Eva Maria Stüting
Agentische Kultivierung oder Auftrag Kultur?
Eva Maria Stüting

Agentische Kultivierung oder Auftrag Kultur?

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Seit 2012 bin ich Agentin, Kulturagentin an drei Hamburger Schulen. Vorher habe ich als Theaterwissenschaftlerin multifunktional gearbeitet – wie Kulturschaffende das so machen: Unternehmerin in eigener Sache. Ich war Theaterregisseurin, Schauspielerin, Autorin, Dramaturgin, Kuratorin, Dozentin. Dabei lag die Definition meiner Aufgaben in der Bezeichnung meiner jeweiligen Tätigkeit. Als Kulturagentin ist das nicht so einfach. Ich bin etwas, das noch nie jemand war. Ich bin für die Schulen Agentin in Sachen Kultur. Die Spione der altorientalischen Herrscher wurden "Augen und Ohren des Königs" genannt: Geheime Berichterstatter, Nachrichtenüberbringer, Informanten.

In meinem Auftrag geht es um Vermittlung: Ich soll mit den Schulen Kulturprofile entwickeln, die das Schulleben nachhaltig prägen, Projekte initiieren, zeitliche und strukturelle Voraussetzungen dafür schaffen, Kooperationen auf den Weg bringen. Dafür muss ich das System verstehen, um darin Impulse zu setzen. Schulen sind ganz eigene Organismen. Ihre Systeme folgen eingespielten Funktionen, deren Steuerungsorgane nicht immer einfach zu identifizieren sind. Also: verdeckte Ermittlung.

Mein Einsatzgebiet: Netzwerk Bergedorf

Drei Stadtteilschulen im Südosten von Hamburg, alle drei sehr unterschiedlich:

Nummer eins: Eine Dorfschule am Deich am äußersten Zipfelchen Hamburgs. Das Gebäude ist zu klein für die 700 Schülerinnen und Schüler. Deshalb das Containerdorf auf dem Schulhof. Neubau geplant. Eine Stunde Fahrtzeit mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in die Hamburger Innenstadt.

Nummer zwei: Eine ehemalige Gesamtschule in einer architekturpreisgekrönten Immobilie, mit roten Ledersofas in der Lehrerlounge und über 1.000 Schülerinnen und Schülern in Neuallermöhe-West – einem der größten städtebaulichen Konzept-Stadtteile Deutschlands.

Und Nummer drei: Eine fusionierte Haupt- und Realschule, die aus allen Nähten platzt. Das 1950er-Jahre-Gebäude ist für 400 Schülerinnen und Schüler gedacht. 800 lernen jetzt dort – viele im angelegten Containerpark. Abriss und Neubau sind geplant.

In meiner ersten Zeit bewege ich mich sehr agentisch – fast schon geheim. Ich beobachte: Menschen, Strukturen, Prozesse. Ich skizziere für mich die Bilder meiner drei Schulen im Kopf. Ich sammle Informationen, verfasse Berichte, suche Verbündete. Ich höre viel zu und versuche, aus den Details ein Gesamtbild zu konstruieren. Ich betrachte, was war, um mir vorzustellen, was sein könnte. Denn meine erste Mission steht fest: Erstellung eines Kulturfahrplans. Wo waren wir, wo sind wir, wo wollen wir hin mit der Kultur, mit dem Kulturagentenprogramm in den kommenden drei Jahren?

Projekt "Weltverbesserungs-Guerilla" der Gretel-Bergmann-Schule, Hamburg
Foto: Claude Jansen

Kulturbegriff und Kulturfahrplan

Je näher ich den Schulen komme, je mehr Lehrerinnen und Lehrer, Schulleitungen, Schülerinnen und Schüler und Eltern ich treffe, desto mehr stellt sich mir die Frage, ob wir eigentlich über dieselben Dinge sprechen. Haben wir einen gemeinsamen Kulturbegriff? Reden wir über das Gleiche, wenn wir von Kultur, kultureller Teilhabe und Bildung, Kulturprojekten sprechen? Augenscheinlich nicht – und natürlich nicht. Ich bin seit 15 Jahren mit diesem Thema professionell befasst, aber für die Lehrerinnen und Lehrer ist es oftmals eher ein "Add on" zum Tagesgeschäft Unterricht, ebenso wie für die Schülerinnen und Schüler. Den Eltern bescheren Kulturprojekte hauptsächlich vermehrte Einladungen zu Aufführungen und Präsentationen. Ein Kultur-Crash also!

