Heinz Gniostko
Dynamische Veränderungen – Systemische Herausforderungen für Schulentwicklung
Heinz Gniostko

Dynamische Veränderungen – Systemische Herausforderungen für Schulentwicklung

Der Bildungsauftrag für Schulen ist in Deutschland in den Schulgesetzen der jeweiligen Bundesländer verankert. Schulen haben dabei die Aufgabe, "jeden jungen Menschen durch Erziehung und Ausbildung auf die Wahrnehmung von Verantwortung, Rechten und Pflichten in Staat und Gesellschaft sowie in der ihn umgebenden Gemeinschaft vorzubereiten".1 Damit gibt die Gesellschaft auch die Rahmenbedingungen vor, innerhalb derer der Auftrag von den Schulen zu erfüllen ist. Gerade in den letzten Jahren unterliegen diese Rahmenbedingungen einer dynamischen Veränderung. Demografischer Wandel, eine sich globalisierende Gesellschaft, die Wirkungen des "Pisa-Schocks" und nicht zuletzt die sich verändernden Anforderungen an den Bildungsauftrag durch die Eltern – wie beispielsweise durch den Wunsch nach Inklusion – stellen Schulen vor große Herausforderungen. Diese in systemischer Schulentwicklung aufzugreifen und zu verarbeiten, bietet Schulen allerdings aus meiner Sicht eine große Chance. Unter diesem Fokus wende ich mich an Schulleiterinnen und Schulleiter, Schulleitungsteams und schulische Steuergruppen in der Hoffnung, dass diese Chance zunehmend wahrgenommen und im Sinne der Schulentwicklerin Florence Buchmann (siehe Zitat am Ende des Texts) genutzt wird; denn: "Es geht!"

Demografischer Wandel als Herausforderung für Schulentwicklung

In seinem Einführungsvortrag zum Thema "Schulen in einer sich demografisch verändernden Gesellschaft" stellt Dr. Ernst Rösner, Dozent am Institut für Schulentwicklungsforschung an der Technischen Universität Dortmund, beim 5. Bildungspolitischen Symposium des Landes Nordrhein-Westfalen2 die sich verändernden Geburtenzahlen in NRW wie folgt dar (Abb. 1):

Abb. 1: Geburtenzahlen in Nordrhein-Westfalen (Angaben in Tsd.)
Quelle: Rösner, E., a. a. O., S. 124

Die Dimensionen der Veränderung zeigen sich in vier Epochen:

  • Starker Anstieg der Geburtenzahlen von 1955 bis 1964
  • Dramatischer Geburtenrückgang von 1964 bis 1978
  • Maßvoller Wiederanstieg der Geburtenzahlen bis 1990
  • Kontinuierlicher Geburtenrückgang in den Folgejahren bis heute

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass von Mitte der 1970er Jahre bis heute mehr als eine Halbierung der Schülerschaft in Nordrhein-Westfalen3 eingetreten ist. Dass dies Einfluss auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von Schule hat, war sicher vorauszusehen, wird aber erst in den letzten Jahren politisch wahrgenommen.

Die sich demografisch verändernde Gesellschaft führt für Schulen zunehmend zu einem teilweise erheblichen Veränderungsdruck.

Verändertes Elternwahlverhalten beim Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen als Herausforderung für Schulentwicklung

Während Grundschulen als Erste die Folgen der demografischen Entwicklung spüren, stellt sich die Situation bei den weiterführenden Schulen zeitversetzt und komplexer dar. Hier werden die Effekte der Demografie durch das Schulwahlverhalten modifiziert. Die folgende Darstellung (Abb. 2) der Schülerzahlveränderungen beim Übergang von der Grundschule in das 5. Schuljahr der weiterführenden Schulen4 drückt dies aus:

Abb. 2: Schülerzahlveränderung: Übergänge ins 5. Schuljahr (Nordrhein-Westfalen 2001/02-2012/13)
Quelle: Rösner, E., a. a. O., S. 128

