Mirtan Teichmüller
Künstler zu Besuch – ein Format aus Konstanz
Mirtan Teichmüller

Künstler zu Besuch – ein Format aus Konstanz

Kurzbeschreibung

„Künstler zu Besuch“ – das waren 50 künstlerische Kurzprojekte an der Geschwister-Scholl-Schule Konstanz in den Jahren 2012 bis 2014 mit rund 1.200 Schülerinnen und Schülern. Das Prinzip: Eine Lehrerin/ein Lehrer räumt in seinem/ihrem Fachunterricht zehn Unterrichtseinheiten ein, in denen er/sie einer Künstlerin/einem Künstler die Leitung und Gestaltung überlässt. So wurden beispielsweise Tänzerinnen und Tänzer im Sport- und Musikunterricht aktiv, Poetryslamerinnen und -slamer im Deutschunterricht, Textildesignerinnen und -designer in der Hauswirtschaft oder Theaterpädagoginnen und -pädagogen im Religions- und Englischunterricht. Kleine Ausstellungen für die Schule oder Präsentationen für Nachbarklassen beendeten einige der Projekte.

Bundesland

Baden-Württemberg

Ort

Konstanz

Beteiligte Klassenstufen

5 bis 10

Thema

Begegnung mit Kunst und Kultur in den Unterricht integrieren

Format

im Unterricht, Projektwoche, AG

Beteiligte Schülerinnen und Schüler

1.200 aus 50 Klassen

Projektdauer

pro Teilprojekt jeweils zehn Unterrichtseinheiten, verteilt auf 1 bis 5 Wochen

Kulturagent

Mirtan Teichmüller

Die Schule

Die Geschwister-Scholl-Schule in Konstanz wurde in den 1970er Jahren als Erprobungsfeld gegründet, um verschiedene Schulformen unter einem Dach zu vereinen. Mit der zweijährigen Orientierungsstufe, ihren drei schulartspezifischen Abteilungen, den internationalen Vorbereitungsklassen und den zahlreichen kulturellen und sportlichen Angeboten stellt sie für ihre fast 1.600 Schülerinnen und Schüler sowie 150 Lehrerinnen und Lehrer einen Ort der Vielfalt mit zahlreichen AG-Angeboten in Sport, Wissenschaft und Kultur dar.

Die Entstehung der Projektidee

Als das Kulturagentenprogramm im Jahr 2011 begann, fragte sich das Team der drei Kulturbeauftragten, wie in einer so großen Schule mit vielen eigenen kulturellen Angeboten vorzugehen sei. Es entschied sich auf Vorschlag des Kulturagenten Mirtan Teichmüller für eine einfache Struktur von in den Unterricht integrierten Workshops. Dies, um möglichst viele Schülerinnen und Schüler mit Kunst und Kultur zu erreichen und den Lehrerinnen und Lehrern im Sinne einer demokratischen Schulentwicklung ein offenes Angebot zu machen, das sie nach eigenem Bedürfnis nutzen könnten. Diese Struktur sollte eine schlanke Administration auszeichnen und niedrigschwellige künstlerische Formate für eine breite Teilnahme offerieren. Dadurch sollte eine leichte Integration in den Pflichtunterricht ermöglicht und zusätzlicher Druck auf Stoffvermittlung und Notenerhebung vermieden werden. Hauptziel war also die Begegnung mit künstlerischer Gestaltung und das Erleben mehrerer Kunstschaffender.

Statt 500 Unterrichtseinheiten Kunst und Kultur zu beschreiben, will ich im Folgenden kurz die Hoffnungen schildern, die mit diesem Ansatz verbunden waren. Es stellt sich seitens des Lehrerkollegiums anfänglich immer die Frage nach dem Sinn eines kulturellen Engagements: "Warum soll man Künstler in den Unterricht einladen?"

