommen.

Die Kooperation mit dem Thomas-Mann-Gymnasium hat ja verschiedene Bausteine: Neben den Workshops für Schülerinnen und Schüler und den Inszenierungsbesuchen bieten Sie auch ein bis zweimal im Jahr Lehrerworkshops an.

Unsere Wunschvorstellung von einer Kooperation ist, dass wir als Partner miteinander im Gespräch sind. Ich besuche dafür immer wieder die Schulkonferenzen und stelle die Kooperation und unseren Spielplan vor. Unsere Idee war es, über die Lehrerworkshops, den Lehrerinnen und Lehrern zwei Angebote zu machen: Zum einen erfahren sie selbst, wie es ist, an einem Workshop teilzunehmen. Zum andern bieten wir ihnen eine neue Perspektive an – sie erleben und praktizieren eine künstlerische Auseinandersetzung mit einem Thema. Dabei können sie vielleicht auch Methoden und Perspektiven unserer Arbeit für sich mitnehmen und diese dann in ihren Unterricht einbinden. 

Was erleben die Lehrerinnen und Lehrer, wenn sie zu Ihnen in die Schaubühne kommen?

Bei den Workshops zeigten wir zunächst, wie ein Inszenierungsworkshop abläuft. Dabei wurden alle Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam kreativ, schrieben Texte, verknüpften diese mit Bewegungen und präsentierten sich gegenseitig die Ergebnisse. Außerdem gab es eine Art Ideenaustausch darüber, was sie sich von einer Kooperation mit der Schaubühne wünschen. Wo kann das Theater andocken, wo können wir etwas aufmischen oder aufbrechen, wo können wir in Dialog treten? Es ist auch für Lehrerinnen und Lehrer eine hilfreiche Erfahrung, aus der Schule rauszugehen, sich anders zu begegnen und von außen auf ihre Arbeit zu schauen.

Welche Rolle spielte die Kulturagentin Anja Edelmann in den Prozessen der Kooperation?

Anja Edelmann gab den Anstoß für die Zusammenarbeit. Sie hat die Kooperation maßgeblich auf zwei Ebenen getragen und gestaltet: in der Vertretung gegenüber der Schulleitung und im Kontakt mit der künstlerischen Leitung der Schaubühne, also zu Thomas Ostermeier. Ich würde sagen, das ist Gremienarbeit im kleinen Stil. Sie ist eine Vermittlerin, die sehr gut und sensibel auf die Bedürfnisse der Schule reagieren konnte. Sie hat nicht nur Bedürfnislagen und Erwartungen in Einzelgesprächen abgefragt, sondern ist dafür auch eingestanden. Beispielsweise, in dem sie entschieden gesagt hat: "Die Schaubühne oder die Schule braucht das jetzt!" Oder: "Das und das ist nicht möglich!" Das war sehr wichtig. Außerdem hat sie in den Sitzungen organisatorisch und kreativ mitgedacht, was deswegen besonders hilfreich war, weil sie auf beide Institutionen von außen schaut und gleichzeitig die Kontaktstelle ist.

Und wie sah die Zusammenarbeit mit der Kulturbeauftragten aus?

Sandra Braun war unsere Kulturbeauftragte, die alle Projekte an der Schule koordiniert hat. Sie hat sich sehr um die Verwaltung gekümmert, war stark mit Anja Edelmann in der konkreten Umsetzung im Gespräch und konnte unsere Kooperation in den Kontext der weiteren kulturellen Angebote der Schule setzen. Wir hatten das Glück, dass zwei weitere Lehrerinnen unsere Kooperation mitgestaltet haben, Marlies Deysing und Jaqueline Beier, mit denen wir den meisten Kontakt hatten.

Eins der Hauptziele des Kulturagentenprogramms ist der Aufbau von Netzwerken zwischen den Schulen untereinander und Kulturinstitutionen vor Ort. Wie unterscheidet sich aus Ihrer Sicht das Kulturagentenprogramm von anderen Projekten, die ebenfalls die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Partnern unterstützen?

Im Kulturagentenprogramm ist die Kooperation sehr umfassend angelegt. Dadurch können Kooperationen nochmal ganz anders gedacht werden. Zudem ist die Ausrichtung sehr offen, sodass auch öfter spartenübergreifend gearbeitet wird. Das Thomas-Mann-Gymnasium hat beispielsweise eine sehr enge Kooperation mit dem Bode-Museum. Zusammen mit der Kulturagentin können wir nun darüber nachdenken, wie im Bode-Museum Vermittlungsarbeit stattfindet und welche Formen der Zusammenarbeit wir hier neu denken können. Ich habe mit einer Kollegin der Staatlichen Museen gesprochen und würde diesen Austausch sehr gerne fortsetzen. Für solche Verknüpfungen ist eine Kulturagentin sehr hilfreich. Sie kennt die Institutionen und deren Konzepte und sieht Möglichkeiten für fruchtbare Synergien.

