Thanassis Kalaitzis
Widerstand als Ressource
Thanassis Kalaitzis

Widerstand als Ressource

Über den Umgang mit Widerstand in partizipativen Projekten

Eine erste Begegnung mit Widerstand

Es geht um eine 7. Klasse einer Berliner Sekundarschule (ISS). Es geht um Theater. Es geht um Kunst im Museum. Beides soll miteinander verbunden werden. Form und Inhalt werden mit Künstlerinnen durchdacht, mit einer Lehrerin besprochen, mit der Schulleitung beschlossen und mit einer Antragsbewilligung besiegelt. So weit, so gut, die kulturelle Bildung kann beginnen. Doch gleich am ersten Tag beginnt etwas anderes: Verweigerung, Störungen, Ablehnung, Konflikt, Protest, Rebellion.

Als Kulturagent sehe ich Unsicherheit, Unzufriedenheit und auch Frustration bei allen Beteiligten: Die Lehrerin greift mit ihrer institutionellen Autorität in die Prozesse ein, die Künstlerin greift mit ihrer künstlerischen Kompetenz in die Prozesse ein, und ich greife mit meiner administrativen Erfahrung in die Prozesse ein. Ich sehe energiegeladene Interaktionen zwischen jungen Menschen und Erwachsenen, Verzweiflung, Hilflosigkeit und auf allen Seiten Versuche, das Projekt zu "retten".

Bereits am ersten Projekttag ist "Widerstand" Thema – vor allem der Widerstand bei den Teilnehmenden, für die das Projekt doch spezifisch und dazu partizipativ geplant war. Was war die Motivation, sich dem Projekt wiederholt zu entziehen? Was hat die Schülerinnen und Schüler bewogen, Themen, Arbeitsformen und Ziele des Projekts abzulehnen?

Ich möchte am Beispiel dieses Projekts die Bedeutung von Widerstand ergründen. Es geht mir auch darum, zu erklären, inwiefern es hilfreich sein kann, Widerstand aus einer Perspektive zu betrachten, von der aus sein Nutzen sichtbar wird, und wie man diesen Nutzen für weitere Projekte und deren Beteiligte produktiv machen kann.

Ein Kunstprojekt mit Hindernissen

Rahmenbedingungen/Vorbereitung

Das Projekt entstand auf Initiative der Klassenlehrerin einer 7. Klasse. "Theater und mehr Kunst wären gut für die Schülerinnen und Schüler", so formulierte sie meinen Auftrag. Ich arrangierte den Kontakt zur Gemäldegalerie Berlin und lud eine Theaterpädagogin und eine Regisseurin ein, um mit der Lehrerin und mir ein Konzept zu entwickeln, das beide Kunstfelder miteinander verbinden sollte. Konzipiert wurde ein Projekt, in dem es um die Kontaktaufnahme zu Kunst ging (zu italienischer Kunst1, also Besuche im Museum mit hohem Anteil an italienischer Malerei aus vier Jahrhunderten). Es ging auch um die Entwicklung einer Performance im Museum, die Bezug auf die Werke nimmt und sich mit dem Wert von Kunst auseinandersetzt. Ein weiteres Ziel war es, die Klassengemeinschaft zu entwickeln, gemeinschaftliches Handeln und Arbeiten zu etablieren und die Klasse in der Schule sichtbar zu machen. Die Künstlerin besuchte die Klasse ein halbes Schuljahr lang wöchentlich für 90-minütige Workshops. Diese sollten die Schülerinnen und Schüler auf eine Projektwoche im Museum vorbereiten.