Wenn Künstlerinnen und Künstler zu Besuch in die Schule kommen,

  • sind das besondere Schultage, denn sie bringen die Künste in ihren Gedanken, Handfertigkeiten und unerwarteten Entwürfen mit.
  • werden Visionen ausgepackt, an denen man sich aufrichten kann. Niemand erzählt, malt, sprayt, tanzt, slamt, schnitzt, performt, designt und singt schöner von der Sehnsucht nach dem Leben.
  • wird im Schritttempo der Kosmos geweitet. Sie scheinen manchmal in ihrer bisweilen analogen Vorgehensweise wie Relikte einer anderen Zeit zu sein, doch sind sie ihrer Gesellschaft oft weit voraus.
  • gibt es für die Rätsel der Welt unzählige Lösungsvorschläge und damit Ergebnisoffenheit.
  • befremden sie auch bisweilen. Sie können launische Querdenker oder scheue Zeitgenossen sein: Künstlerinnen und Künstler sind eben auch nur Menschen.
  • wird es manchmal verrückt, denn der Landartist will im Herbst abgefallene Blätter und Äste wieder an den Baum anbinden. Im Englischunterricht schiebt die aufgeweckte Theaterfrau Möbel zur Seite, damit Platz für Krimiszenen entsteht, und lässt diese zuvor auf dem Flur proben. Man erobert neue Räume.
  • kann es angesichts der Ergebnisse helle Begeisterung oder tiefes Unverständnis geben. Es stellt sich die ewige Frage: Was ist Kunst? Dabei kann jeder seine Deutungshoheit behaupten: Das ist gelebte Demokratie!

Performance-Workshop mit dem Künstler Davor Ljubicic
Foto: Katharina Moch

50-fache Freude

Die Workshops wurden in drei Intervallen absolviert – mit pro Schulhalbjahr rund 17 Workshops. Die anfängliche Unsicherheit, ob jemand aus dem Kollegium eine Künstlerin/einen Künstler einladen würde, wich bald der Frage, wie man alle Anfragen bedienen könne. Auch der Kreis möglicher Künstlerinnen und Künstler wuchs mit jedem Intervall, und deren Angebote passten organisatorisch immer besser in das Mikroformat und seine Bedingungen. Eingeladen wurden professionell tätige Kunstschaffende sowie Kulturpädagoginnen und -pädagogen.

Dabei entstanden zum Beispiel dynamische Tanzchoreografien mit den Tänzern von "Afrokonstanz" und "Dance4you", aber auch beglückende szenische Improvisationen mit dem "Spielmacher" Felix Strasser und einmalige Krimiszenen in englischer Sprache, angeleitet von der Schauspielerin Anna Hertz. Wunderschöne Kleinodien aus Stoff, frei nach Schnittmustern von Harriett Bunten von den "Kunterbunten" wurden genäht und herrliche Scherenschnitte angefertigt, angeleitet von Angela Holzer. Auch ein kleiner Film über Konstanz konnte produziert werden, weil der Dokumentarfilmer Martin Biebel den Schnitt ehrenamtlich übernahm.

Dass Kunst auch befremden kann, erfuhren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Performance-Workshops mit dem Maler Davor Ljubicic. Ihr großes, in der Aula ausliegendes Werk sorgte für lebhafte Diskussionen. Die mit Antonio Zecca im Wald neben der Schule gestalteten Landartskulpturen erforderten ebenfalls das Verlassen bekannter Blickrichtungen.

Sehr erfreulich war, dass von "Künstler zu Besuch" Werkrealschule, Realschule und Gymnasium gleichermaßen profitierten und man begann, über eine curriculare Einbindung nachzudenken. Die Lehrkräfte beschrieben das Format in danach erfolgten Befragungen als "sehr spannend, bereichernd, genial, anregend, inspirierend, wertvoll, gewinnbringend, eine tolle Chance, wohltuend, erquickend, eine tolle Abwechslung und verjüngend (!)".

Workshop mit der Textildesignerin Harriet Bunten
Foto: Karin Holdermann

Kulturelle Bildung in der Schule

Die Teilnahme der Klassen und ihrer Lehrkräfte war freiwillig. Es wurden Merkmale außerschulischer Kulturpädagogik beachtet, wie Partizipation und Ergebnisoffenheit oder Verzicht auf Benotung und Leistungserhebung.

Die Projekte konnten ganz eigene Themen transportieren, wie die Gestaltung einer Schulwand mit Sprayfarben; sie haben aber auch Unterrichtsthemen aufgegriffen wie das Verfassen von Poetry-Slam-Texten im Rahmen einer Projektwoche zum Thema Stadtgedichte. Es ging dabei immer um sinnliche, haptische Ereignisse, um Schlüsselerlebnisse, ohne die sich keine Schlüsselkompetenz entwickelt.