Die Grafik zeigt deutlich, dass insgesamt über 20 Prozent weniger Schülerinnen und Schüler in die 5. Klassen übergehen, wofür die demografische Entwicklung verantwortlich ist. Die unterschiedliche quantitative Entwicklung der einzelnen Schulformen hat ihre Ursache im veränderten Wahlverhalten der Eltern. Mit fast 70 Prozent weniger Übergängen zeigt sich deutlich, dass die Hauptschule die am geringsten angewählte Schulform ist. Schulen mit der Option höherer Bildungsabschlüsse bis hin zum Abitur (Gymnasium, Gesamt-, Sekundar- und Gemeinschaftsschulen) werden von den Eltern bei ihrer Übergangsentscheidung deutlich bevorzugt. Diese Veränderung im Übergangswahlverhalten führt insgesamt zu einer Veränderung der Schülerschaft in den verschiedenen Schulformen. Mehr Schülerinnen und Schüler, die vorher die Hauptschule besucht haben, gehen in die Realschule über, und genauso wechseln mehr Schülerinnen und Schüler beim Übergang statt zur Realschule zum Gymnasium und natürlich vor allem auch zu den Schulen des längeren gemeinsamen Lernens (Gesamt-, Sekundar- und Gemeinschaftsschulen).

Dies wird Auswirkungen auf die Schulstruktur haben. In absehbarer Zeit wird die Hauptschule nicht mehr Teil dieser Struktur sein und auch die Anzahl der Realschulen abnehmen. Insgesamt gehe ich sogar davon aus, dass sich der Entwicklungstrend zu einem zweigliedrigen Schulsystem bewegen wird, dem Nebeneinander von achtjährigem Gymnasium und neunjährigen, integrierten Systemen wie vor allem die Gesamtschule. Bedingt durch den starken, aus meiner Sicht zum Teil irrationalen Drang zum Gymnasium, wird die Schülerschaft dort zunehmend heterogen werden. Im Rahmen einer Zweigliedrigkeit wird die Gesamtschule alle Schülerinnen und Schüler aufnehmen müssen, die nicht aufs Gymnasium gehen. Folge dieses Strukturtrends wird insgesamt sein:

Eine zunehmend heterogene Schülerschaft führt zu einem erheblichen Veränderungsdruck in allen Schulformen. In diesem Zusammenhang ist nur zu hoffen, dass Schulen diese Vielfalt als Chance wahrnehmen und Schulentwicklungsprozesse einleiten, sodass sie Schule nicht für Schülerinnen und Schüler machen, die sie sich wünschen, sondern für alle, die da sind und die sie willkommen heißen.

Gesellschaftliche Entwicklung als Herausforderung für Schulentwicklung

Unsere Gesellschaft unterliegt allerdings nicht nur quantitativen Veränderungen, sondern entwickelt sich auch inhaltlich dynamisch weiter. Diese Weiterentwicklung ist vielschichtig, stellt aber in einigen Aspekten besondere Herausforderungen für die Weiterentwicklung von Schulen dar. Ein Beispiel aus der Studie von Heimer, Henkel und Donges zur "Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit Schulkindern"5 macht dies an folgender Grafik (Abb. 3) deutlich.

Abb. 3: Anteil der erwerbstätigen Mütter (20 bis unter 55 Jahren) nach Alter des jüngsten Kindes (von … bis unter … Jahren) in Gesamtdeutschland
Quelle: Heimer, A.; Henkel, M.; Donges, D., a. a. O., S. 10

Die Daten der Grafik zeigen, dass der Anteil der nichterwerbstätigen Mütter in Abhängigkeit vom Alter des jüngsten Kindes mit zunehmendem Alter des Kindes progressiv abnimmt. So sind im Altersbereich der Kinder/Jugendlichen von 10 bis15 Jahren (also dem Zeitfenster der weiterführenden Schulen der Sekundarstufe I) nur noch weniger als ein Viertel der Mütter nicht erwerbstätig. Wenn diese gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik im Vergleich zu unseren Nachbarländern auch verzögert stattfindet, so folgt aus ihr für unsere Schulen eine zunehmende Anforderung zur Weiterentwicklung von Halbtags- zu Ganztagsschulen.

Die zunehmende Forderung nach Ganztagsschulen führt insgesamt zu einem erheblichen Veränderungsdruck für Schulen.

Diese gesellschaftliche Veränderung drückt sich auch in den Wünschen von Eltern, Schülerinnen und Schülern nach Ganztagsschulen aus. Der ideale Betreuungsmix für Ganztagsschulen beinhaltet aus Sicht der meisten Eltern eine an die Schule angebundene Nachmittagsbetreuung sowie Angebote zur Ferienbetreuung. Etwas weniger Zuspruch erhält eine Schule, an der auch nachmittags Unterricht stattfindet. Wichtig sind Eltern zudem sportliche, projektorientierte, kreative, soziale und musikalische Angebote (beispielsweise in Sportvereinen, Schul-AGs, Jugendgruppen und Musikschule).

