Thomas Kümmel
Schulen als Kulturanbieter im ländlichen Raum
Thomas Kümmel

Schulen als Kulturanbieter im ländlichen Raum

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"Romantische Zeitreise" der Staatlichen Regelschule Menteroda, Mai 2015
Foto: Thomas Kümmel

Weite Wege zwischen Kulturakteuren und Schulen sowie die damit verknüpfte Thematik der Mobilität scheinen unabänderliche Dispositionen des ländlichen Raums zu sein. In nahezu jeder diesbezüglichen Standortdebatte haben sie jedenfalls gute Chancen, als Argumente an vorderster Front aufzutauchen. Dies gilt umso mehr, sobald das Thema der praktischen Ausgestaltung von Kooperationen zwischen Kulturinstitutionen und ihrem näheren und weiteren Umfeld in den Fokus rückt. Wie definiert sich jedoch der Einzugsbereich beziehungsweise der Aktionsspielraum für alle an einer Kooperation Beteiligten in der Praxis ganz konkret, und welche Faktoren sind hierbei entscheidend? Auf Nachfrage bleiben die Handelnden eine Antwort auf diese Fragen zumeist schuldig. Sie machen das Gelingen hauptsächlich an vergleichbaren und in der Vergangenheit erfolgreich etablierten Zusammenarbeiten fest. Eines wird in den Gesprächen mit den verschiedenen Akteurinnen und Akteuren aber in jedem Fall sehr bald klar: Wenn das Interesse an einer Kooperation erst einmal geweckt ist, inhaltlich klare Vorstellungen darüber bei den Partnern bestehen und ein entsprechendes Engagement entstanden ist, tritt der im Vorfeld möglicherweise proklamierte Standortnachteil des ländlichen Raums in den Hintergrund.

In der heutigen, stark vernetzten Lebenswelt unterscheiden sich die Wunschvorstellungen von Jugendlichen auf dem Lande nur noch marginal von denen ihrer Altersgenossinnen und -genossen in den städtischen Ballungsräumen. Große und eher lose Freundeskreise ermöglichen es, sich zu nahezu jedem persönlichen Interessengebiet zeitnah und authentisch auf dem Laufenden zu halten. Schaut man sich aber die konkreten Ausgangsbedingungen des ländlichen Raums an, wird ersichtlich, dass ein persönliches und hautnahes Erleben von Kunst- und Kulturangeboten für junge Menschen im ländlichen Raum nur mit großem Aufwand zu erreichen ist. Die ländlichen Regionen sind keineswegs abgekoppelt von den aktuellen Entwicklungen und Strömungen, haben aber konstant und individuell mit ihrer mehr oder weniger isolierten Lage zu kämpfen.

Der Freistaat Thüringen verfügt als Flächenland über eine erstaunlich große Vielfalt an kulturellen Angeboten und Initiativen. Die meisten von ihnen werden allerdings nicht institutionell gefördert, sondern müssen ihre Etats und Projektbudgets jedes Jahr aufs Neue mühsam einwerben. Demzufolge könnte man vermuten, dass generell eine ausgeprägte Bereitschaft und Offenheit bestehe, Kooperationen – unter anderem auch mit Schulen – einzugehen. Dies ist aber nicht immer der Fall. Neben der knappen finanziellen Ausstattung sind die Personalressourcen oft der entscheidende Hinderungsgrund. Beide Umstände führen dazu, dass sich der zu bespielende Aktionsradius der Kulturinstitutionen und -partner nahezu zwangsläufig beschränken muss. Insbesondere wenn es sich um Einrichtungen in kommunaler Trägerschaft handelt, enden deren Angebote häufig bereits an der Stadt- beziehungsweise Kreisgrenze.

Im direkten Vergleich dazu sind insbesondere Künstlerinnen und Künstler weitaus häufiger bereit und in der Lage, längere Distanzen zu Schulen oder anderen Projektpartnern zu überwinden. Ökonomisches Denken spielt bei ihren Entscheidungen eine eher untergeordnete Rolle. Als relevante Faktoren für das Zustandekommen von Kooperationen werden von ihnen vielmehr die Kontinuität des Engagements vor Ort, eine durch konkrete Projektzusammenarbeit etablierte, zum Teil persönliche Beziehung zu einzelnen Lehrkräften sowie das grundsätzliche Interesse der Schulen an Anschlussprojekten gesehen. Künstlerinnen und Künstler zeigen dabei zugleich eine erstaunlich hohe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit.

