Katja Bernhardt
Eingegrenzt & Ausgegrenzt?
Katja Bernhardt

Eingegrenzt & Ausgegrenzt?

Grenzerfahrungen in der DDR … und heute – Erinnerungskultur aktiv (er-)leben

Kurzbeschreibung

Die Schülerinnen und Schüler begaben sich auf die Spuren der deutschen Teilung und betrachteten das Thema „Grenze“ von allen Seiten: Ausgehend von dessen historischer Bedeutung im Zweiten Weltkrieg, sollte ein Bezug zu aktuellen Themen der Jugendlichen geschaffen und somit zu einer zeitgemäßen Wortbedeutung gefunden werden. Die Auseinandersetzung wurde mit verschiedenen künstlerischen Techniken und Materialien (Fotografie, Graffiti, Acryl, Edding u.ä.) kreativ und bildlich umgesetzt.

Bundesland

Thüringen

Ort

Hirschberg

Beteiligte Klassenstufen

9 und 10

Thema

DDR/BRD, Grenze

Sparten

Bildende Kunst

Format

Projekttage

Beteiligte Schülerinnen und Schüler

49

Projektdauer

2 Tage

Durchführungsorte

In der Schule
der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße Erfurt und der Alten Schule (Gemeinde)

Beteiligte Lehrkräfte

Jährlich ca. 25
im Theater-Spielprojekt je 7
5

Erinnerungskultur im geschichtlichen deutsch-deutschen Kontext zu betreiben, ist für viele Jugendliche oft ein trockenes Thema. Geboren acht bis zehn Jahre nach der Wende, hat die heutige Schülergeneration kaum noch Bezug zu den damaligen Ereignissen.

Die praktische und selbsterfahrene Auseinandersetzung mit diesem Unterrichtsthema birgt die Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler für die deutsch-deutsche Geschichte zu interessieren und sie zu einem Teil ihrer eigenen werden zu lassen. An der Regelschule im thüringischen Hirschberg gibt es zudem noch ein weiteres Motiv, warum die deutsch-deutsche Geschichte in den Fokus gerückt werden sollte. Die Schule befindet sich auf historisch bedeutsamem Gebiet. Direkt an der ehemaligen innerdeutschen Grenze gelegen und einen Steinwurf vom Bundesland Bayern entfernt, hat der Ort die Auswirkungen des Lebens an und mit der Grenze hautnah zu spüren bekommen. Die positiven wie negativen Veränderungen im Stadtbild vor und nach der Öffnung der Grenze spielen heute wie damals eine erhebliche Rolle. Um die Erinnerung an diese, für die Menschen in und um Hirschberg geschichtlich bedeutsamen Erlebnisse auch bei den Schülerinnen und Schülern lebendig zu halten, haben wir uns entschieden, das Thema in der Schule mittels kreativ-künstlerischer Projekte zu bearbeiten.

Das im Oktober 2012 durchgeführte Projekt "Eingegrenzt & Ausgegrenzt – Grenzerfahrungen in der DDR … und heute" soll hier exemplarisch beschrieben werden. Die am Projekt beteiligten Schülerinnen und Schüler der 9. und 10. Klasse kennen die DDR und die damit einhergehenden "Grenzprobleme" nur aus dem Geschichtsunterricht der Schule beziehungsweise aus den Erzählungen der Eltern und Großeltern. Dass Grenzprobleme auch durch den Wegfall der Mauer noch nicht beseitigt sind, erfahren sie nur mittelbar in ihrem alltäglichen Leben: beispielsweise, wenn ein Kind aus dem bayerischem Nachbardorf erst nach aufwendigem Bürokratismus in die näherliegende thüringische Schule gehen darf oder wenn ein Fußballspieler mit einem thüringischen Fußballvereinspass keine Spiele im benachbarten Bayern bestreiten darf.