Wird dem idealen Betreuungsmix gegenübergestellt, wie viele Eltern diese Angebote bereits für ihre Schulkinder nutzen, fällt die große Lücke zwischen Wunsch und tatsächlicher Inanspruchnahme auf. Sie zeigt sich – mit Ausnahme der Sportvereine – für nahezu alle Angebote, ist aber besonders ausgeprägt bei der Schule mit Nachmittagsbetreuung beziehungsweise Nachmittagsunterricht, den Ferienbetreuungsangeboten, der Notfall- sowie der verlässlichen Randzeit- und privaten Hausaufgabenbetreuung (Abb. 4). 6

Abb. 4: Wie sich Eltern den idealen Betreuungsmix vorstellen und welche Angebote sie tatsächlich nutzen,
Quelle: Allensbach IfD-Umfrage 6200, Dezember 2010

Auch bei den Kindern und Jugendlichen lässt sich eine hohe Akzeptanz für nachmittägliche Schulangebote feststellen. Die World-Vision-Kinderstudie zeigt beispielsweise, dass rund drei Viertel der Kinder, die ein Ganztagsschulangebot in Anspruch nehmen, damit zufrieden sind. Nur ein Viertel der Ganztagsschülerinnen und -schüler im Alter von sechs bis elf Jahren wäre lieber auf einer Halbtagsschule. Auch Kinder, die aktuell eine Halbtagsschule besuchen, zeigen ein hohes Interesse an Angeboten einer Ganztagsschule. Drei Viertel der Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren fänden es gut, wenn sie am Nachmittag an Sportangeboten teilnehmen könnten. Ein besonderes Interesse besteht auch an Kunst- und Theater-AGs sowie Projektunterricht (Abb. 5).7

Abb. 5: Akzeptanz von Nachmittagsangeboten bei Halbtagsschülerinnen und -schülern im Alter von sechs bis elf Jahren, Quelle: Hurrelmann, K; Andresen, S.: Kinder in Deutschland 2010. 2. World Vision Kinderstudie, Frankfurt/M. 2010, S. 171

Die festgestellte hohe Akzeptanz von Ganztagsangeboten deckt sich mit den Befunden aus einer aktuellen Umfrage von Infratest dimap im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Auch hier zeigte sich, dass knapp zwei Drittel der befragten Eltern von Schulkindern die Ganztagsschule als bevorzugtes Schulmodell ansehen. Offene Ganztagsschulen, in denen ein freiwilliges Nachmittagsprogramm angeboten wird, erhielten dabei eine noch höhere Zustimmung als verpflichtende Ganztagsangebote.

Die zunehmende Bevorzugung von Ganztagsschulen stellt für Schulen eine grundsätzlich veränderte Herausforderung an Schulentwicklung dar, da Schule dann nicht nur Lernwelt ist, sondern deutlich mehr auch zur Lebenswelt wird. Die bisherige Trennung von Schul- und Freizeitbereich verschmilzt. Damit meine ich allerdings nicht das additive Nebeneinander, sondern vielmehr die konzeptionelle Einheit im "Haus des Lernens"8. Konkret bedeutet dies für Schulen, dass Angebote aus Sport und Kultur, die bisher von Vereinen und Kultureinrichtungen im privaten Nachmittagsbereich außerhalb der Schule angeboten wurden, "in die Schule geholt werden" müssen. Im Sinne des eben genannten "Haus des Lernens" hat Schule die Aufgabe, diese Angebote in eine curriculare Synopse zu integrieren und Kooperation zum zentralen, schulischen Handlungsmuster zu entwickeln. Die damit verbundene kooperative, gegenseitige Öffnung bietet Chancen, gerade diese Ganztagsangebote vor allem unter dem Aspekt der Teilhabe für alle Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen.

Die gesellschaftliche Forderung nach Teilhabe stellt Schulen vor besondere kooperative Herausforderungen.