Mit dem Kulturagentenprogramm wurden die beteiligten Schulen erstmals mit einem umfangreichen Budget ausgestattet, das sie in die komfortable Lage versetzt hat, von sich aus längerfristige Kooperationen zu initiieren und auch langfristig zu gestalten. Die gesicherte Finanzierung wissen die unterschiedlichen Kulturpartner dabei durchaus zu schätzen. Den Schulen wächst dadurch jedoch gleichzeitig eine gänzlich neue und meist unerwartete Rolle zu: Sie avancieren plötzlich von punktuellen Nachfragern zu regelmäßigen Anbietern und Gestaltern von künstlerischen Angeboten für den Ort und die Region. Ein neues Selbstverständnis beginnt sich zu entwickeln. Maßgeblich dazu beigetragen hat auch die Arbeit der Kulturagentinnen und Kulturagenten, die vorrangig als Mentoren, Moderatoren und Vermittler den Veränderungsprozess über insgesamt vier Jahre hinweg kontinuierlich begleitet und befördert haben.

Nachfolgend sollen einige der Ansätze und Wege, die im Schulnetzwerk Mühlhausen im Westen Thüringens beschritten wurden, näher beschrieben werden.1 So manches Mal sind die Schulen dabei noch unter ihren Möglichkeiten und Chancen geblieben. Das ist nicht wirklich verwunderlich, weil mit einem geänderten Rollenverständnis auch organisatorische und strukturelle Veränderungen einhergehen, die Zeit benötigen.

Wichtigste Voraussetzung für die Veränderungsprozesse ist es, Kunst und Kultur als Teil des Alltags und der Erfahrungswelt der Jugendlichen zu begreifen und Verknüpfungen zum Bildungskanon herzustellen. Der von der Gesellschaft an die Schule übertragene und in stetiger Veränderung und Anpassung begriffene Bildungsauftrag schließt es oberflächlich betrachtet erst einmal nicht ein, dass Schule auch als Kulturanbieter öffentlich auftreten und sich als solcher im Ort beziehungsweise in der Region etablieren kann. Im Rahmen einer ganzheitlich verstandenen Bildung ist dieser Schritt aber keinesfalls abwegig, sondern vielmehr folgerichtig, denn eine als inklusiv verstandene Bildung umfasst es zwingend, allen Schülerinnen und Schülern, ungeachtet ihrer jeweiligen Voraussetzungen, sinnvolle und individuelle Wege zu mehr Autonomie, Selbstreflexion, Toleranz, Kompromissbereitschaft und Teilhabe aufzuzeigen. Insbesondere die vielfach zu Unrecht und von vornherein im Leistungssystem Schule stigmatisierten, sogenannten schwächeren Schülerinnen und Schüler profitieren in erheblichem Maße von den neuen Wegen der Selbsterkenntnis und der Wahrnehmungsschulung, die Kunst und Kultur möglich machen. Wenn Distanzen zu Kulturpartnern und -angeboten nicht einfach überwunden werden können, gilt es also umso mehr, die diagnostizierte Lücke selbst zu füllen und "Kindern und Jugendlichen Kultur als sozialräumliches Angebot zu erschließen"2.

Schulen zählen zu den wenigen, wenn nicht gar den einzigen Institutionen, die in ländlichen Regionen kulturelle Angebote speziell für Kinder und Jugendliche unterbreiten. Demzufolge stehen sie gar nicht vor der Wahl, ob sie auch zu Kulturanbietern werden wollen, denn sie sind es in den meisten Fällen bereits. Vielmehr stellt sich die Frage, wie die Schulen dieser Verpflichtung am besten gerecht werden können und auf welche Weise sie für diese Aufgabe ausgestattet werden müssen.