Staffel 1 – Theater in der Gemäldegalerie

Bereits in den ersten Unterrichtsworkshops mit der Klasse wurde klar, dass die zwölf Schülerinnen und Schüler der 7. Klasse unzufrieden waren. Es zeigten sich Langeweile, Passivität, Ablehnung. Erster Tiefpunkt war der zweite Besuch des Museums, bei dem die Gruppe mir als Begleiter Pädophilie und Kinderpornoabsichten unterstellte. Die Klasse war in Aufregung geraten, weil ich sie im Museum zur Dokumentation dieses Projekts mit dem Handy fotografierte. Vermutlich sahen sich die Schülerinnen und Schüler in dieser außerschulischen Veranstaltung (einer Führung durch einen Vermittler im Museum) in schulische Vermittlungslogik und -disziplin zurückversetzt. Um den beteiligten und begleitenden Erwachsenen ein klares Signal des Widerstands gegen Inhalt und Durchführung zu geben, wurde das im schulischen Umfeld derzeit sensibelste Thema eingesetzt: sexueller Missbrauch und Missbrauch mittels digitaler Medien (Cybermobbing). Einem Erwachsenen diesen Vorwurf zu machen, bedeutete, mit hoher Sicherheit eine Unterbrechung der Veranstaltung zu erwirken. Wir holten die Schülerinnen und Schüler zu einer Sitzung in der Garderobe zusammen, ich stellte mich ihren Fragen und zeigte ihnen alle Fotos unter der Maßgabe, diejenigen Bilder zu löschen, die nicht verwendet werden sollten. Retrospektiv könnte dieser Vorfall als Präzedenzfall für Widerstandsstrategien der Schülerinnen und Schüler bezeichnet werden. Sie produzierten Situationen, die in der Schule zuallererst den Unterricht unterbrechen.

Diese Unterbrechungs- und Widerstandsmuster wiederholten sich als offen gezeigter Unwille während der nur wenig später durchgeführten Projektwoche. Schülerinnen und Schüler führten Kleinkriege gegeneinander. Redebeiträge wurden überbrüllt und die Theaterarbeit bei jeder Probe, Übung und Präsentation gestört. Schülerinnen und Schüler warfen sich zu Boden, lachten sich gegenseitig aus, weigerten sich, die Arbeitsvorschläge der Regisseurin auszuführen. Das Lernen und Proben bereits entwickelter Szenen gelang nur in kurzen Abschnitten. Die Störungen hielten an, unabhängig davon, ob die Klassenlehrerin präsent war oder nicht, ob fotografiert wurde oder nicht, ob Arbeits- und Pausenzeiten vereinbart waren oder nicht. Alle fühlten sich gleichermaßen behindert, gestört, gereizt und frustriert.

Trotzdem entstand während dieser Woche eine zehnminütige Performance: sprechende, lebende Bilder und ein Interview mit geladenen Experten im Museum. Die Aufführung fand mit ausgewählten Gästen der Darstellenden im Proberaum der Schule statt.

Erklärungsversuche

Die Schülerinnen und Schüler weigerten sich, in ein Projekt einbezogen zu werden, dessen Entstehungszusammenhänge sie nicht mitbestimmt hatten. Sie attackierten damit die alltägliche Entscheidungsmacht der Institution Schule. "Uns hat keiner gefragt! Wir wollten zum Fußballturnier gehen", sagte der am Projekt und seinen Inhalten sonst sehr interessierte informelle Wortführer der Klasse. Die Vorstellung von Partizipation der Organisierenden2 deckte sich nicht mit den Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler. So kollidierte die strukturelle Beteiligungsverpflichtung mit einer in kulturellen Bildungsprojekten eher implizit verstandenen Partizipation. Wir hatten die Zwangssituation, als die Unterricht von Schülerinnen und Schülern häufig wahrgenommen wird, aktualisiert und die entsprechenden Reaktionen erhalten.

"An die italienische Klasse denkt niemand. Wir werden in der Schule nicht wahrgenommen!", waren weitere Vorwürfe gegen das Projekt. Eine Selbstwahrnehmung der Ausgrenzung und Marginalisierung wird hier deutlich und ein intuitives Verstehen, dass man die Zuordnung zu einer Kulturgruppe nicht selbst bestimmt. Der Migrationstheoretiker Paul Mecheril bezeichnet die Ergebnisse dieser normativen Kulturzuschreibungen in der Migrationsgesellschaft als "Zugehörigkeitsordnungen"3. Mit der Zuschreibung einer italienischen "Kulturzugehörigkeit"4 hatten wir also eine Grenze zwischen einem "Wir", einem vermuteten italienischen "Nicht-Wir", einem "Uns" (Kulturkenner) und "Jenen"(Kulturlernende) produziert. Auch dagegen lehnten sich die Schülerinnen und Schüler auf.