Die Ergebnisse der ersten internationalen Schulleistungsuntersuchungen der OECD in der BRD, die sogenannten PISA-Studien, lösten im Jahr 2000 einen regelrechten "Pisa-Schock" aus, was an die Debatte der 1960er Jahre um die von Georg Picht beschworene "Bildungskatastrophe"9 erinnerte. In einer Art "Reflex" gerieten seitdem die getesteten Fächer, die klassischen Hauptfächer, in den Fokus der Öffentlichkeit und damit der Bildungsplaner. Ein Paradigmenwechsel von der Input- zur Outputsteuerung wurde im deutschen Schulwesen eingeleitet. Diese Umsteuerung rückte die "testbaren" Fächer noch mehr in den Vordergrund; die sogenannten Nebenfächer, insbesondere der kulturspezifische Bildungskanon, wurden vernachlässigt.

Den Paradigmenwechsel hin zur Outputsteuerung sieht Tabea Raidt in ihrer Dissertation kritisch: "Mit ihm ist eine potentielle Überbetonung der Funktion von Bildung verbunden, die jedoch durch die jahrzehntelange Vernachlässigung dieses Aspekts erklärt werden kann. Durch die Betonung von Kompetenzen und Standards besteht die Gefahr der Vernachlässigung einer Debatte um Inhalte bzw. einen kultur- und regionalspezifischen Bildungskanon. Damit verbunden ist die Gefahr der Vernachlässigung solcher Schulfächer, bei denen ein direkter volkswirtschaftlicher oder individueller Nutzen nur schwer nachweisbar ist. Hierzu gehören alle Fächer, die nicht Bestandteil der (durch PISA definierten) Grundbildung sind. Deren schwächerer Stand offenbart sich schon dadurch, dass sie nicht durch die großen internationalen Vergleichsstudien überprüft werden."10

Für Schulen entsteht die Herausforderung bei der Schulentwicklung, im Sinne eines ganzheitlichen Bildungsbegriffs, ein neues Gleichgewicht des Bildungsangebotes im gesamten Fächerkanon herzustellen.

Diese Herausforderung wird aktuell noch verstärkt durch die gesellschaftliche Anforderung, in den Prozess der inklusiven Schulentwicklung einzusteigen. Dabei ist mit inklusiver Schulentwicklung mehr als die Einrichtung der einen oder anderen allgemeinbildenden Schwerpunktschule für behinderte und nicht behinderte Schülerinnen und Schüler gemeint. "Insgesamt habe ich den Eindruck, dass in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion der umfassende Anspruch der Menschenrechtskonventionen noch gar nicht angekommen ist und deswegen auch die völkerrechtlich verbindlichen Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung nicht präsent sind. Man gewöhnt sich aufgrund der Behindertenrechtskonvention an, bei Inklusion nur an die Kinder und Jugendlichen mit Behinderung zu denken. Sobald man sich den menschenrechtlichen Hintergrund klar macht, steht aber fest: Inklusion meint alle. Jedes Kind hat das Recht dazuzugehören, und zwar unabhängig von jeder Art der Verschiedenheit."11

"Nach Andrea Platte (2012) meint Inklusive Bildung Prozesse der Unterstützung einer und eines jeden einzelnen Lernenden – ohne Ausschluss und Ausnahme – und der daraus wachsenden Kraft für ein Ganzes, sei es eine Lern- oder Spielgruppe, eine Klasse, eine Kommune. Dazu gehören auch die gegenseitige Anerkennung aller Bildungsorte und die Kooperation unterschiedlicher Bereiche. Auf kommunaler Ebene zeigt sich die größte Wirkung, wenn Schule, Kultureinrichtungen und Jugendhilfe zusammenarbeiten."12 Dafür gebe es hervorragende Beispiele: In der Gemeinde Hürth etwa gingen "etliche inklusive Impulse von der Musikschule aus, die sich als kulturelle Bildungseinrichtung für alle versteht und eine Zusammenarbeit mit Schulen und vielen Vereinen vor Ort sowie der örtlichen Verwaltung anstrebe beziehungsweise bereits praktiziert".13

Die gesellschaftliche Herausforderung zum Einstig in einen inklusiven Schulentwicklungsprozess stellt aktuell eine Chance dar, den ganzheitlichen Bildungsbegriff in den Mittelpunkt zu stellen und als Ausgangspunkt zu verstehen.

Zusammenfassend lässt sich konstatieren: Die gesellschaftlichen Vorgaben für Schule unterlagen und unterliegen erheblichen Veränderungen. Die daraus resultierenden Vorgaben sind substanziell und vielfältig. Sie stellen für Schulen eine große Herausforderung dar. Diese singulär aufzugreifen und in vielfältigen, vereinzelten Schulentwicklungsprozessen zu verarbeiten, kann leicht zu einer Verzettelung führen. Die Folge davon wäre dann sicher Überlastung. Versteht Schule diese Herausforderungen als Chance und greift sie als lernende Organisation14 in einem systemischem Schulentwicklungsprozess auf, so wird in dessen Mittelpunkt letztlich die gemeinsam gefundene Lernkultur stehen.