Die generellen Ausgangsbedingungen dafür sind im ländlichen Raum nahezu ideal: Oft bestehen enge Kontakte in die Kommunen und den Sozialraum hinein. Viele aktuelle Förderprogramme im Bereich der kulturellen Bildung richten zudem mittlerweile ihre Schwerpunkte verstärkt darauf aus, lokale Akteurinnen und Akteure miteinander zu vernetzen.3 Eng mit dieser Idee verknüpft ist ein grundsätzliches Interesse an Verstetigung sowie am Aufbau langfristiger bis dauerhafter (Infra-)Strukturen und Netzwerke. Das ist gerade für struktur- und kulturschwache Regionen von besonderer Bedeutung. Es sollten Defizite also nicht nur konstatiert und beklagt, sondern nach Möglichkeit mit eigenen Angeboten ideenreich ausgefüllt werden. Passgenauigkeit, Risikobereitschaft und Experimentierfreudigkeit sind hierbei Schlüsselfaktoren. Neue Wege müssen anvisiert und gegangen, neue Partnerschaften gewonnen und geknüpft werden. Dieser Prozess beginnt in vielen Fällen damit, dass sich Schule als Institution dem umliegenden Sozialraum ohne Vorbehalte öffnet.

Vereine sind – neben den Schulen – vielfach wichtige Träger und Bewahrer kultureller Identitäten eines Ortes beziehungsweise einer ganzen Region. Zumeist sehr spezifisch aufgestellt, sehen sie sich jedoch zunehmend mit Überalterung und Mitgliederschwund konfrontiert und müssen dadurch häufig um ihren eigenen Fortbestand ringen. Außerdem erleben sie, dass die von ihnen vertretenen Werte von der jüngeren Generation nicht mehr unbedingt geteilt werden oder gar auf wenig Interesse stoßen. Im Falle des Bergmannsvereins Menteroda konnte durch das Kulturagentenprogramm erst kürzlich in einer Pilotphase eine Zusammenarbeit zwischen der Regelschule im Ort und dem Verein angestoßen werden. Ihr Ausgang ist durchaus noch ungewiss, lässt aber bereits nach der ersten gemeinsam ausgestalteten Veranstaltung große Offenheit und Neugier von beiden Seiten erkennen.

Ganz anders sind die Wege, die an der Gemeinschaftsschule Hüpstedt in der Gemeinde Dünwald im historischen Eichsfeld bislang gegangen wurden. Mit dem Projekt "Landforscher", an dem sich zum Ende des Schuljahres 2013/14 die gesamte Schule, also alle Lehrerinnen und Lehrer und die gesamte Schülerschaft, beteiligte, wurden der Ort und das Umland vier Tage lang mit ästhetischen Forschungsmethoden erkundet. Sieben Künstlerinnen und Künstler sowie zwei Kuratorinnen unterstützten die insgesamt sechs gemischten und jahrgangsübergreifenden Teams aus Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern bei ihrer Forschungsarbeit. Zeitgleich veranstalte die Regionalstelle Thüringen der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, die das Thüringer Landesbüro des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen" betreibt, das Labor LandRAUM und schlug dazu wortwörtlich ihre Zelte auf dem Sportplatz im Dorf auf.4 Bei den begleitenden Veranstaltungen sowie der Abschlusspräsentation aller Gruppen entwickelte sich ein intensiver Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern der Lokalpolitik sowie mit Schuljugend- und Sozialarbeiterinnen aus der Region. Der Impuls, den die Schule durch das Kulturagentenprogramm in dieser Form erstmals zu setzen in der Lage war, hat ein Echo erzeugt und ihr neuartige Möglichkeiten der Unterstützung und der lokalen Vernetzung eröffnet.

Die Filmgruppe bei den Dreharbeiten. Projekt "Landforscher", Gemeinschaftsschule Hüpstedt "Dünwaldschule", Juli 2014
Foto: Thomas Kümmel

Die Musikgruppe bei der Erarbeitung ihres Dünwald-Liedes. Projekt "Landforscher", Gemeinschaftsschule Hüpstedt "Dünwaldschule", Juli 2014
Foto: Thomas Kümmel