Korrekturbedarf

Die beiderseitige Unzufriedenheit über Verlauf und Ergebnis rief nach Veränderungen des Projekts. Ich führte Gespräche mit der Lehrerin, den Schülerinnen und Schülern, der Schulleitung, der Sozialarbeiterin und der Künstlerin, zumeist gemeinsam mit mehreren Beteiligten. Das Projekt wurde mit allen neu verhandelt. Damit sollte Schulhegemonialität entkräftet und für Schülerinnen und Schüler Mitsprache und Mitbestimmung gesichert werden. Wir erwirkten, dass der Wunsch der Schulleitung nach einer öffentlichen Performance der Entscheidung der Gruppe untergeordnet wurde. Ferner kam die Schulsozialarbeiterin als Prozessbegleiterin für die Entwicklungsphase des Projekts hinzu. Das Projekt wurde aus unserer Sicht zu einem wirklichen partizipativen Projekt, das die Wünsche der Klasse einbezog und umsetzte.

Die Schule entwickelte schließlich ein ganzjähriges Projekt mit jeweils fünf vorbereitenden Projekttagen und einer Projektwoche pro Halbjahr. Die Anbindung an das Museum blieb optional, Theater blieb künstlerische Arbeitsform. Ziel des ersten Halbjahres war es, dialogisch und prozessorientiert Themen und Arbeitsformen zu erforschen und Theatertechniken zu vermitteln. Im zweiten Halbjahr sollte dann eine Performance/Präsentation entwickelt werden und das Ergebnis sein.

Staffel 2: Schul-TV Total

Obwohl die bisherigen Störfaktoren unserer Meinung nach nun ausgeräumt waren, gelang im Auftakttreffen dennoch kein Dialog mit der Gruppe. Wieder standen Künstlerin und Kulturagent vor einer Klasse, die herumschrie, mit Papier warf, Stühle umschmiss, auf den Tischen herumlief und keine Frage beantwortete. Erst mit unserem Signal abzubrechen, zeigten sich Einsicht und Interesse für ein Gespräch. Wir besprachen im Kreis, wie die Klasse arbeiten wolle, und sie entschied sich zu teilen5: in eine Gruppe, die Theater machen wollte, und eine Gruppe, die Unterricht machte. Die Theatergruppe erarbeitete vertraulich eine Liste mit relevanten Themen und vereinbarte mit der Künstlerin die Erarbeitung einer Performance. Die Schulküche wurde unser Arbeitsraum. Alle waren froh, nicht in dem kleinen Theaterprobenraum vom letzten Mal zu arbeiten. Die Schülerinnen und Schüler schrieben Texte, recherchierten und erarbeiteten zwei textfreie Performances/Szenen zu Gewalt auf dem Schulhof und bereiteten eine Improvisation für eine TV-Showeinlage mit Experten vor.

Auch hier traten Störungen auf, so beispielsweise bei der Aufteilung von Aufgaben (wer schreibt was mit wem, wer sucht die Musik oder Requisiten aus) und bei den Proben der einzelnen Szenen (ein Beispiel: "Darf der mich schlagen bei der Gewaltszene?"). Störungen gab es auch, wenn die andere Hälfte der Klasse in deren Stundenpausen mitten in Übungen oder Probenaufführungen hereinplatzte. Dabei wurde ein Handy geklaut, wofür wir die Klasse zusammenholten, um den Vorfall zu klären.