Um den Bezug zur Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler herzustellen, sollte das Thema "Grenze" bewusst aus dem historischen Kontext herausgelöst und für persönliche Fragen geöffnet werden: Wo liegen meine eigenen Grenzen? Gibt es versteckte Grenzen? Hat jemand schon Grenzerfahrungen gemacht? Wo fühle ich mich ein- oder ausgegrenzt? Die Jugendlichen begaben sich dabei auf die Spuren der deutschen Teilung und betrachteten das Thema "Grenze" von allen Seiten. Ausgehend von dessen historischer Bedeutung im Zweiten Weltkrieg wurde ein Bezug zu aktuellen Themen der Jugendlichen geschaffen und somit eine zeitgemäße Wortbedeutung angeregt. Diese Auseinandersetzung wurde mit verschiedenen künstlerischen Techniken (Collage, Assemblage) und Materialien kreativ und bildlich umgesetzt. Als Ausstellungsort diente die Heinrich-Knoch-Brücke, welche das thüringische Hirschberg mit dem bayrischen Untertiefengrün verbindet und kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs gesprengt wurde. Infolge der Errichtung zweier deutscher Staaten zog man eine Mauer auf der Flussseite Hirschbergs. Nach der Wiedervereinigung wurde die Brücke wieder für den Personen- und Kraftverkehr nutzbar gemacht; sie verbindet nun seit 1997 beide Bundesländer.

Die ersten Schritte

In das Projekt wurde das ortsansässige Museum für Gerberei und Stadtgeschichte involviert, mit dem die Schule bereits vor dem Kulturagentenprogramm eine regelmäßige Zusammenarbeit unterhielt. Ihr Interesse bestand darin, die Zusammenarbeit mit dem Museum zu intensivieren und künstlerische Fachkräfte ins Spiel zu bringen. Das Hirschberger Museum wird von einer Fachkraft der Stadtverwaltung, Ulrike Göhrig, verwaltet und hat keine eigenen Museumspädagoginnen und -pädagogen. Um die Qualität unseres Projekts zu sichern, wurde beschlossen, mit der Mobilen Museumspädagogik der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) der Jugendkunstschulen Thüringen zusammenzuarbeiten. Constanze Fuckel als Mobile Museumspädagogin der LAG Jugendkunstschulen unterstützt Museen vorwiegend im ländlichen Raum bei der Konzipierung und Umsetzung von Projekten. Die Konzepte sollen Kindern und Jugendlichen einen kreativen Zugang zum Museum verschaffen und sind thematisch in gesellschaftlich-relevanten Bereichen angesiedelt. Die LAG unterstützt damit Museen, die nicht auf einen Pool von Museumspädagogen zurückgreifen können.

Für die Projektplanung wurde ein Konzeptionstreffen im Museum einberufen, an dem die genannten Partner sowie die Kulturbeauftragte und Geschichtslehrerin Ute Saupe teilnahmen. Aufgrund des eigenen finanziellen und personaltechnischen Engpasses konnte das Museum durch die Zusammenarbeit mit der Schule auf Ressourcen wie künstlerische Expertise und finanzielle Mittel des Kulturagentenprogramms zurückgreifen. Die Schule hingegen intensivierte mittels des Projekts die gute Zusammenarbeit mit dem Museum und erhielt die Möglichkeit, ein Geschichtsthema unter professioneller künstlerischer Anleitung mit den Schülerinnen und Schülern zu bearbeiten. Zudem konnte das Bewusstsein der Jugendlichen für den eigenen Ort und seine Historie ins Blickfeld gerückt werden.

Der künstlerische Weg zur Grenze

An dem Projekt waren 49 Schülerinnen und Schüler der 9. und 10. Klassenstufe beteiligt. Das Projekt fand in den Räumen des Museums für Gerberei und Stadtgeschichte Hirschberg sowie in den Räumlichkeiten der Feuerwehr statt. Die Schülerschaft konnte sich zwischen vier Workshops entscheiden, wobei zwei Workshops von jeweils zwei Lehrerinnen, ein Workshop von Constanze Fuckel (Mobile Museumspädagogik) und ein Workshop von der Museumsleiterin Ulrike Göhrig durchgeführt wurden. Die externen Workshopleiterinnen und -leiter wurden jeweils durch eine Lehrkraft während der Durchführung unterstützt. Im Folgenden werden die Workshops kurz skizziert.