Hans-Günter Rolff veranschaulicht dies in der "Architektur" der lernenden Organisation im sogenannten SENGE-Dreieck mit den Eckpunkten: Leitgedanken, Innovation der Infrastruktur sowie Methoden und Werkzeuge (Abb. 6). Diese überträgt er auch auf Schulen. "Die Leitgedanken werden in Schulentwicklungsprozessen Schulprogramm genannt; zu den Innovationen der Infrastruktur gehören neue Kooperationsstrukturen und Prozesssteuerung und der Werkzeugkasten der Methoden und Techniken der Schulentwicklung ist reichhaltig gefüllt. Die Leitgedanken der lernenden Schule sind Ausdruck der Visionen bzw. der Zielklärung eines Kollegiums. Wenn sie Bestandteile eines Schulprogramms werden, stellen sie eine Art Zielvereinbarung dar, bei der Eltern und Schülerinnen und Schüler eine Rolle spielen. Die Leitgedanken dienen auch als Folie für die Prioritätensetzung hinsichtlich der Entwicklungsschwerpunkte der nächsten Jahre."15

Abb. 6: SENGE-Dreieck – Architektur der lernenden Organisation
Quelle: Rolff, H. G., a. a. O., S. 41

Rolff ergänzt in obiger Abbildung das SENGE-Dreieck in der Mitte durch den zentralen Bereich der Lernkultur. "Die Lernkultur einer lernenden Organisation ist im Idealfall gekennzeichnet durch eine unterstützende Atmosphäre, die Fehler verzeiht und auch verrückte Ideen gutheißt, wenn sie nur anregend sind, ferner durch ein akzeptiertes Netz von normativen Spielregeln, an denen sich Verhalten orientiert, sowie durch ein Ambiente wechselseitigen Austausches, gegenseitiger Beratung und selbstverständlichen Feedbacks. Zur Lernkultur einer lernenden Schule gehört auch ein Stock gemeinsamen Wissens, welcher Umgang mit komplexen Situationen erlaubt ist und wie dieser in gemeinsamer Schulentwicklungsarbeit entsteht."16

Wenn auf diese Weise systemische Schulentwicklung die Lernkultur in den Mittelpunkt stellt, werden die Lernfortschritte von Schülerinnen und Schülern Bezugspunkt. Dies veranschaulicht Rolff in seinem Trias-Modell Schulentwicklung (Abb. 7):17

Abb. 7: Drei-Wege-Modell der Schulentwicklung nach Hans-Günter Rolff
Quelle: Rolff, H. G., a. a. O., S. 30.

In seinem Modell stehen ausgehend vom Lernfortschritt der Schülerinnen und Schüler Personal-, Organisations- und Unterrichtsentwicklung in gegenseitiger Wechselwirkung. Unabhängig davon, an welcher Stelle Schulentwicklung einsetzt, führt sie notwendigerweise zu den beiden anderen Entwicklungssträngen. Dieser Gesamtprozess ist bei einer sich öffnenden, lernenden Schule wie selbstverständlich in das Umfeld eingebettet. Verzahnt wird das Umfeld von Schule in ihrer Entwicklung durch Kooperationen mit externen Partnern. Rolff macht in seinem Modell in diesem Zusammenhang deutlich, dass sowohl die Kooperationspartner in die Schulentwicklung und damit in die Lernkultur wirken wie umgekehrt Schule auf die Partner außerhalb Wirkung hat.

Für Rolff ist die Frage, ob die "Rede von der lernenden Organisation eine bloße Metapher ist und ob Schulen überhaupt lernen können"18, belanglos. Vielmehr ist für ihn wichtig, dass Organisationslernen ohne Bezug auf das individuelle Lernen der einzelnen Organisationsmitglieder nicht konzipiert werden kann: Ohne lernende Personen vermag eine Organisation nicht zu lernen. Interessant ist hier, ob Schulen als Organisationen zum Lernen fähig sind? Sie sind vermutlich deswegen behäbiger als andere Organisationen, da sie ihren ursprünglichen Anstaltscharakter (nachgeordnete Dienststelle, bürokratische Arbeitsorganisation …) immer noch nicht vollständig abgelegt haben und Lehrpersonen vorwiegend als Einzelarbeiter sozialisiert wurden. Zudem scheint es im Klassenzimmer eher auf die einzelne Person anzukommen und weniger auf die Organisation.19

