Katrin Sengewald
„Ernst nehmen heißt: zuhören, lenken und ordnen.“ - Das Theater Erfurt
Katrin Sengewald

„Ernst nehmen heißt: zuhören, lenken und ordnen.“ - Das Theater Erfurt

Seit August 2002 ist Guy Montavon Generalintendant des Theaters Erfurt und künstlerischer Leiter der DomStufen-Festspiele. Als Generalintendant initiierte er einen Uraufführungszyklus und führte 2005 selbst Regie bei der Weltpremiere von Philip Glass" Oper "Waiting for the Barbarians". Seit 15 Jahren ist Montavon Mitglied des Direktoriums der Jeunesses Musicales Deutschland und lehrt regelmäßig an den Universitäten Tokio und Montreal. Im Juni 2014 inszenierte das Orchester des Theaters Erfurt gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern der Friedrich-Schiller-Schule Erfurt Igor Strawinskys "Feuervogel". Begleitet wurde die Inszenierung von Workshops in den Bereichen Tanz, Beatboxing, Bildende Kunst, Mediengestaltung und Moderation. Die Kulturagentin der Schule, Katrin Sengewald, traf sich im Februar 2015 mit Guy Montavon, um mit ihm über das Projekt "Der Feuervogel" und den Stellenwert der kulturellen Bildung am Theater Erfurt zu sprechen.

Katrin Sengewald: Gibt es etwas, das Ihnen sofort einfällt, wenn Sie an das "Feuervogel"-Projekt zurückdenken?

Guy Montavo: Dass so viele Jugendliche und Leute mitgemacht haben – die Anzahl, die hat mir wirklich imponiert; die verschiedenen Altersgruppen und dass mit wenigen Mitteln viel ausgedrückt wurde.

Was hat das Jugendkonzert "Der Feuervogel" für Sie als Intendant bedeutet?

Der Link zwischen geförderten Institutionen und dem Nachwuchs, der Jugend, ist lebensnotwendig. Wir können nicht alles alleine stemmen. Wir sind auf positive Kräfte und Leute angewiesen, die mitdenken, auf Partner. Dies trägt dazu bei, das Phänomen Theater populärer, zugänglicher und begreifbarer zu machen. Der semantische Gehalt einer solchen Veranstaltung steht an oberster Stelle. Es kann dabei ein Phänomen des Respekts, der Zurückhaltung und des Gemeinschaftsgefühls entstehen. Und das Ganze ist mit einer Kostümierung kombiniert. Gerade habe ich eine Sendung über Kinder und Jugendliche gehört, die sich zu Fasching verkleiden. Ich fand es hochinteressant zu erfahren, warum sie eine Verkleidung als Prinzessin, Soldat, Ritter oder Cowboy wählen. Das sind Persönlichkeitsecken, die das ganze Jahr hindurch nicht zum Ausdruck kommen, bei Kindern und auch bei Erwachsenen nicht. Sich zu kostümieren und eine Rolle darzustellen, ist Teil einer Erziehung. Sie hört nie auf. Es gibt Leute, die sich gerne kostümieren. Es gibt andere, die sich ungern kostümieren. Es entsteht Respekt für das Theater. Und plötzlich können die Bretter die Wirkung und die Magie entfalten, die sie in sich haben. Ob sie die Welt bedeuten, das weiß ich nicht. Aber auf jeden Fall sichern sie eine gewisse gesellschaftliche Ordnung. Das ist bemerkenswert.

Wen wollen Sie mit den unterschiedlichen Programmformaten erreichen?

Alle möglichen Zielgruppen. Diese Frage wird schon seit 30 Jahren gestellt. Wir müssen aber nicht immer ein neues Publikum erschließen. Das ist falsch. Wir haben eine Gesellschaft, die strukturiert ist: in Jugendliche, in aktive Berufliche, in Rentner, in Säuglinge. Und ich glaube, wir bedienen sie ungefähr alle. Wir machen ein Krabbelkonzert für Säuglinge und Kleinkinder. Wir machen ein Weihnachtsmärchen. Dann gehen wir rüber in die Schauspiel- und Studiobühne für die Abiturienten, dann für den 35-jährigen Ingenieur, Vater von zwei Kindern. Dann gehen wir zum Rentner mit dem Tanzcafé-Sinfoniekonzert. Ich glaube nur für die Toten bieten wir nichts (lacht). Unser Publikum ist die Stadt, in der wir leben. Unsere Aufgabe besteht darin, so viele Menschen wie möglich anzusprechen.

Was verbinden Sie mit dem Begriff "kulturelle Bildung"?

Verantwortung, ganz gezielt die Verantwortung. Man sagt auf Französisch "passation", wenn Sie etwas an jemanden übergeben. Das heißt, Sie besitzen etwas und geben es weiter.

Welchen Bildungsauftrag hat Ihr Haus?

Das ist ein großer Bildungsauftrag: unser kulturelles Erbe weiterzuvermitteln. Das ist die Vermittlung von ästhetischen Prozessen, von geistigem Eigentum. Das ist Teil der Erziehung, damit eine gewisse geistige Weltordnung herrscht und keine Hirnlosigkeit. Beispielsweise knallen Flugzeuge vom Himmel – damit genau das nicht passiert, gehören kulturelle Bildung, Theater, Kultur als große Sicherheitsfaktoren dazu, auch für den inneren Frieden. Das steht für mich ganz, ganz oben. Gerade in den Städten, in den Satellitenstädten, wo das öffentliche Leben immer geringer wird und sich in die Häuser, in die Jugendhäuser verlagert. Es gibt keinen öffentlichen Raum mehr, in dem alles stattfindet, und manchmal sind die Jugendlichen ein bisschen verloren oder verlassen. Da müssen wir über die ästhetische Vermittlung hinaus eingreifen und sagen: Es gibt noch andere Ziele und Zielvermittlungen.