Aber wie sollen wir den Kulturbegriff im Alltag überprüfen oder gar abgleichen? Der Praktikabilität und Einfachheit zuliebe gehen wir also in stummem Einvernehmen davon aus, dass Kultur im gesamten Kontext des Schulumfelds ein nicht ausdifferenzierter Platzhalter für den Bereich ästhetische Bildung ist. Als Kulturagentin aber muss ich den Begriff "Kultur" zumindest für mich selbst genauer fassen, um mich und meine Arbeit zu definieren, um zu wissen, was zu tun ist. Hier geht es also um eine rein persönliche Agenten-Definition.

Allgemein bezeichnet Kultur im weitesten Sinne alles, was der Mensch selbst gestaltend hervorbringt, im Unterschied zu der von ihm nicht geschaffenen und nicht veränderten Natur. Kulturleistungen sind alle formenden Umgestaltungen eines gegebenen Materials. Kultur also zunächst als die menschliche Gestaltung der Dinge: Kultivierung. Aber auch als Ordnungsprinzip der Dinge nach dem System einer gewachsenen Gemeinschaft, denn kulturelle Einschreibung betrifft nie den Einzelnen, sondern immer eine Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft kann klein oder groß sein, geografisch, sozial oder politisch geprägt. Sie muss nicht homogen sein, sie braucht lediglich ein gemeinsames Merkmal, wie zum Beispiel dieselbe Schule. Danach ist Kultur die Aneignung der Dinge nach den Maßstäben der Gemeinschaft: die Besetzung von Räumen, die Prägung von Worten, die Ritualisierung von Aktionen. Kultivierung ist somit eine Aktion, die Gemeinsamkeit schafft.

So wird der Begriff "Kultur" für mich als Kulturagentin zu einem Instrument, gemeinsam Selbstwirksamkeit durch Kultivierung zu erreichen: Das ist es, was mich an meinem Auftrag interessiert. Kultivierung von Gedanken und Ideen, Kultivierung von Orten und Formaten, Kultur als Einschreibung und Ritualisierung des Alltags.

Ich versuche, diesen Kulturbegriff auf die Arbeit an den Kulturfahrplänen anzuwenden. Die Schlagworte sind Erlebnis, Verstetigung, Formatierung, Einschreibung, Ritualisierung: Die künstlerischen Aktivitäten an den Schulen sollen sich im Organismus Schule festsetzen, vitale Funktionen ergänzen, nicht wegdenkbar werden. In diesen Punkten sind die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer und ich uns einig: Wir haben den Abgleich geschafft und können nun gemeinsam Kulturfahrpläne entwickeln.

Beispiel Kirchwerder: Kunst Raum Schule

An der Schule Kirchwerder ist Raum ein hohes Gut, denn es gibt ihn nicht. Mit dem Kulturfahrplan "Kunst Raum Schule" wollen wir durch die Kunst neue Räume schaffen: echte Räume, Gedankenräume und Freiräume, die noch zu besetzen sind mit Sinn, Wert und Inhalt. Seit Sommer 2012 steht der Schule eine alte Projektschule zur Verfügung. Es ist eine kleine zweigeschossige Villa aus der Jahrhundertwende, mit zwei großen, hellen Arbeitsräumen mit Blick auf Wiesen und Deich, einem verwunschenen Garten mit Feuerstelle und Brennofen. Ein Ort, der – in einen Dornröschenschlaf gefallen – nicht in diese Zeit zu passen scheint, etwa zehn Autominuten vom Hauptgebäude der Schule entfernt. Ein Glücksfall! Der perfekte Ort zur künstlerischen Besetzung. Die Idee unseres Kulturfahrplans ist es, ihn als kreativen Standort der Schule während der Laufzeit des Kulturagentenprogramms zu kultivieren.

Was braucht es dafür?

Zunächst eine umfangreiche Entrümpelung. Das Haus wird von Altlasten befreit, um seiner neuen Bestimmung entgegenzuwachsen. Diese Stunde null setzt sich den Beteiligten im Gedächtnis fest: Ein Freiraum ist entstanden, der mit neuen Ideen gefüllt werden muss. Eine große Herausforderung und Verantwortung. Wir konzipieren Projekte, in denen die Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrkräfte gemeinsam mit Künstlerinnen und Künstlern diverser Sparten eine Vision für diesen Ort entwickeln: Was soll dieser Ort können? Was soll er uns bieten? Wie können wir ihn gestalten?

Mit vielgesichtigen, kleinteiligen Aktionen verfolgen wir ein Ziel: Der Raum wird Zentrum des Erlebens. Hier arbeiten die Akteure als Gestalterinnen und Gestalter, die maßgebliche Einschreibungen vornehmen. Sie eignen sich den Ort an, um ihn ihren Bedürfnissen anzupassen. Sie kultivieren ihn. Die nicht genutzte Projektschule wird ein Raum, in dem die Schülerinnen und Schüler Selbstwirksamkeit in der Gemeinschaft erleben. Ein Raum für Kultur also.