Es gehört ja zunächst nicht zur originären Aufgabe von Schulen, mit einer Kultureinrichtung zu kooperieren. Würden Sie dennoch sagen, dass es immer sinnvoller wird, dass sich Schulen und Kultureinrichtungen aufgrund ihres jeweiligen Bildungsauftrags füreinander öffnen?

Ich würde sagen, die Schulen sind dazu gezwungen, sich mit Kooperation auseinanderzusetzen. Es gehört mittlerweile fast schon zum guten Ton solche Kooperationen im Schulprogramm zu haben. Die Auseinandersetzungen darüber, wie die Schule sich dann jedoch konkret öffnet, finden meist im Kleinen statt. Manche erleben das als Geschenk, für andere ist es herausfordernd, schwierig und oft eine Belastung. Ich glaube aber, dass in Schulen mit der konkreten Umsetzung der Kooperation Lernprozesse in Bezug auf ihre eigene Struktur angestoßen werden können. Es ist nicht einfach und selbstverständlich für Schulen, ihren Kooperationen die Räume zu ermöglichen und einzuräumen, die diese zur sinnvollen Umsetzung benötigen.

Was kann Schule von einem Theater im Allgemeinen und konkret von der Schaubühne lernen?

Ich habe erlebt, dass Begegnungen in Gruppen untereinander in unseren Workshops anders als im Schulalltag ablaufen. Es findet eine gemeinsame Suchbewegung statt. Für Schulen ist es spannend und herausfordernd, von uns zu lernen, wie man – in den vier Stunden des Workshops oder vielleicht auch in anderen Momenten – Strukturen aufbrechen kann. Wie man die Taktung von anderthalb Stunden verlässt und sich vier Stunden lang intensiv auf verschiedene Arten mit einem Thema auseinandersetzt. Wenn dann die Lehrkräfte im Workshop auch noch mitmachen und sich persönlich in Bezug setzen – das ist für viele ein ganz wichtiger Moment. Die Lehrerinnen und Lehrer geben uns oft die Rückmeldung: So haben wir unsere Schülerinnen und Schüler noch nie erlebt! Und umgekehrt genauso. Im Theater haben wir das Glück, einen Freiraum schaffen zu können, um einander anders zu erleben.

Und wie profitiert eine Kultureinrichtung von der Zusammenarbeit mit Schulen?

Für mich steht an erster Stelle, in Kontakt mit vielen Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern zu sein, eine ehrliche Rückmeldung von ihnen zu bekommen und zu erfahren, was sie von den Stücken halten. Schule ist der Ort, an dem man Menschen über alle Schichten und Milieus hinweg erreicht. Deswegen brauchen wir Schulen, an denen wir dran sein können, bei denen wir mitkriegen, was dort gerade akut und aktuell ist. Hier können wir lernen und etwas mitnehmen. Zudem ist es auch mal ganz schön eine Gegenrealität zu erleben, denn auch das Theater ist ein System, in dem man in seinen eigenen Kreisen gefangen sein kann. Wenn dann ein Schüler urteilt: "Also, ich fand das total irrelevant für mich, ich konnte damit überhaupt nichts anfangen!", dann bekommt man schon eine sehr ehrliche Rückmeldung.

Kann denn die Zusammenarbeit mit Schulen einen Einfluss auf die Institution, auf die Herangehensweise an Stücke oder auch an die Öffnung eines Hauses haben?

Das ist natürlich eine paradiesische Vorstellung von Vermittlungsarbeit. Natürlich geben wir das, was die Schülerinnen und Schüler in den Workshops erleben, auch an die Regie, an die Dramaturgie oder auch an die Schauspielerinnen und Schauspieler weiter. Aber de facto sind die Auswirkungen begrenzt. Im Frühjahr haben wir daher ein Experiment mit "Stück Plastik" von Marius von Mayenburg gewagt, das im April 2015 Premiere hatte. Im März fand ein Wandertag von 260 Schülerinnen und Schülern des gesamten 11. und 12. Jahrgangs des Thomas-Mann-Gymnasiums in der Schaubühne statt. An dem Tag traten Beteiligte der Produktion, des Bühnenbilds und der Musik und andere Expertinnen und Experten aus dem Theater in Austausch mit den Jugendlichen und entwickelten gemeinsam Ideen und eigene Auslegungen des Textes und der Thematik von "Stück Plastik".

Abschließend: Was muss ein Theater tun, damit es auch zukünftig ein Ort ist, der für viele Menschen eine Bedeutung hat?

Es muss Beziehungsarbeit leisten und sich fragen: Wie können wir unsere Tür ganz weit öffnen? Und: Wie können wir eine Beziehung zum Publikum herstellen? Wenn Menschen sich in Beziehung mit den Inhalten und Formen des Theaters setzen können, dann ist das ein Andockpunkt. Aber nicht alle Formen und Inhalte sind für alle gleichermaßen zugänglich, deswegen geht es darum, Offenheit herzustellen. Und diesen Gedanken versuche ich, in meiner Arbeit immer wieder voranzutreiben.

Vielen Dank für das Gespräch!