Die Jugendlichen, die hier waren, werden mit großer Sicherheit eine Beziehung zu diesem Haus entwickelt haben.

Ganz bestimmt, oder zu anderen Theatern. Über die Inhalte hinaus vermittelt das Haus auch eine Struktur, die mit Disziplin, mit einem Verhaltenskodex und mit Aufführungsdruck verbunden ist, für den Tag, an dem die Premiere stattfindet. Ein Druck, mit dem wir hier alle leben, der auch unser Motor ist. Die Aufführung findet nicht irgendwann statt. Sie findet beispielsweise am 7. März statt. Dahin muss die Energie kanalisiert werden, auf diesen Tag. Damit sind eine gewisse Spannung und Stress verbunden. Dazu kommt noch das Publikum, vor dem man sich darstellen muss. Dies ist ein Prozess, der keine geruhsame Sache, sondern ziemlich anstrengend ist. Aber das gehört auch dazu. Diesen Wettbewerbsgeist muss man in der heutigen Gesellschaft wahrscheinlich vermitteln.

Können Sie sich erneut ein Projekt beziehungsweise eine Inszenierung in Kooperation mit einer Schule vorstellen? Welche Rahmenbedingungen wünschen Sie sich dafür?

Ja, sofort wieder! Ein Kooperationsprozess muss aber betreut werden. Das ist die Bedingung Nummer eins, dass er nicht grenzenlos ausufert, sondern begleitet und koordiniert wird. Das muss in einer gewissen Zeit stattfinden, und diese Zeit muss definiert werden. Auch die pragmatischen Dinge sind wichtig, beispielsweise wie lange die Räume des Theaters gebraucht werden und so weiter.

Welche Chancen sehen Sie in der Arbeit mit jungen Menschen – auch und besonders in künstlerischer Hinsicht?

Naja, es ist immer erfrischend, mit Jugendlichen zu arbeiten. Sie haben eine ganz frische Sicht auf die Dinge und sind prinzipiell frecher und freier als Erwachsene. Für die Umsetzung auf der Bühne sind Profis da – Profisänger, Profischauspieler, Profiregisseure. Die Jugendlichen können da ein sehr effektives Korrektiv sein, indem sie ein Element einbringen: Unverfrorenheit, auch Unwissenheit, die sich auch sehr positiv auswirken kann, wenn man beispielsweise erkennt: Oh, daran habe ich nicht gedacht.

Trotz aller Absprachen lassen sich in kulturellen Bildungsprozessen Ergebnisse nicht immer vorhersagen. In den Workshops wird prozessorientiert gearbeitet. Es gibt viel Unvorhergesehenes. Das Theater arbeitet sehr strukturiert mit langen Vorlaufzeiten. Wie gehen Sie damit um?

Genau so, wie Sie es beschreiben. In dem Moment, in dem wir solche Projekte wie "Der Feuervogel" machen, sind wir an einem gewissen Punkt auch ein bisschen Dienstleister. Das heißt, wir müssen generell den roten Teppich ausrollen. Das ist unsere Aufgabe. Dafür ist die Struktur perfekt organisiert. Diese Struktur ist von Steuergeldern bezahlt. Aber es ist auch gut, wenn wir davon etwas zurückgeben können. Und wir tun es gern, weil wir dazu auch eine Verpflichtung haben.

In welcher Rolle sehen Sie Kinder und Jugendliche bei der Erarbeitung und Durchführung einer Inszenierung?

Wenn man schon mit Kindern in einer solchen Dimension arbeitet und ihnen eine Plattform anbietet, dann muss man ihnen gefälligst auch zuhören. Sie sind natürlich ein Teil der künstlerischen Inspiration, das heißt, sie geben das Thema vor und wir richten uns nach der Inspiration. So macht ein Projekt Spaß, wenn man merkt, wie viel Kreativität in einem steckt. Das ist auch ein kleiner Test für die Erwachsenen, um zu sehen, wie viel denn bei ihnen ankommt. Wir geben ein Thema vor, diesmal "Der Feuervogel", ein Märchen. Dann merken wir, wie unser Nachwuchs auf das, was ein paar hundert Jahre früher geschrieben wurde, reagiert und ob es aktuell geblieben ist. Das ist eine ganz gute Momentaufnahme der heranwachsenden Gesellschaft von morgen. Ich glaube, wir müssen sie sehr ernst nehmen. Eine Zusammenarbeit mit Jugendlichen kippt um, wenn man sie nicht ernst nimmt. Und ernst nehmen heißt: zuhören, lenken, ordnen, ihnen eine Struktur und professionelle Mitarbeiter geben.

Welche Visionen verfolgen Sie mit Ihrer Arbeit?

Ich habe die Vision einer besseren und friedlichen Gesellschaft. Das Miteinander zu fördern, die dunklen Seiten des Menschen zu erhellen. Mehr nicht, eine andere Vision kann ich nicht haben … Ich sagte ja: Weltfrieden!