Gerade deshalb scheint mir ein Aspekt bei der Betrachtung systemischer Schulentwicklungsprozesse im Sinne einer lernenden Organisation von besonderer Bedeutung zu sein: die Rolle der Schulleitung. Zu diesem Aspekt von Schulentwicklung gibt die aktuelle Studie von John Hattie interessante Hinweise. Im Rahmen seiner Metaanalyse "Lernen sichtbar machen" hat Hattie untersucht, welche schulischen Merkmale zum erfolgreichen Lernen beitragen. Für das Handeln der Schulleitung ergibt sich nach Hattie dabei eine besonders hohe Effektstärke. Zu den besonders effektiven Korrelationen gehört:

  • inwieweit sich die Schulleitung derjenigen Ziele bewusst ist, die angegangen werden müssen.
  • die Art, in der die Schulleitung sicherstellt, dass Lehrpersonen in Bezug auf die aktuelle Theorie und Praxis intellektuell angeregt werden.
  • inwieweit die Schulleitung bereit ist, aktiv den Status quo infrage zu stellen
  • und vor allem das Ausmaß, in dem sich die Schulleitung mit den Idealen und der Überzeugung bezüglich schulischer Bildung identifiziert und sie diese aktiv 20

Schulen können die veränderten, gesellschaftlichen Forderungen als Chance nutzen, sich als lernende Organisation in einem umfassenden Schulentwicklungsprozess mit ihrer Lernkultur auseinanderzusetzen. Eine wesentliche Gelingensbedingung dafür ist die aktive Einbindung der Schulleitung in diesen Prozess. Er macht eine hohe Identifikation der Schulleitung mit dieser sich dann verändernden Lernkultur notwendig.

Abschließen möchte ich meine Ausführungen mit einem Zitat von Florence Buchmann, das ich wie folgt überschreibe: "Es geht!"

"… jeder und jede ist mit der Institution "Schule" im Verlauf seiner/ihrer Biografie in empfindsame Berührung gekommen und trägt davon ein Bild in sich. Die Schule ist eine Institution und dass sie es ist, macht sie so schwer veränderbar. Das Bild, das der Begriff Schule in einem erweckt, wird unter den individuellen Vorstellungen wohl ein vergleichbares Gefüge von Elementen und Beziehungen aufweisen: Ein Gebäude mit einer großen Eingangstür und von dort aus Gänge, die zu Einzeltüren von Einzelzimmern führen. Darin sitzende Kinder, vor ihnen Tische und ganz vorne: die Lehrerin, der Lehrer. Dahinter eine ungeputzte Tafel, ein Overhead­Projektor in der Ecke und neuerdings vielleicht an der Decke das blaue Auge eines Beamers. Jede Stunde erheben sich die Schülerinnen und Schüler von ihren Stühlen, packen ihre Schulsachen, verlassen den Raum und dringen in einen neuen ein. Raum und Zeit in der Schule scheinen unverrückbare Dimensionen zu sein: Unterricht ist die 45 Minuten andauernde Anwesenheit von Lernenden in einem Klassenzimmer vor einer unterrichtenden Person, die die Sitzordnung auf den Gong genau auflöst, um sie zehn (fünf) Minuten später erneut einzufordern. Der hochritualisierte Schulalltag lässt seine Akteure [Lehrerinnen und Lehrer, Anm. HG] allzu oft vergessen, dass sie es sind, ob jung oder alt, die durch ihr tagtägliches Handeln diese Strukturen heute erneut bestätigen, um sie morgen von neuem erwarten zu dürfen. In diesem Bild erscheint die Schule als eine über Jahrzehnte stabilisierte Organisation, deren Wirklichkeit sich in Zeitgefäßen, in Klassenzimmern, in Rollen, als Lehrende, als Lernende, in Lehrplänen, Zeugnissen und Abschlüssen vergegenständlicht hat. Die Schule als legitimierter Ort des Lernens hat sich im Verlauf ihrer Geschichte zu einer Wirklichkeitsordnung objektiviert, und in dieser Objektivation nimmt sie sich und insbesondere die Gesellschaft heute wahr. Die Schule ist dennoch kein statisches und ,objektives" Gebilde, dessen Geschehen von außen beobachtet, vermessen und bewertet werden könnte, sondern sie ist im konstruktivistischen Organisationsverständnis als soziale Konstruktion zu verstehen und als solche veränderbar."21

In diesem Sinne wäre es mit Einstein "die reinste Form des Wahnsinns, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert"! Schulen würden damit die Chance vergeben, die veränderten gesellschaftlichen Vorgaben für Schulen als Herausforderung und Motor für eine systemische Entwicklung zu nutzen.