"Der Sprühling kommt!" Schulwandgestaltung mit dem Grafiker Bert Binnig im Rahmen von "Künstler zu Besuch"
Foto: Bert Binnig

"Tandem auf Zeit" – die Kooperation zwischen Lehrkräften und Kunstschaffenden

Die einladenden Lehrkräfte arbeiteten mit ihrem Künstlergast in einem temporären Team. Dabei gab es keine Vorgaben für die Arbeitsaufteilung, diese entwickelte sich jeweils aus einem knappen Dialog zwischen beiden, der vom Kulturagenten eingeleitet, manchmal begleitet und meist in persönlichen Gesprächen nachbereitet wurde. Für Projekte dieses Umfangs waren Vorbereitungsteams nicht möglich, man einigte sich oft am Telefon auf bestimmte Eckdaten und Ziele. Manche Lehrerinnen und Lehrer gaben den Kunstschaffenden freie Hand in Themenwahl und Durchführung beziehungsweise unterstützten sie dabei. Andere formulierten aus pädagogischer Sicht den Wunsch nach zusätzlichen Effekten: Sie wünschten sich fördernde Aspekte, sei es die Steigerung der Ausdrucksfähigkeit in Englisch oder der allgemeinen Mitteilungsbereitschaft. Manche Kolleginnen und Kollegen suchten gezielt nach Möglichkeiten, die Bedürfnisse der Kinder nach Bewegung und Spiel zu befriedigen. Ein Projekt sollte zur Verbesserung der Klassengemeinschaft beitragen; man erhoffte sich Impulse durch die befreiende Wirkung von Kunst, was auch eintrat.

Die Tandems kooperierten fast immer reibungslos. Meistens entstanden sehr rasch funktionierende Teams und herzliche Beziehungen, auch zu den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern, die sich mehrheitlich mit all ihrer Kreativität und Freude einbrachten. Gewisse Umstände erschwerten die Zusammenarbeit, etwa wenn eine Künstlerin/ein Künstler kein tragfähiges Vermittlungskonzept hatte oder wenn sie/er zu eigenwillig vorging und dies zu Reibungen mit der Schülerschaft führte oder wenn das Verhältnis zwischen Klasse und Lehrkraft gestört war. Irritation stellte sich ein, wenn eher direktiv agierende Lehrkräfte nondirektiv arbeitende Kunstschaffende einluden und durch den Freiraum, den diese anboten, verunsichert wurden. Im Laufe der drei Halbjahre sah man schon im Vorfeld mögliche Konfliktlinien und kannte den Kreis der geeigneten Künstlerinnen und Künstler für dieses Mikroformat besser.

Absprachen der Tandempartner sind natürlich sinnvoll, aber auch die besten Vereinbarungen im Vorfeld können Missverständnisse in der gemeinsamen Gestaltung nicht ganz verhindern. Lehrkräfte kennen ihre Schülerinnen und Schüler in der Regel gut, wissen oft um deren biografische Hintergründe und würden manches nicht einfordern, was Künstlerinnen und Künstler wie selbstverständlich anregen. Oft sind sie überrascht, im Rahmen eines Workshops ungeahnte Talente bei den Schülerinnen und Schülern zu entdecken. Andererseits verstehen sie "ihre" Schülerschaft oft besser in ihren Reaktionen als ein nur für wenige Stunden anwesender Gast und können gut vermitteln. So konnten sich Lehrkraft und Kunstschaffende1 meistens gut ergänzen und unterstützen. Ihnen allen gilt großer Dank für die Impulse, die sie in die Schule getragen haben. Gleichermaßen gilt der Dank den Kolleginnen und Kollegen2 der Geschwister-Scholl-Schule, die Künstlerinnen und Künstler zu sich einluden und das Format mutig erprobten. Das Programm "Kulturagenten für kreative Schulen" übernahm die Finanzierung im Rahmen zweier Projektanträge mit den Titeln "Künstler zu Besuch" und "Künstler zu Besuch – erprobte Verstetigung".

Dokufilmprojekt "Bienvenus chez nous!" mit dem Dokumentarfilmer Martin Biebel
Foto: Martin Biebel

Und was haben die Schüler dazu gesagt?

Diese Tipps beziehungsweise Kommentare zur Verbesserung gaben die Schülerinnen und Schüler:

  • Ich fand alles toll, alles gut und weiter so
  • Es muss nichts verbessert werden, eigentlich nichts außer, dass es länger geht
  • Jeder darf malen, was er will, genau so solltet ihr es wieder machen
  • Es war ein bisschen langweilig und sollte nächstes Mal etwas interessanter sein
  • Es war sehr schön, aber es ging so schnell vorüber
  • Mehr Kunst und Skulpturen oder Bilder machen
  • Weniger Theorie
  • Einen Künstler, den wir auch verstehen können
  • Die Schüler aussuchen lassen, was sie machen wollen
  • Es sollen mehr Künstler zu Besuch kommen
  • Ich fand es blöd, dass wir selbst einen Poetry-Slam schreiben sollten
  • Die Künstler sollten hilfreich und lustig zugleich sein
  • Ich will das öfters machen