Beispiel Gretel Bergmann Schule: Ritualisierung von Formaten

Der Kulturfahrplan an der Gretel Bergmann Schule verfolgt die künstlerische Profilierung über die Ritualisierung des Schulalltags in speziellen Formaten. Im Schuljahr werden wiederkehrende Zeitfenster gesetzt, die für die künstlerischen Fächer Produktion und Präsentation bedeuten. So gelangen die Ergebnisse der Fächer Theater, Kunst und Musik regelmäßig in den Fokus der Öffentlichkeit.

Durch die Unterschiedlichkeit der Formate ist die Abbildung der Vielfalt von Aktionen gewährleistet: Beim "Tag der Talente" sind die künstlerischen Fächer gefragt, ihre Ergebnisse zu präsentieren. Musik-, Kunst- und Theaterkurse produzieren also ihre Präsentationen zielgerichtet für diesen Tag. Die Schülerinnen und Schüler und die Lehrkräfte haben einen künstlerischen Fixpunkt im Jahr. Die Ausgestaltung des Tages ist festlich, groß gedacht und öffentlichkeitstauglich. Die damit einhergehende Aufwertung der Präsentationen schafft einen positiven Erwartungsdruck, der die Akteure und Protagonisten mit Adrenalin und Lampenfieber beflügelt. Allein die Existenz dieses besonderen Tages bedeutet eine Kultivierung, denn er ist der Anfang einer Ritualisierung des Schuljahrs.

Ein zweites Projektformat des Kulturfahrplans an dieser Schule ist die "Kunstpause". In der Kunstpause, einem monatlichen Open-Stage-Format in der einstündigen Mittagspause, finden kleine Kunstaktionen statt, die in den künstlerischen Fächern und den Nachmittagskursen entwickelt worden sind: ein kurzer Bandauftritt, ein Act der Cheerleader-Gruppe, eine Mini-Modenschau, ein Film, eine Szene, Gedichte. Die Kunstpause ist eine sehr einfache Idee, das Format "Open Stage" ist bekannt. Die Herausforderung liegt hier im Detail: Nur mit strenger Einhaltung der Strukturvorgabe kann sich das Format durchsetzen. Es muss immer im angelegten Rhythmus stattfinden – jede Abweichung gefährdet die Einschreibung ins Schulgedächtnis. Es muss einem klaren Ablaufplan mit Anmoderation, Act, Abmoderation folgen. Nur so wird es auch als Format sichtbar, und die potenziellen Teilnehmerinnen und Teilnehmer können sich darin selbst vorstellen. Es muss immer denselben Aufbau und im besten Fall eine eigene Corporate Identity geben: einen Jingle, ein Logo, ein Gesicht. Das Format muss so cool präsentiert werden, dass es einer Auszeichnung gleichkommt, daran teilzunehmen.

Diese Formatierungen bewirken die Gestaltung des Schulalltags durch Wiederkehr. Die Wiederholung von Strukturen schafft unmerklich Wiedererkennungsmechanismen, die sich nicht mehr einfach vergessen lassen. Irgendwann sagt man dann: "Bei uns machen wir das eben so! Weil es schon immer so war!"

Beispiel Stadtteilschule Richard-Linde-Weg: Kooperation KiKu

An der Schule Richard-Linde-Weg begünstigen die Faktoren Ort und Format eine besonders erfolgreiche Kooperation. Nur zehn Minuten Fußweg sind es von der Schule zum Kulturzentrum Lola in Lohbrügge und dem assoziierten KiKu (Kinderkulturhaus). Diese sind für die Schule Richard-Linde-Weg Kooperationspartner im Bereich der kulturellen Bildung und gleichzeitig außerschulische Lernorte.

Im Kulturfahrplan ist diese Zusammenarbeit als eine langfristige, ausbaufähige Beziehung angelegt, die für beide Partner großen Nutzen birgt. Die Leute vom Kiku und von der Lola sowie die Kolleginnen und Kollegen vom Richard-Linde-Weg kennen sich. Man ist unter Nachbarn. Die IT-Schülerfirma ist aus der Schule ausgezogen und hat jetzt im Kiku ein Büro – man hilft sich gegenseitig. In den schönen Räumen des alten Backsteingebäudes finden künstlerische Projekte und Workshops statt. Einige Nachmittagskurse und Profile sind ganz in die Räume des Kikus ausgelagert. Externe Künstlerinnen und Künstler arbeiten gerne hier, denn die Atmosphäre ist eine andere als in der Schule, es ist ein kreativer Ort. Die Schülerinnen und Schüler erleben ihre Arbeit in den Kursen im Kiku und an der Lola als eine positive Ausnahme vom Regelunterricht.