Ergebnis der Woche war eine ca. 15-minütige Performance, die vor dem Teil der Klasse aufgeführt wurde, der an der Theaterarbeit nicht teilgenommen hatte. Darin enthalten waren Szenen aus dem Schulalltag mit Mobbing und Handyzocken. Die jungen Darstellerinnen und Darsteller spielten eine Pädagogik-Hardlinerin und eine Schulreformerin, die in einer TV-Show zu Themen wie Schultoiletten und Raumgestaltung, Überwachung, Schulautorität und Nichtbeteiligung bei wichtigen Entscheidungen Rede und Antwort standen.

Erklärungsversuche

In dieser Phase wurde der Verpflichtungscharakter des Projekts verhandelt. Erst die gemeinsame Entscheidung, wer mitmacht und wer nicht, ließ den Widerstandsdruck sinken. Der ursprünglich nach "außen" gerichtete Widerstand ging nun in Kämpfe um Selbstbestimmungsmacht beziehungsweise Machtübernahme innerhalb der Gruppe über. Jetzt wurde die strukturelle Macht des Systems Schule generell diskutiert: "Wer sagt was und dürfen wir das?" Ergebnis dieser Suchprozesse waren Fragen, die in den Szenen der Schülerinnen und Schüler gestellt wurden: "Wer entscheidet für uns über Toilettenschlösser, über Pausen und Ferienzeiten, Einrichtung von Klassenzimmern, über Unterrichtsinhalte und -formen und über die Regelungen bei Gewalt und Diebstahl?"

Für uns als Organisierende war das ein wichtiger Erfolg, weil genau jene Themen, die ursprünglich zu Widerstand geführt hatten, jetzt endlich zur Sprache gekommen waren und eine künstlerische Form gefunden hatten. Es war also gelungen, mit den Mitteln der Kunst und des Projekts Machtverhältnisse sichtbar und ästhetisch erfahrbar zu machen.

Korrekturbedarf

In dieser Phase schien es keinen weiteren Korrekturbedarf zu geben. Die Intervention durch Dialog und Mitbestimmung hatte das Projekt weiterentwickelt. Es blieben zwei Ziele. Die Klasse sollte nicht mehr geteilt an einem künstlerischen Ergebnis arbeiten, und wir wollten aus Selbstbestimmung auch Selbstermächtigungserfahrung entstehen lassen. Nachdem die Teilnehmenden so klar ihre Wünsche und Forderungen formuliert hatten, wünschten wir uns mehr Öffentlichkeit in der Schule. Lehrkräfte und Schülerschaft sollten für die Themen der Gruppe mit einer Performance sensibilisiert werden, denn eine schulöffentliche Aufführung hätte durchaus das Potenzial, Veränderungsprozesse im Schulalltag anzustoßen.

Staffel 3: Kochduell/Abbruch

Vier Monate später saßen der Kulturagent und die Künstlerin wieder vor einer schreienden Klasse. Ohrenbetäubende Gesprächslautstärke, dauerndes Unterbrechen der Sprechenden, an uns und aneinander gerichtete Beleidigungen und das Herumrennen im Klassenzimmer machten es uns sehr schwer, den Dialog, wie er beim letzten Mal in Gang gekommen war, wieder aufzugreifen und weiterzuführen.

In mühsamer Verhandlung gelang eine Einigung auf ein Fernsehformat auf der Bühne: ein TV-Kochduell. Wieder sollte die Schulküche Bühne, Proben- und Aufführungsort werden. Unter der Bedingung, kein Publikum einladen zu müssen, willigte die Klasse zu einer Live-Übertragung in die Aula ein. Dort hätte dann das Publikum als Kritiker und Multiplikator der Show fungiert.

Doch schon am ersten Tag der Projektwoche entwickelte sich das Fernseh-Koch-Duell zu einem Krieg zwischen Künstlerin auf der einen Seite und Schülerinnen und Schülern auf der anderen. Da Kochen ein Teil der Aufführung war, verwandelte sich die Küche von einer Bühne in ein Schlachtfeld. Es wurde mit Messern herumgefuchtelt, Pfannen verschmorten, Töpfe mit heißem Wasser kochten über. Schülerinnen und Schüler stellten sich auf die Tische, schrien sich gegenseitig an und beleidigten die Künstlerin auf Italienisch. Der Aufstand, der dieses Projekt von Anfang an begleitet hatte, brach schließlich voll aus. Aus Erwägungen der körperlichen wie seelischen Unversehrtheit der Beteiligten und in Rücksprache mit mir beendeten Künstlerin und Künstler die Projektarbeit. Alle kehrten in ihren jeweiligen Alltag zurück.