1 Bovet, Gislinde; Huwendiek, Volker (Hg.): Leitfaden Schulpraxis, Berlin 2014, S. 536.

2 Vgl. Rösner, Ernst: "Schulen in einer sich demografisch verändernden Gesellschaft". Einführungsvortrag beim 5. Bildungspolitischen Symposium des Landes NRW am 19. Februar 2011 in Essen, in: Schulverwaltung. Nordrhein-Westfalen 22 (2011), S. 124–127.

3 Die Darstellung der Geburtenzahlen in NRW kann hier beispielhaft gesehen werden, weil sie in allen anderen Bundesländern einer vergleichbaren Systematik folgt.

4 Vgl. ebd., S. 128–130.

5 Heimer, Andreas; Henkel, Melanie; Donges, Dominik: Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit Schulkindern, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2011, S. 10.

6 Vgl. ebd., S. 19.

7 Vgl. ebd., S. 21.

8 Klippert, Heinz: Eigenverantwortliches Arbeiten und Lernen, Weinheim und Basel 2001, S. 40.

9 Picht, Georg: Die deutsche Bildungskatastrophe, Analyse und Dokumentation, Freiburg im Breisgau 1964.

10 Raidt, Tabea: Bildungsreformen nach PISA – Paradigmenwechsel und Wertewandel, Düsseldorf 2010, S. 247.

11 Schumann, Brigitte: "Mehr als Regelschule plus Behindertenpädagogik". Interview mit Dr. Reinald Eichholz, 21.02.2012, online: http://bildungsklick.de/a/82558/mehr-als-regelschule-plusbehindertenpaedagogik/ [5.9.2014].

12 Brokamp, Barbara: "Ein Kommunaler Index für Inklusion – oder: Wie können sinnvoll kommunale Entwicklungsprozesse unterstützt werden?", in: Flieger, Petra; Schönwiese, Volker (Hg.): Menschenrechte – Integration – Inklusion, Bad Heilbrunn 2011.

13 Ebd.

14 Lernende Organisation bezeichnet nach Reinhardt und Schweiker eine anpassungsfähige, auf äußere und innere Reize reagierende Organisation. Sie unterscheiden zwischen lernfähigen und lernenden Organisationen. Diese Unterscheidung resultiert daraus, dass Lernfähigkeit nicht zwangsläufig Innovationen als Resultat hat. Denkbar ist auch das Lernen von beispielsweise Abschottung, Rückzug, Resignation oder Widerstand. Der Grad der Lernfähigkeit einer Organisation wird als Organisationsintelligenz bezeichnet. Vgl. Reinhardt, Rüdiger; Schweiker, Ulrich: "Lernfähige Organisationen: Systeme ohne Grenzen? Theoretische Rahmenbedingungen und praktische Konsequenzen", in: Geißler, Harald (Hg.): Organisationslernen und Weiterbildung: Die strategische Antwort auf die Herausforderung der Zukunft, Neuwied 1995.

15 Vgl. Rolff, Hans-Günter: Studien zu einer Theorie der Schulentwicklung, Weinheim, Basel 2007, S. 41–42.

16 Ebd. vgl. S. 42.

17 Ebd., S. 30.

18 Ebd., S. 42.

19 Ebd. vgl. S. 43.

20 Vgl. Hattie, John: Lernen sichtbar machen, Baltmannsweiler 2014, S. 110.

21 Buchmann, Florence: Schulentwicklung verstehen. Die soziale Konstruktion des Wandels, Internationale Hochschulschriften, Bd. 526, Münster 2009, S. 32ff. Siehe auch Gniostko, Heinz: "Kulturelle Bildung und Kulturkooperationen als Motor für Schulentwicklung", in: Kooperationsprozessor – Gemeinsam etwas bewegen. Onlinepublikation der Halbzeittagung des Modellprogramms "Kulturagenten für kreative Schulen", Berlin 2014.