 

Die Schülerinnen und Schüler wurden außerdem gebeten, ihr Gefühl zum Projekt in einem Wort auszudrücken, indem sie den folgenden Satz ergänzen:

"Künstler zu Besuch" ist …

lohnenswert; gut, weil jeder offener wird und sich zum Affen macht; nicht schlecht; Schrott; besser als Schule; nett, immer Spaß; eine gute Idee; chillig; unnötig; super gut; anstrengend und peinlich; toll und spannend; sehr witzig; eine gute Idee; eine lehrreiche und interessante Erfahrung; leider geil; spannend; gut, wenn man was Cooles machen würde, denn Trommeln ist nicht so sexy; okay; ein tolles Projekt gewesen; abgefahren; spaßig; echt cool; ideenreich; spannend; sehr schön; so lala; phänomenal; lustig; neutral; abwechslungsreich; mal was anderes; eine tolle Aktion; perfekt; ein tolles und wiederholenswertes Erlebnis; klasse; Daumen hoch; abwechslungsreich; naja; künstlerisch; wundervoll; meistens hilfreich; lolligtrollig; sehr abwechslungsreich; meistens gut; wie keine Schule; voll lustig; prima; super perfekt!

Die Lehrkräfte wurden mehrfach befragt, um mögliche Veränderungen zu erkennen. Erfreulicherweise ergaben sich Steigerungen in allen abgefragten Belangen: So wurden ihre Erwartungen und Wünsche an das Projekt zu 85 Prozent erfüllt. Mit den Künstlerinnen und Künstlern kamen 87 Prozent persönlich gut klar, und deren künstlerische Vorgehensweise im Workshop war für ebenso viele inspirierend. Außerdem betonten sie, dass die Möglichkeit, Kunstschaffende unkompliziert einladen zu können, unbedingt beibehalten werden solle. Sie brächten neue Impulse von außen, was für die Gemeinschaft der Schule und der Klassen wunderbar sei und den Schülerinnen und Schülern eine Welt eröffne, die sie sonst nicht kennenlernen würden. 100 Prozent aller teilnehmenden Lehrkräfte würden gerne wieder "Künstler zu Besuch" einladen!

Eine Dokumentation des Projekts als PDF-Download finden Sie hier.

 

1Diese Kunstschaffenden waren der Grafiker Bert Binnig von "homebase", die Schauspielerin, Theaterpädagogin und Kampfkunsttrainerin Anna Hertz, der Poetry-Slammer und Slamm-Master Marvin Suckut, der Capoeira- und Stocktänzer Vinicius Goncalves Fagundes, die Tanzpädagogin und Leiterin von "dance4you" Ingrid Blomeier-Wittig, der Graffitikünstler und Grafiker Emin Hasirci, auch als Rusl1 bekannt, die Textildesignerin Harriet Bunten von "Die Kunterbunten", die Dschembespieler und Tänzer Isma Kouaté und Nago Séne, die Tanzpädagogin Olivia Maciejowski von "urban skillz", der Schauspieler und Regisseur Stoyanov Oyler, der Jazzmusiker und Arrangeur Paul Amrod, die Malerin und Kunsttherapeutin Susanne Rodler, der Landartkünstler und Maler Antonio Zecca, die Meisterin des Scherenschnitts Angela Holzer, der Comic-Virtuose Werner Merk, der Siebdrucker und Longboardgestalter Tilmann Waldvogel, der Theaterpädagoge und Regisseur Felix Strasser, der Schauspieler und Sprecher Bernd Wengert, der Maler und Performer Davor Ljubicic, der Tänzer und Choreograf Konstantin Tsakalidis, der Schauspieler und Trainer Michael J. Müller, der Kpanlogo-Trommler Francoise Lartey-Qel, der Schauspieler Johannes Merz, die Theater- und Zirkuspädagoginnen Nina Löbe und Carina Baumann vom "Zirkus Risolino", der Fotograf Stefan Arendt von der Fotoakademie, der Dokumentationsfilmer und Medienexperte Martin Biebel und der Leiter der Jazz- und Rockschule Kai Kopp und sein Dozent für Beatboxing Kenny Joyner.

2 Maßgeblich mitorganisiert wurde das Projektcluster von den Kulturbeauftragten der Schule Lena Knapp, Katharina Moch, Ulli Wendland und Markus Kroetzsch sowie vom Kulturagenten Mirtan Teichmüller.