Beide Seiten tauschen sich über Bedarfe aus und reagieren direkt: räumlicher Engpass im Theaterprofil? Kein Problem. Die Proben können im Saal der Lola stattfinden. Darstellerinnen und Darsteller für das Kiku-Stadtteilmusical gesucht? Die Schülerinnen und Schüler vom Richard-Linde-Weg sind zur Stelle.

Auf der großen Bühne der Lola wird das jährliche Kunstfest der Schule präsentiert: ein zweistündiges Programm mit den Highlights der im letzten Schuljahr erarbeiteten Präsentationen aus Tanz, Theater, Musik, Kunst und Medien. Die Veranstaltung wird im Monatsprogramm des Kulturzentrums als öffentliche Veranstaltung angekündigt. Der Abend ist gut besucht, die Vorstellung gefeiert. Eine Win-win-Situation für beide Kooperationspartner. Ort und Format befördern in dieser Kooperation gemeinsam das Selbstverständnis, den Selbstwert aller beteiligten Akteurinnen und Akteure. Der Kulturfahrplan hat hier den Grundstein zur Verstetigung gelegt.

Ritualisierung als Wissensspeicher

Aus den Kulturfahrplänen sollen sich Kulturprofile entwickeln – langfristige, personenunabhängige, starke Formate, die für sich selbst sprechen, denn die vier Jahre des Modellprogramms sind schnell vergangen. Nun ist die Frage: Was bleibt? Hängen die Formate tatsächlich noch an Personen fest, oder haben sie laufen gelernt?

Der Wissensforscher Michael Mehlmann spricht in einem Interview aus dem Jahr 2011 von der "Ritualisierung als Wissensspeicher". Er sagt: "Wissen [kann] auch über Ritualisierung gespeichert werden. Durch Ritualisierung, d. h. Verankerungen in der Unternehmenskultur wie beispielsweise: "So machen wir das", kann Wissen praktisch abgespeichert werden. Und Wissensspeicherung und Wissensmanagement sind entscheidend, wenn Organisationen am Markt bleiben und an der Gesellschaft teilhaben und nicht bei jedem Wechsel des Personals von vorne anfangen möchten." Er schlussfolgert daraus, dass Ritualisierung "einen adäquaten Gegenpool zu dem darstellen [kann], was dokumentiert wird. Ritualisierung zeigt sich zum Beispiel, wenn Personen in Organisationen sagen: "Das ist bei uns Standard", "Das gehört zu unserer Kultur", oder ,Das machen wir so"."1 Ritualisierung ist nicht gleich Wiederholung. Zwar sind Rituale strukturell streng auszuführen, doch sie verfolgen damit einen gemeinschafts- und sinnstiftenden Moment. Sie weisen über sich selbst hinaus. Ein Format zu wiederholen, um Ritualisierung zu schaffen, ist weit davon entfernt, etwas Bleibendes herzustellen.

Um Schulkultur zu gestalten, sind wir diesen Schritt gegangen: Wir haben Formate entwickelt, die den Schulalltag verändern. Jetzt müssen diese Formate mit Erlebnissen gefüllt werden, dann werden sie irgendwann Sinn- und Symbolcharakter haben. Bis dahin braucht es diese Kulturagenten, die Augen und Ohren des Königs, die systemfernen Hüter der Formate, die immer wieder Erlebnisse schaffen. Denn Erlebtes muss verarbeitet, berichtet, entdeckt werden, während Schule nur langsam auf solche Impulse reagiert.

Das DIN-Format "Sozialwesen der Zukunft" ist in den Augen der Bildungspolitik immer noch ein systemkompatibler Angestellter. Dabei müssen die Schülerinnen und Schüler von heute die Berufe von morgen erst erfinden. Jetzt schon gibt es den Existenz sichernden Monojob mit Erfüllungsgarantie nicht mal mehr für Akademiker. Und was kann den Lernenden von heute bei der Erfindung des Morgen besser von Nutzen sein als die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Erfindungsreichtum und der Glaube an den eigenen Weg? Mehlmann wagt in seinem Interview eine schöne Zukunftsvision jenseits der normativen Marktorientierung: "Vielleicht wird es eine komplementäre Entwicklung geben, wenn beispielsweise die Erfahrung oder das Erleben einen vergleichbaren Wert bekommt wie das Kapital."