Projektergebnisse und weiterführende Gedanken

Das unvermittelte Ende des Projekts als Scheitern zu bezeichnen, wäre angesichts der vielen Bemühungen, Überlegungen, Verhandlungen und Entwicklungsschritte aus meiner Sicht nicht angemessen. Zwar wurden die formulierten Ziele des Projekts nicht zuletzt deshalb nur unvollständig erreicht, weil der anvisierte Abschluss mit Aufführung nicht stattfand. Jedoch wären die bei allen Involvierten angeregten Lernprozesse und die damit einhergegangenen praktischen sowie theoretischen Neuorientierungen ohne die oben beschriebenen Ereignisse nie möglich gewesen.

Die messbaren und wahrnehmbaren zentralen Ergebnisse für die Schülerinnen und Schüler waren beispielsweise:

Begegnung mit Kunst und Kunstorten – Bekanntmachung mit Theater als Kunstform und Kommunikationsmedium – künstlerische Entscheidungsbefähigung – Umgang und Einsatz von Sprache und Performance als Transportmedium eigener Vorstellungen und Forderungen – Verhandlung und Entscheidungen über Formen und Inhalte einer künstlerischen Präsentation – gemeinschaftlicher Dialog und Klärung von Rahmenbedingungen und Möglichkeiten der eigenen künstlerischen Arbeit in der Schule

Die vorausgegangene Beschreibung zeigt, dass Widerstand mehr ist als nur eine unbequeme Erscheinung in Projekten. Widerstand scheint mehr zu sein als nur Störung, Erschwernis und Behinderung in der Projektarbeit, die es mit Maßnahmen der Kontrolle und Disziplinierung zu minimieren gilt.

Wie anfangs angekündigt, bietet es sich an dieser Stelle an, die Perspektive auf Widerstand zu wechseln und dessen Funktion und vor allem Nutzen nicht nur für Schülerinnen und Schüler, sondern auch für die Projektarbeit insgesamt genauer zu untersuchen.

Partizipation versus Widerstand?

Widerstand tritt als alltägliches Phänomen immer dann auf, wenn Machtunterschiede und Verringerung von Freiheitsgraden wahrgenommen werden6. Daher ist Widerstand allen sozialen Systemen immanent, in denen es Zwänge und Rahmenbedingungen gibt, die für das Individuum nicht verhandelbar sind. Sie sind spezifisch für jede Organisation/Institution und sie formen und bestimmen Denken und Handeln dieses Systems. In der Schule sind solche nicht verhandelbaren Prämissen Anwesenheitspflicht, Ausführungspflicht, Einhaltung der Disziplin und so weiter. Weitere Prämissen sind beispielsweise die Unterscheidung in Vermittelnde und Lernende, Entscheider und Nichtentscheider, Anweisende und Ausführende7.

Eine ungleiche Verteilung von Handlungs- und Entscheidungsmacht und die fehlende Beteiligungsfreiheit sind vor allem für Schülerinnen und Schüler ein entscheidender Anlass für den Machtkampf im System. Das gilt besonders für Projekte der kulturellen Bildung, weil dort Freiwilligkeit und Mitgestaltung eine Prämisse darstellen, die mit den beschriebenen Prämissen des Systems Schule kollidieren. Verweigerung bewerkstelligt hier vor allem eins: Spielräume zu eröffnen, um Machtverhältnisse neu zu verhandeln.8