An der Gemeinschaftsschule Rodeberg wurde hingegen bereits von Anfang an bewusst auf eine durchgängige Einbindung aller kulturellen Angebote in das Curriculum gesetzt. In den sogenannten Kulturstunden, die für alle Schülerinnen und Schüler der Klassen 3 bis 10 verbindlich sind und in die sie sich entsprechend ihrer Interessen und Motivationen jahrgangsübergreifend für ein ganzes Schuljahr einwählen, haben mittlerweile 15 künstlerische Angebote ihren Platz gefunden. Obwohl das Format einen höheren Organisations- und Verwaltungsaufwand erfordert, hat sich die Vielfalt der Angebote innerhalb von nur zweieinhalb Jahren stetig verbreitert und ist zu einem festen Bestandteil des Schulalltags geworden. Um die kontinuierliche Einbindung über das gesamte Schuljahr hinweg zu gewährleisten, wird vorrangig mit regionalen Künstlerinnen und Künstlern, Institutionen und mittlerweile auch Firmen zusammengearbeitet. Einen detaillierten Einblick in die Prozesse, die damit insgesamt an der Schule angestoßen wurden, gewährt ein Schulporträt über die Gemeinschaftsschule Rodeberg.

Die Schülerinnen aus dem Teilprojekt "Körper in Bewegung" innerhalb der "Kulturstunden" präsentieren ihre erarbeiteten Choreografien zum "Testfest" an der Gemeinschaftsschule Rodeberg im Juli 2013
Foto: Thomas Kümmel

Beim Papierschöpfen im Teilprojekt "Vom Papier zur (Buch)Kunst" innerhalb der "Kulturstunden" an der Gemeinschaftsschule Rodeberg, Mai 2013
Foto: Thomas Kümmel

Die Frage "Was wollen wir als Schule?" bedeutet immer auch: "Was wollen unsere Schülerinnen und Schüler, was treibt sie um, was bewegt sie in ihrem Alltag?" Um Kunst und Kultur nachhaltig in das Schulprofil zu integrieren, führt deshalb kein Weg daran vorbei, Bildungsauftrag und (Eigen-)Interessen zusammenzubringen, gut vorbereitete und erläuterte Auswahlangebote zu unterbreiten, ergebnisoffene und erlebnishafte Prozesse anzustoßen und Wahrnehmung auf vielfältigen Ebenen und Themenfeldern zu schulen. Darüber hinaus muss es möglich sein, abseits von Leistungsdenken und Leistungsdruck zu arbeiten und zu agieren. Wenn lebenslanges Lernen und lebenslange Teilhabe als Werte für die Gemeinschaft erkannt werden, dann sind generationenübergreifende Projekte zudem deren logische Konsequenz. Da Schule aus sich selbst heraus nicht über einen derart weiten Erfahrungs- und Praxishorizont verfügen kann, ist es für sie unabdingbar, lokale Ressourcen wie Kulturpartner, Vereine, Firmen, Kommunalpolitik, Landkreisebene, Bürgerstiftungen sowie regionale Initiativen zielgerichtet zu identifizieren und bereits frühzeitig in das eigene Entwicklungsvorhaben einzubeziehen. Dies gilt vor allem und gerade für den ländlichen Raum, bei dem der Innovationszwang nur gering ist, da konkurrierende Kunst- und Kulturangebote in der Regel nicht gemacht werden.

1 Siehe dazu auch: Zanker, Harald; Kümmel, Thomas: "Kulturelle Bildung im ländlichen Raum. Wie der Unstrut-Hainich-Kreis mit einem Kulturagenten Kulturnetzwerke aufbaut", in: Der Landkreis. Zeitschrift für kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart 2014, Ausgabe 9, S. 575–576.

2 BKJ-Themenheft "Sozialraum": Raum Bildung Horizonte. Kooperationen sozialräumlich gestalten, Berlin 2014, S. 7.

3 Beispiele: "Künste öffnen Welten" der BKJ, online: www.kuenste-oeffnen-welten.de [10.01.2015]; Förderschwerpunkt Inklusion der Aktion Mensch, online: www.aktion-mensch.de/projekte-engagieren-und-foerdern/foerderung/foerderprogramme/inklusion [10.01.2015].

4 www.dkjs.de/aktuell/meldung/news/unerwartete-erkenntnisse-im-labor-landraum/ [10.01.2015].