Workshop 1 "Grenzpost" (Leitung: Museum)

Die Schülerinnen und Schüler recherchierten und sammelten Geschichten und Erlebnisse an der Hirschberger Grenze. Als Material dienten dabei das Archiv sowie die Ausstellung des Museums. Jede Schülergruppe gestaltete ein Buch im DIN-A4-Format, in welchem die gesammelten Informationen dargestellt wurden.

Workshop 2 "Vermischtes mit klarer Aussage" (Leitung: Mobile Museumspädagogik)

Die Schülerinnen und Schüler kreierten eine Collage zum Thema im DIN-A3- und DIN-A4-Format. Sie setzten sich mit ihren eigenen und den historischen Grenzen auseinander und brachten diese mittels Acrylfarben, Zeitungsnotizen, Eddings, Spraydosen und Ähnlichem zu Papier.

Workshop 3 "Grenzüberschreitungen" (Leitung: Schule)

Dieser Workshop bestand aus zwei Aufgaben. Zuerst bekamen die Schülerinnen und Schüler historische Fotos von Hirschberg in die Hand und waren dann aufgefordert, die Orte auf den Fotos aufzusuchen und ihre heutige Ansicht zu fotografieren. Dadurch wurde die historische Wandlung Hirschbergs erkennbar, wie beispielsweise die Öffnung der Grenze oder der Abriss der bedeutenden Lederfabrik. Die zweite Aufgabe bestand darin, sich zu eigenen Grenzüberschreitungen (Tabus, Verboten, Wünschen und so weiter – damals und heute) zu bekennen und diese fotografisch darzustellen. Die Schülerinnen und Schüler wählten dabei verschiedene Themenbereiche wie Familie, Alltag, Schule und Jugend aus.

Workshop 4 "Lyrische Grenzfälle" (Leitung: Schule)

Die Schülerinnen und Schüler entwarfen Gedichte und gestalteten diese mittels Acryl, Fineliner, Eddings und ähnlichem typografisch im DIN-A2-Format. Zusätzlich hielt die "Dokumentationsgruppe" das Projekt fotografisch und textlich fest.

Für die Bearbeitung der Workshops wurden anderthalb Tage angesetzt. Gegen Ende des zweiten Projekttages wurde gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern über das Ausstellungsformat an der Heinrich-Knoch-Brücke diskutiert, und die entstandenen Ergebnisse wurden an der Brücke angebracht.

Am 3. Oktober 2012 wurde die Ausstellung dann feierlich im Rahmen der jährlich stattfindenden "Grenzlandwanderung" des thüringischen und bayerischen regionalen Wandervereins eröffnet. Die selbstgeschriebene und vorgetragene Eröffnungsrede der Schülerinnen und Schüler erläuterte den etwa 350 anwesenden Besucherinnen und Besuchern den Werdegang der Ausstellung.

Die (Nach-)Wirkungen

Es war das zweite Mal, dass Museum und Schule die Brücke als Ausstellungsort nutzten. Durch die Verlagerung in den öffentlichen Raum blieb die Ausstellung nicht nur – wie so oft bei schulischen Projekten – einem kleinen Kreis vorbehalten, sondern erreichte Menschen weit über die schulinternen Kreise hinaus: Passanten auf dem Weg zur Arbeit, Spaziergänger, Rad- und Wandertouristen und viele andere. Es war zu beobachten, dass die meisten der zufälligen Ausstellungsbesucherinnen und -besucher nicht achtlos an den Objekten vorbeigingen, sondern die Ausstellungsstücke neugierig näher betrachteten. Obwohl die museale Bespielung des öffentlichen Raums gewinnbringend und öffentlichkeitswirksam sein kann, birgt sie auch Risiken. Indem die Schule den geschützten Schulraum verlässt, stellt sie sich der Öffentlichkeit: Wie wird die Bevölkerung Hirschbergs auf die Kunst der Schülerinnen und Schüler reagieren? Nimmt sie die Brückenausstellung als Bereicherung oder als Störfaktor wahr?