Ein weiteres Machtgefälle entsteht, wenn Künstlerinnen und Künstler (aber auch Kulturagentinnen und Kulturagenten) als Experten eingesetzt werden. Als Wissens- und Fähigkeitsmächtige besteht ihre Aufgabe darin, Vermittlung, Lernen und Veränderung zu bewerkstelligen. Ist Lernen strukturell auf diese Weise eingerichtet (wie auch im herkömmlichen Unterricht), ist es eine Einbahnstraße, auf der allein Schülerinnen und Schüler unterwegs sind. Lernen ist dann "ein linearer und dualistischer Begriff und setzt eine Polarität von [Lernendem] und [Begleiter] voraus"9. Die alleinige Verantwortung für Veränderung wird damit an die schulisch Lernenden abgegeben. Einzige Chance, Beteiligung und Kompetenzträgerschaft und damit (Veränderungs-)Macht zu erfahren, ist folglich paradoxerweise, sich durch Nichtbeteiligung zu verweigern und sich gegen die Macht des Systems Schule zu stellen – also sich zu ermächtigen.

Versteht sich Lernen und Vermittlung jedoch als Anregung zum Prozess der inneren und äußeren Änderung beziehungsweise Entwicklung, dann könnte Lernen bei allen Beteiligten eines Systems (einer Gruppe von Menschen in einem Projekt) stattfinden. Damit wäre das Machtgefälle einer wie oben beschriebenen linearen und polaren Lern- und Vermittlungsstrategie entkräftet, und Widerstand und Verweigerung könnten minimiert werden. Die einseitige Zuweisung der Lernpflicht an die Schülerinnen und Schüler wäre entschärft, und Lernen würde sich demokratisieren.

Kulturelle Bildungsprojekte sind dementsprechend eine Chance, sich als Motor für Veränderung von Lernkultur zu verstehen. Sie sind nicht nur Impulsgeber für Erfahrungen mit Kultur und Kunst, sie sind vor allem Prozessinstrumente, mit denen alle Beteiligte miteinander und voneinander lernen können. Projekte kultureller Bildung sind damit ebenso Reflexionsinstrumente,10 die es den Initiatorinnen und Initiatoren sowie Durchführenden erlauben, mit den Schülerinnen und Schülern vor allem das Lernen selbst ins Visier zu nehmen. Sie können auf diese Weise Änderungen in der Beziehung aller Beteiligten zueinander, zur Schule und zur Welt außerhalb der Schule in Gang setzen.

Abschließend möchte ich noch einen Gedanken von Paul Mecheril aufgreifen. Seine Analyse von "natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen" thematisiert normierende und diskursive Machtverhältnisse in der Gesellschaft aus dem Blickwinkel der Migrationspolitik. Dies betrifft viele Schulklassen in urbanen Ballungszentren, die aus Jugendlichen bestehen, die sich zwischen kulturellen Systemen hin- und her bewegen und sich dauernd zwischen Selbstverortung und Fremdverortung befinden. Für junge Menschen in dieser Situation fordert er deshalb von kultureller Bildung, "einen ästhetischen Rahmen zu schaffen, in dem Lernende mit Hilfe des Gestaltens (qua) symbolischer Formen Positionen und sich selbst in dieser Ordnung nicht nur kennenlernen, sondern auch ausprobieren, anprobieren, verändern und verwerfen"11. Mecheril spricht damit die Bedeutung der Selbstermächtigung der Schülerinnen und Schüler – also die Umverteilung von Macht – an, die in der kulturellen Bildung möglich und nötig ist. Für diese Selbstermächtigungsarbeit in der Bildung zeigt auch das hier beschriebene Projekt, wie hilfreich die Achtsamkeit gegenüber Phänomenen des Widerstands ist.

Widerstand stellt somit eine Interaktionsfigur und eine Signalstrategie dar, die auf Asymmetrien der Machtverhältnisse innerhalb eines Systems hinweist. Wird er ernst genommen, bietet sich die Chance, Arbeits- und Lernzusammenhänge sowie persönliche und künstlerische Entwicklung zu reflektieren. Widerstand gehört damit zu den Ressourcen, die spezifisch auf Veränderungsbedarf in Institutionen und ihren Strukturen hinweisen und Veränderungen überhaupt erst auslösen.

1 Italienische Kunst deshalb, weil die Klasse eine zweisprachig unterrichtete italienische Europaschulklasse (SESB) ist. Die Schülerinnen und Schüler sind teils in Deutschland, teils in Italien geboren, einige stammen aus dem Süden Italiens, andere aus dem Norden. Es ist aber auch ein Jugendlicher mit einem polnischen Elternteil im Klassenverband.

2 Nora Sternfeld stellt sich gegen die "hegemoniale" Auffassung von Partizipation, die nur Freiräume einräumt. "Ich schlage vor, Partizipation nicht als bloßes ,Mitmachen" zu begreifen, sondern als eine Form der Teilnahme und Teilhabe, die die Bedingungen des Teilnehmens selbst ins Spiel bringt." Vgl. "Partizipation und der dritte Raum. Constanze Eckert im Gespräch mit Nora Sternfeld", in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015.

3 "Gegenstand der Migrationspädagogik sind insofern die durch Migrationsphänomene bestätigten und hervorgebrachten Zugehörigkeitsordnungen und insbesondere die Frage, wie diese Ordnungen in bildungsinstitutionellen Kontexten hergestellt, aber auch, wie sie verändert werden können." Vgl. Mecheril, Paul: "Kulturell-ästhetische Bildung. Migrationspädagogische Anmerkungen", in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015.

4 Mecheril meint dazu, dass kulturelle Zugehörigkeit oder "Herkunft" keiner expliziten Zuweisung bedürfen. Er fordert, dass sich nur durch das Ende einer Differenzzuschreibungspolitik gesellschaftliche Änderungen, politische wie individuelle, erzeugen lassen. "Neben dem Gleichheitsgrundsatz, neben dem Prinzip der Anerkennung von Identitätsentwürfen muss mithin auch das paradoxe Moment der Anerkennung der Unmöglichkeit der Anerkennung ein Moment allgemeiner Bildung in der Migrationsgesellschaft" sein. Vgl. ebd.

5 Die freiwillige Teilnahme für das Projekt wurde hiermit eingeführt – wobei echte Freiwilligkeit durch die Schulpflicht ja nicht möglich ist. Nicht uninteressant ist die Tatsache, dass die Schülerinnen und Schüler mit dem größten Engagement und der bisher am deutlichsten sichtbaren Befähigung sich von jenen trennten, die am meisten Störungen produziert hatten.

6 Widerstand wird auch als Reaktanz bezeichnet und beschreibt "die Tendenz, den Empfehlungen oder Weisungen anderer zu widerstehen […]. Die Stärke der Reaktanz ist abhängig von der Wichtigkeit, die ein Individuum seiner Freiheit beimisst." Siehe Conen, Marie Luise; Cecchin, Gianfranco: Wie kann ich ihnen helfen, mich wieder loszuwerden. Therapie und Beratung mit unmotivierten Klienten und in Zwangskontexten, Heidelberg 2013, S. 83f.

7 Diese Prämissen "bewältigen Ambivalenz und Ambiguität und ermöglichen all jenen, die sich nach ihnen richten müssen/können/wollen, so zu tun, als ob die Welt eindeutig beschreibbar und bewertbar wäre. Entscheidungen wirken als Prämissen für weitere Entscheidungen." Vgl. Simon, Fritz B.: Einführung in die systemische Organisationstheorie, Heidelberg 2013, S. 70ff.

8 Vgl. Conen; M.-L.; Cecchin, G., a. a. O, S. 85f.

9 Wetzel, N. A.: "Zum Begriff des Widerstandes in der Familientherapie", in: Petzold, H. (Hg.): Widerstand. Ein strittiges Konzept in der Psychotherapie, Paderborn 1981, S. 407–426, hier: S. 413.

10 Siehe: Pringle, Emily: "Der Wert der Reflexion", in: Mission Kulturagenten - Onlinepublikation des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen 2011–2015", Berlin 2015.

11 Siehe: Mecheril, P., a. a. O.