Projekte sowie Kunst im öffentlichen Raum lösen oft Kontroversen aus, was grundsätzlich positiv zu bewerten ist, denn sie zeigen auf, dass Menschen nicht unbeteiligt an künstlerischen Angeboten vorübergehen, sondern sich mit ihnen auseinandersetzen und auf sie reagieren. Das Kunstobjekt wird somit von einem reinen Ausstellungsstück zu einem belebten und inhaltsreichen Gegenstand. Was kann sich Kunst mehr als eine rege Debatte wünschen? In Hirschberg nahmen die Bürgerinnen und Bürger sowie die örtliche Presse die Ausstellung auf der Brücke sehr wohlwollend und als anregend auf. Niemand sah darin eine Provokation, sondern allgemein wurde das Ziel, die Sicht der Schülerinnen und Schüler darzustellen, erkannt und wertgeschätzt. Dennoch musste sich auch in Hirschberg das Projekt mit den üblichen negativen Begleiterscheinungen des öffentlichen Raumes befassen, so beispielsweise mit Vandalismus: Zwei bis drei der mehr als 20 Objekte fielen der blinden Zerstörungswut zum Opfer. Anderen Objekten machte eher der natürliche Verfall durch Wind und Regen zu schaffen. Nach fast dreiwöchiger Ausstellungszeit auf der Heinrich-Knoch-Brücke wurden die verbliebenen Objekte ins angrenzende Museum für Gerberei und Stadtgeschichte gebracht.

Stolpersteinchen

Für das Projekt haben wir bewusst den historische Begriff "Grenze" aufgebrochen und durch eine persönliche Komponente (Wo oder was sind meine Grenzen?) erweitert, um den Bezug zur Alltagswelt der Jugendlichen herzustellen. Ungeahnterweise war der Sprung von der historischen Dimension des Begriffs zur eigenen Erfahrung für die Gruppe schwierig. Einige flüchteten sich in die Behauptung, dass sie keine Grenzen zu überwinden hätten. Die Frage nach den eigenen Grenzen wurde daher durch die Frage erweitert: Was war in der DDR verboten, was heute erlaubt ist (oder umgekehrt)? Was war den Jugendlichen in eurem Alter in der DDR-Zeit erlaubt und was nicht? Über diese und ähnliche konkrete Fragestelllungen kamen die Schülerinnen und Schüler letzendlich ins Gespräch, entdeckten teilweise sogar gemeinsame Grenzen und stellten fest, dass es durchaus alltägliche und auch persönliche Barrieren in ihrem Leben gibt.

Ein weiteres Hindernis war die geplante öffentliche Ausstellung. Einige Schülerinnen und Schüler scheuten sich, ihre Gedanken preiszugeben und sich dadurch möglicherweise vor ihren Mitschülerinnen und Mitschülern lächerlich zu machen. Die Anonymisierung einiger Kunstobjekte bewegte dann aber auch diese Schülerinnen und Schüler, an der Ausstellung teilzunehmen. Im Fotoworkshop ("Grenzüberschreitungen") war diese Anonymisierung hingegen nur teilweise möglich: Viele fotografierten sich und ihre Gruppe zu einem bestimmten Thema, sodass die Schülerinnen und Schüler auf den Fotos deutlich erkennbar waren. Eine Alternative wäre sicherlich gewesen, ihnen eine gegenständliche bzw. abstrakte Bearbeitung mittels Fotografie aufzutragen.

Ausblick

Eine Zusammenarbeit mit dem Museum wird es auch in den nächsten Jahren immer wieder geben. Nicht nur die Schule profitiert vom Know-how und den Räumlichkeiten des Museums, auch das Museum zieht seinen Nutzen aus dieser Kooperation. Projekte können mit einem personellen Zugewinn langfristiger und qualitativer geplant und durchgeführt werden. Einzig mangelt es an einer Museumspädagogin/einem Museumspädagogen, sodass eine künstlerische Begleitung leider fehlt. Das Projekt war Ausgangspunkt für weitere Workshops zum Thema "Grenze", das in den letzten zwei Schuljahren in einem Fotografieworkshop mit der Erfurter "Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße" umgesetzt werden konnte. Darüber hinaus entstanden ein Video-Walk mit dem Berliner Künstlerkollektiv "a7.außeneinsatz" in Zusammenarbeit mit dem deutsch-deutschen Museum Mödlareuth sowie ein Dokumentarfilm mit der Pausaer "MR Filmproduktion" in Zusammenarbeit mit dem Hirschberger Museum für Gerberei und Stadtgeschichte.